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Der Graben

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07.05.2005
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Der Graben

Im Graben

Liebste Maria,

Es wird mein letzter Brief sein. Ich habe viel Zeit gehabt und so wenig Papier und ich weiß, es ist unmöglich, Zeit in Schrift zu pressen, aber Unmöglichkeit schreckt mich nicht mehr.

Wir haben unsere Gräben durchgezählt, meiner hat die Nummer 45. Morgen werde ich tot sein. Wir wissen noch nicht, wie es passieren wird: Unsere Gegner haben schon oft Gaswolken eingesetzt. Obwohl es hier ein wenig hügelig ist, ist das also nicht ausgeschlossen. Dann bin ich ganz sicher tot, wenn sie das tun. Sie benutzen das Gas aber inzwischen selten, es ist sehr teuer.

Wenn es das nicht ist, kommt der Panzer, und der rollt dann über mich hinweg. In der Ausbildung hat unser Offizier uns eine Schwachstelle gezeigt, auf die wir schießen sollen. Sie ist aber klein, und wir sollen auch erst dann schießen, wenn der Panzer wenige Meter vor uns ist. Wenn wir treffen, explodiert er. Doch hilft mir das? Sterbe ich glücklicher, wenn ich darunter liege, als wenn ich mit allem fortfliege?

Ich sollte wohl jetzt an die letzten Dinge denken, aber zur Zeit kommen mir nur einfache, lustige Erinnerungen in den Sinn, aus der Zeit vor dem Krieg. Überhaupt denke ich kaum an das, was passieren wird. Ich war voll langer Weile, dieser Brief hielt mich aufrecht, aber er bedrängte mich auch, denn ich wollte dir nur Wichtiges schreiben.
Doch ich bin nicht gewohnt, alles zu ordnen und einzureihen, ich fing an, quer und falsch zu denken. Seit Tagen überlege ich mir, was ich schreiben soll, aber die Zeit schob sich zusammen, jetzt wird der Brief schon in einer halben Stunde abgeholt und ich habe gerade angefangen zu schreiben.

Wenn es nur keine halbe Stunde wäre. Doch dieser Krieg ist so falsch, so gelogen, so pünktlich. Minutengenau, jeden Abend acht Uhr. Wir Soldaten ahmen inzwischen den Krieg nach und werden vorhersehbar. Ich kann den Mann links von mir etwas fragen, und ich weiß, was er sagen wird. Ich habe es oft erfolgreich probiert. Er wird gleich sein Leberwurstbrot auspacken. Da! Er nestelt schon im Graben herum.

Wofür sterbe ich? Aber warum nicht? Ich weiß ja auch nicht, wofür leben.

Im Krieg zu sterben, ist nicht schlimm. In diesem Krieg ist es anders. Bisher war Krieg doch immer auch Unordnung, ein Auseinanderbrechen. Eine Welt, in der alles möglich war, in der ein Sandkorn zum Felsen wurde, fähig, Menschen zu erschlagen. Ein Ort, an dem ich etwas war.
Sind Soldaten Mörder? Ganz bestimmt. Aber vor allem: Sie sind. Denn sonst sind sie nichts, hineingeworfen in eine Welt, die sie nicht braucht, in der jeder körperliche Mensch gleich unmoralisch ist, in dem Freiheit immer geistig sein muss. Damit konnte ich nicht leben. Und das abzulehnen und Sandkorn zu werden, ist keine üble Wahl.

In diesem Krieg werden sogar Sandkörner angemeißelt, und in zwanzig Minuten wird der Brief abgeholt. Wenn Menschen aus dem Ausland kämen und nach den Briefabholern – wir nennen sie Läufer - ihre Uhren stellen würden, mich würde es nicht wundern. Es könnten auch Psychologen kommen und sie würden Freundlichkeit bemerken:
„Möchten Sie, dass wir Ihren Brief mitnehmen“ – „Ja!“ – „Ich danke Ihnen. Ich werde morgen zur gleichen Zeit vorbeischauen“.

Der Läufer lügt aber, denn er wird nicht vorbeischauen, wenn ich morgen tot bin und meine Körperteile hier verteilt habe, zwischen den abgemergelten Soldaten des Gegners.
In diesem Fall wird der vorderste Läufer ein wenig zurückgeschoben, und mit ihm der Nächste. Da wird nichts gedrängt, das setzt sich so fort, bis dann der allerletzte an einer Stelle ist, wo kein Soldat mehr liegt, wo kein Brief abgeholt werden kann. Dann läuft er in die nächste Stadt. Früher war das ein Witz für mich, doch jetzt sehe ich, wie hier alles organisiert ist und es wird klar, dass es gar nicht anders sein könnte.

Vor einer Woche habe ich einen Soldaten der Gegner gesehen. Zur Zeit bewegt sich kaum etwas, aber damals waren wir noch auf den Beinen. Ich stand abgeschirmt in der zweiten Reihe. Als das Schießen anfing, konnte ich kaum mehr etwas sehen.
Die Luft bestand nur noch aus Dreck und Staub und das wurde mir schnell so vertraut, dass ich es als dicht empfand. Ich warf mich auf den Boden und versuchte, Unterschiede auszumachen, ich schoss auf alles, das dichter war als seine Umgebung.

Ganz unvorbereitet ergriff mich ein Moment der Klarheit: Einer von uns hatte eine Granate geworfen, sie traf den Boden, zerriss die Luft und verspritzte blutige Erde. Der Aufprall pustete noch weit entfernt den Staub aus der Luft, und so weit kamen die Splitter nicht.

Ich sah.

Die Uniform war blau, es war ein Gegner. Er torkelte sinnlos, und er war so hässlich, das ich ihn nicht leiden mochte. Der Körper mager und scheinbar nur aus Kanten und Ecken bestehend. Ich sah das Gesicht nur wenig, aber es war eingefallen und trostlos. Seine Hand zitterte, das konnte ich sehen, aber er versagte im hilflosen Bemühen, uns zu grüßen. Jedenfalls schien es mir so, und was er wirklich tun wollte, werde ich nie herausfinden.
Ich ließ den Anblick erst ein wenig herumstehen, dann erschlug mich ein Gedanke: Ich hatte mich gesehen. Und jeden meiner Kameraden und jeden meiner Feinde. Der Krieg hat uns alle Eigenschaften genommen, wir haben kein Aussehen mehr und keine Fähigkeiten.

Mit den Fähigkeiten fing es an. Wir kamen gut ausgebildet hier her: Manche erschießen den Gegner, andere werfen Bomben, wieder andere fahren Wagen. Mit jeder Tätigkeit kam auch der Name wie von selbst: Wer verteilt Munition? Holger, natürlich. Mit dem Namen kam das Bild, und dann blätterte sich der ganze Mensch vor mir auf. Mit vielen habe ich ja Monate in der Kaserne verbracht.
Dann kam die Zeit, in der wir nicht mehr vorwärts kamen und nicht mehr rückwärts. Als wir nur noch starben. Langsam hörten die Befehle von oben auf, und es hatte ja etwas fürsorgliches: So gab es in der gleichen Regelmäßigkeit zu Essen und zu Trinken. Von den Briefabholern habe ich dir ja schon erzählt. Anders war jetzt, dass wir frei waren: Wirklich schrieb uns keiner mehr vor, was wir zu tun hatten.

Ohne Auftrag begannen wir, planlos zu kämpfen. Wir nahmen unser Gewehr, schossen es leer, und nahmen ein neues. Oder nahmen etwas anderes, was immer auch herumlag. Ich bin auch schon einen Panzer gefahren, nur um nach einer halben Stunde wieder auszusteigen, weil ich damit auch nicht hätte durchbrechen können. So hat jeder von uns alles gemacht. Da gab es dann keinen mit besonderen Fähigkeiten mehr, aber nur dadurch hatte ich meine Kameraden auseinander halten können.
Das war nicht schlimm, denn ich konnte jetzt das, was die Spezialisten konnten. Ich brauchte die Spezialisten nicht und damit auch nicht ihre Namen. Ganz schnell waren wir dann keine Personen mehr und wir vergaßen auch, dass es andere gab neben uns.

Zwei Minuten.

Dann aber geschah etwas, das ich nicht geahnt hatte. Ich hörte ein tiefes Brummen und Schreie und dann ging alles ganz schnell: Auf einmal brannte die Erde auf, und es war mir, als hätte man die Sonne heruntergeholt und vor mir auf den Boden gelegt, meine Lider klappten zusammen, aber genug Licht hatte sich schon unter sie geschoben und verteilte sich in meinem Kopf. Erst war alles hell, und es fühlte sich schön an, so strahlend zu sein, ich streckte meine Hände aus und wollte nur noch Zeichen für die anderen sein. Oder auch durchlöchert werden und den Körper hohl werden lassen, tanzen, zucken.

Das Licht kam aus einem gegnerischen Flugzeug: Sie strahlten uns an und blendeten, und dann brauchte es wenige gezielte Schüsse, um uns zu töten, wir taumelten ja nur noch idiotisch herum.

Ich stand noch, da fuhr ein Schmerz in das Licht hinein, und dann war das Licht verschwunden. Ich warf meine Hände auf die Brust und knickte ein, meine Beine bogen sich einfach zusammen. Der Boden war mir so zuwider, dass ich aufstieß, aber ich klappte wieder ein, wie eine Marionette beim epileptischen Anfall des Spielers. Das hat lange gedauert und hörte erst auf, als ich keinen Boden mehr hatte, auf den ich fallen konnte, ich stürzte, lag nun im Graben, und war glücklich, denn der Schmerz war fort.

Ich war nicht getroffen worden. Nicht ich, sondern der Läufer. Einmal noch die Luft einatmen, dann nicht mehr, und er sinkt in meine Arme. Mein Brief ist nutzlos und was passiert, wirst du nie erfahren.

Schau! Über mir ein Vogel, er pendelt, schaut mich traurig an. Die Hoffnung. Dann fliegt sie davon.

 

Hallo Janey,

danke für deine Hinweise!

Seltsame Überleitung, finde ich.

Da hast du Recht! Ursprünglich dachte ich, dass der Inhalt gar nicht zusammenhängend sein sollte, weil ich nicht glaube, dass jemand in seinen letzten Stunden so denkt. Im obigen Fall aber passt es nicht, mir ist aber noch nichts besseres eingefallen.

Der ganze Absatz über die Fähigkeiten ist dann vielleicht ein bisschen zu lang geraten, da wollte ich schon fast aussteigen

Ich weiß, dass der Abschnitt ein wenig langatmiger ist und sicherlich farbloser. Aber dennoch gefällt er mir (noch), weil er den Ablauf des Kriegs erklärt. Vielleicht auch, weil ich darauf eingehen will, warum die Soldaten kämpfen, wofür ich keine Erklärung gebe, aber es wird ein wenig von der Organisation deutlich. Ich ersetze Wahrheit durch Struktur, und schon wird die Wirklichkeit grausam.

Ab hier bin ich wieder ganz bei dir und mitten im Geschehen. Ich frage mich trotzdem, ob du diesen Abschnitt nicht ins Präsens setzen könntest, denn es passiert ja genau jetzt. Oder wann? Wann hat er die Zeit gefunden, sich nach diesem Angriff wieder soweit zu sammeln, dass er den Brief zu Ende schreiben konnte, obwohl er doch wusste, dass er zumindest jetzt nicht mehr mitgenommen würde?

Da habe ich lange überlegt: Ja, er hatte nachher Zeit sich zu sammeln, und er hat den Brief beendet, obwohl es nutzlos war. Warum? Nun, weil er ihn einfach angefangen hat und es für ihn unvorstellbar wäre, etwas nicht zu beenden - auch wenn es unsinnig ist. Auch hier ist wieder Struktur wichtiger als Wahrheit. Das sollte ich vielleicht im Text deutlich machen. Und zur Vergangenheitsform: Es ist ein Brief, und da er ja nicht etwas momentan geschehendes mitschreibt, kann es logisch nur die Vergangenheit sein, ich weiß aber, dass es unpassend aussieht. Oder kann ich so schreiben: "Jetzt höre ich..."? Ich denke darüber nach.

Dein Titelvorschlag ist sehr gut, den habe ich übernommen.

Viele Grüße, Christian

 

Hi Christian,

deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Ich mag Anti-Kriegs-Geschichten sowieso und deine gehört eindeutig zu den Besseren. Sehr guter Stil, wunderbar durchdachte Bilder und gut zu lesen. Weiter so!

Tobias

 

Hi Christian,

deine Geschichte ist so gut, dass sie den plakativen Beginn (Morgen werde ich tot sein) eigentlich gar nicht nötig hat.
Mich zumindestens hat dies "Gewissheit" gestört. Sie drückt mir zu bewusst auf die Tränendrüse. Später wird dein Prot in den Überlegungen dann vielschichtiger, beschreibt schön den Verlust des Ich, den er erleidet. Und da ist ein Brief an die Liebste dann ein schöner Versuch, sich auch am eigenen Ich festzuhalten, etwas hinüberzuretten in die Grausamkeit, die ihn umgibt. Das hast du alles wirklich schön beschrieben. Nur die Einleitung eben ...

Lieben Gruß, sim

 

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