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Der grüne Herbert
"Also, damit ich das richtig verstehe, du bist da also rein und hast..."
"Ja, ich bin da rein."
"Und dann hast du ihn angemalt."
"Genau."
"Aber warum grün?"
"Ich fand einfach, es war an der Zeit, dass sich hier etwas tut. Die endlose Monotonie dieser ländlichen Kleinstadtidylle raubt einem anständig denkenden Menschen doch den letzten Nerv. Ich meine, wenn du Lust hast, bis an dein Lebensende hier in deiner apathischen Grundhaltung dahinzuvegetieren, jeden Tag mit den gleichen unbefriedigenden Tätigkeiten auszufüllen und dein ganzes Leben damit zu verbringen, auf den morgigen Tag zu warten, bis dass irgendwann der Schöpfer dein Erlöser sei, dann tu das bitte. Ich hingegen erwarte mehr vom Leben, ich möchte ein Zeichen setzen, die Menschen in ihrer miefigen Spießigkeit wachrütteln und ihnen ins Gesicht brüllen, dass es da mehr gibt, als die endlose Tretmühle des Alltags, mit dem ihr euch scheinbar abgefunden habt."
"Schon klar. Aber warum grün?"
...
Etwas war anders als sonst.
Schon bevor er an diesem Dienstag zum ersten Mal die Augen aufschlug, wusste Knut Gröbersen, dass da etwas nicht stimmte. Es lag einfach in der Luft, dass irgendetwas in der Realität des Bauern kürzlich ganz gewaltig durcheinander gebracht worden war.
Vielleicht war es die Art, in der sich das Schnarchen seiner geliebten Gattin an diesem Morgen in Rhythmik an Arithmetik dem traditionellen Gesang nepalesischer Teppichknüpfer anglich, vielleicht war es der beißende Geruch verwesender Kartoffelschalen, der vom Komposthaufen durch das offene Schlafzimmerfenster drang und sich mit jener Penetranz in die Nasenschleimhäute fraß, wie es nur verwesende Kartoffelschalen zustande bringen können. Vielleicht waren es auch die Nachwirkungen der gestrigen Apfelkorntaufe seines neuen Zuchtbullen Herbert - ein uralter Brauch, bei dem standesgemäß unter den benachbarten Landwirten solange angestoßen wird, bis der Dorfälteste das Namensschild für die Stallbox mit für alle Beteiligten zufriedenstellender Lesbarkeit beschriftet hat. Eine Zeremonie, die unter Umständen schon mal eine Weile dauern kann. Vor allem wenn, wie in diesem Fall, der Dorfälteste vierundachtzig Jahre alt ist und bei jeder Runde herzhaft mithält. Vielleicht lag der Grund für Knut Gröbersens ungutes Gefühl auch in einer ganz anderen Ursache, aber auf jeden Fall wusste er, dass da irgendetwas nicht stimmte.
"Hertha, wach auf", zischte er und verpasste seiner geliebten Gattin einen zärtlichen Hieb auf die Schulter. "Irgendwat is hier nich am Stimmen."
"Brennt die Scheune?" Herthas Stimme drang nur gedämpft durch die Federkissen zu ihm herauf.
"Nee. Oder? Wadde, ich guck ma eben." Der Landwirt setzte sich mühsam auf, wobei er der alten Matratze ein grimmiges Quietschen entlockte, und sah aus dem Fenster. "Nee, die Scheune is nich am Brennen. Jedenfalls nich außen."
"Dann is auch alles gut. Schlaf weiter, bis sechs is noch was hin."
"Aber irgendwat stimmt hier nich. Ich merk dat doch."
"Jucken deine Füße wieder?"
"Nee, dat is ja nur, wenn Gewitter am Kommen is. Schiet wat, gleich komm ich da ma runter und guck mir dat an, das glaub man."
"Ja, ich glaubs dir. Lässt du mich jetzt noch was schlafen?"
"Du bistn typischen Weibsbild, Hertha. Hier is dat alles wie blöde den Bach am Runtergehn und du schläfst." Der Landwirt schwang die Beine aus dem Bett, schlüpfte in seine Hausschuhe und schlurfte zu seinem mit weinroten Blumen bestickten Morgenmantel. Vorsichtig, um der lauernden Bedrohung ja keine Angriffsmöglichkeit zu bieten, schlich er sich aus dem Schlafzimmer und machte sich auf die Suche nach der Ursache seiner Vorahnung.
Wenig später kam er zurück. Am ganzen Körper zitternd.
"Hertha, die ham unsern Herbert angemalt. Die Vandalen sind da!"
...
Die Nachricht verbreitete sich wie ein sprichwörtliches Lauffeuer in Bredenbüttel und verdrängte die Geschichte vom großen Lauffeuer 1998 in der Scheune vom alten Hagenkötter mit Leichtigkeit vom ersten Platz der wichtigsten Kneipengeschichten des Ortes. Spätestens nach der großen Titelstory im Bredenbüttler Anzeiger am nächsten Tag wusste jeder, welche Ungeheuerlichkeit sich da im Stall von Bauer Gröbersen zugetragen hatte. Natürlich wusste in Wirklichkeit niemand, was genau sich zugetragen hatte, aber alleine die Tatsache, dass es im Bredenbüttler Anzeiger stand und zudem der Zuchtbulle tatsächlich grün war, ließ alle Dorfbewohner zu dem Schluss kommen, dass es eine Ungeheuerlichkeit gewesen sein musste.
"Ungeheuerlich!" Bürgermeister Erich Hörgelund brachte es auf den Punkt. Seit Beginn seiner Amtszeit vor nunmehr zehn stolzen Jahren hatte er sich noch nie einer Angelegenheit solcher Tragweite gegenüber gesehen. "Wie es aussieht, Leute, haben wir es hier mit Vandalen zu tun."
"Hippies und Rabauken, sach ich! Alle in ein'n Sack stecken und draufkloppen. Triffste immer den Richtigen." Hannes Dröchtersen, der beste und einzige Schlachter im Ort, schlug mit der Faust seiner linken Hand in seine Rechte und die Grimmigkeit seines Gesichts brachte äußerste Entschlossenheit zum Ausdruck. Die übrigen Anwesenden der allwöchentlichen Stammtischrunde klopften zustimmend mit ihren Biergläsern auf den massiven Eichentisch der Kneipe, wobei sie natürlich darauf achteten, nicht allzuviel Enthusiasmus zu versprühen, um die Unversehrtheit der Gläser nicht leichtfertig zu gefährden.
"Ruhe hier mal! Hannes hat zwar nicht Unrecht, zumindest von einem konservativen Standpunkt aus gesehen, aber dennoch sollten wir uns bemühen, den Schuldigen nicht zu verurteilen, bevor wir noch gar nicht wissen, wer der Schuldige eigentlich ist."
"Genau. Das könnten auch diese Rocker gewesen sein", sagte Günther Klöbel.
"Nee nee, Rockers gibt dat hier doch gar nich, du Tölpel!" Um seine absolute Sicherheit bezüglich dieses Punktes zu demonstrieren, vollführte Dröchtersen noch einmal seine Geste von vorhin.
"Dat is ja alles schön gut", mischte sich nun Knut Gröbersen in die Diskussion mit ein. "Aber mein Herbert is ja numal grün. Wat machen wir denn nu?"
"Wie ich das sehe, haben wir die Vandalen in der Stadt. Und du, Gröbersen, hast sie reingelassen."
"Wat is?"
"Immerhin sind sie zuerst bei dir aufgetaucht. Also liegt es an dir, einen Maßnahmenkatalog auszuarbeiten." Bürgermeister Hörgelund lehnte sich zufrieden in seinem Stuhl am Kopfende des Tisches zurück und hakte seine Daumen hinter die Hosenträger. Als Politiker war er natürlich geschult im Finden von Schuldigen. Das war sozusagen seine einzige Funktion im sozialen Gefüge des Dorflebens.
"Ich will gar nix messen! Ich will, dat mein Herbert nich mehr grün is. Dat sieht so nich aus, da will doch keine Kuh mehr... naja, ihr wisst schon."
"Ja, da hast du Recht, Gröbersen. Eigentlich wollte ich meine Kuh, die Else, mal zum Abdecken vorbeischicken. Aber wenn der Herbert jetzt grün ist, wird das nichts. Na gut, Gröbersen, ich denke, wir sollten dir helfen."
"Dat is bannig nett von dir, Erich. Ich geb auch ein'n aus."
"Ich schlage vor, wir bilden Zweimannteams, die nachts hier mal auf der Straße ein bisschen aufpassen, damit so was nicht noch mal vorkommt. Und jetzt gibt’s erstmal Schnaps. Lokalrunde! Gröbersen gibt einen aus."
...
Hannes Dröchtersen hasste Hunde. Umso erstaunlicher mag es da auf den arglosen Betrachter wirken, dass er sich selbst einen hielt, und sei es auch nur, um dem Tier jeden Tag aufs Neue wieder zu sagen, wie sehr er es hasste. Und Rex, so der Name des gescholtenen Tieres, gab sich alle Mühe, die Abscheu zu erwidern. Im Moment war er dabei, seinem Herrchen die Essensration für die bevorstehende Nachtschicht wegzufressen.
"Och nee, dusslige Töle. Nich meine Labskausstullen! Ich hätt das Brot vergiftn solln."
"Hannes, du bist schon da?" Günter Klöbel näherte sich ihrem Treffpunkt. In der Hand hielt er einen kräftigen Stock - seiner Meinung nach die beste Waffe gegen Rabauken.
"Ja nu. Is ja nich jeder so'n tüddeligen Kerl wie du."
"Ich weiß, ich bin zu spät. Tut mir leid. Meine Frieda wollte unbedingt noch kuscheln. Heute ist Donnerstag, weißt du."
"So is dat, wenn man am Heiraten is. Ich sach immer, Frauen sind wie... wie Dings... ach Schiet, ich komm nich drauf."
"Genau. So is das. Komm, lass uns gehen." Die beiden Männer bildeten Patrouille eins, zuständig für den Nordteil Bredenbüttels zwischen zwanzig und drei Uhr. "Sag mal, ist dein Hund eigentlich scharf?"
"Wat is? Nix da! Der Rex is zwar bannig watne Sackpfeife, aber gut erzogen, dat isser. Naja, einmal, da wollte er den Pudel von Oma Körthagen..."
"Ich meinte, ob er böse Buben beißt."
"Der beißt überall rein. Musst ihm nur ne Stelle zeigen, dann geht dat los."
"Apropos, wollen wir nicht losgehen?"
"Ja, nu wadde mal. Erstmal lecker wat zum Aufwärmen. Korn?"
...
"Boah, so'n Schiet wat aber auch, die Dings... die Pulle is leer."
"Weissu... hicks weissu, wassas wichigste bei ner Frau is, Hannes?"
"Janu, dat... dat is wie wenn... wennse gut kochen kann. Rex, geh doch ma ... geh ma zur Bude und hol Schnaps." Der Hund machte keinerlei Anstalten, den Weisungen seines Herrchens Folge zu leisten, was nicht etwa daran lag, dass er ihn nicht verstanden hätte, sondern einfach ein Zeichen seiner unverhohlenen Abscheu gegenüber Hannes Dröchtersen darstelle. Der Hund fuhr stattdessen fort, sich mit einer solchen Beharrlichkeit am Schritt zu lecken, die jeden zufälligen Beobachter vor Neid erblassen lassen würde. Patrouille Bredenbüttel Nord zwischen zwanzig und drei Uhr hatte, seitdem die beiden Männer sich vor einer Stunde hinter der Scheune von Bauer Gröbersen getroffen hatten, noch nicht einen Meter weit patrouilliert - stattdessen hatten die beiden zwei Flaschen Korn und jeweils drei von diesen kleinen Magenbittern geleert, die immer so schön kribbeln im Abgang.
"Kochen? Nee, das kannich kannich ja auch. Auch. Jawoll! hicks Das wichtigste anne Frau is..."
"Hähähä, Titten." Hannes Dröchtersen schlug sich vor Begeisterung auf seine Schenkel, verfehlte jedoch und verlor für einen äußerst entzückenden Moment das Gleichgewicht.
"Och, jetzt komm hicks kommir nich damit, Dröch... Dröchtersen. Tititten haddoch jede Frau. Da muss ich nihich drauf achten muß ich da nich... jawoll! Dasse die hat, mein ich. hicks. Tschullige."
"Wat is denn dann dat am Wichtigsten? Günter, sach ma."
"Das Wichtigste is... hassu hicks das ge... hört?"
"War da wat? Wadde ma, ich regel dat... Rex, nimma die Pfoten vom Sack und geh nachguckn." Der Hund gähnte verächtlich in Dröchtersens Richtung und verfolgte mit den Augen eine Ameise, die gerade dabei war, interessante Dinge mit einer Eichel anzustellen. Zumindest erschien es Rex weitaus interessanter, die Ameise zu beobachten, wie diese ihre Beute vergraben wollte, als dem ausgestreckten Finger seines Herrn zu folgen.
Hätte der Hund sich in diesem Moment erhoben und wäre er tatsächlich in die angezeigte Richtung gegangen, dann hätte er den Störenfried auf frischer Tat ertappen können. Manfred Hörgelund, der Sohn des Bürgermeisters, schlich sich nämlich in diesem Moment an der Hinterseite der Scheune entlang, krabbelte durch ein kleines Loch in der morschen Bretterwand, pflückte eine Spinne von seiner Schulter und begann mit dem zweiten Teil seines perfiden Plans.
...
"Wie jetzt, du bist da noch mal rein und hast..."
"Ja, ich bin da noch mal rein."
"Und dann hast du den Bullen gewaschen?"
"Dann hab ich die grüne Farbe wieder abgewaschen, ja."
"Aber warum?"
"Ich wollte ein Zeichen setzen. Ich habe die gut behütete Dorfgemeinschaft mit meiner kleinen Aktion gehörig ins Wanken gebracht, habe Weltbilder zerstört und die trügerische Idylle für einen kurzen Moment ad absurdum geführt. Ich habe ihnen mal gezeigt, wie schnell es vorbei sein kann mit essigsaurer Spießigkeit, habe sie ein Stück vom wahren Leben kosten lassen und ihnen den Weg aus ihrem selbst geschaufelten Käfig der Langeweile gezeigt. Und um zu symbolisieren, dass die Normalität um ihrer selbst Willen nach wie vor existent ist, habe ich jetzt den Status quo wieder hergestellt."
"Schon klar. Aber warum grün?"