Der Greyhound
Harolds Augen waren schwer. Er versuchte, seine Lider zu öffnen, doch es schien fast, als seien die Wimpern von Ober- und Unterseite miteinander verwoben oder zumindest verklebt. Ein widerliches Gefühl, doch seine Gesichtsmuskeln zogen weiterhin an den Augenlidern und irgendwann schafften sie es sogar, sie von einander zu trennen. Harold erwartete ein schmatzendes Geräusch dabei, doch es blieb aus. Er erwachte anscheinend nur langsam aus einem seltsam tiefen Schlaf oder gar einem Koma? Seine Glieder waren nicht minder schwer wie seine Augen, doch dann schaffte er es, sie zu bewegen und verlagerte damit das Gewicht seines Oberkörpers gleichmäßig so auf beide Seiten, dass er auf dem Rücken lag. Der Untergrund knirschte, knackte. Er war gepolstert und doch irgendwie kantig. Geradezu löchrig. Die Sprungfedern unter dem Bezug drückten auf Harolds Gesäß. Es roch muffig. Nach alten Socken, vergammeltem Filz und rostigem Metall. Wo zum Henker war er?
Fahle und diffuse Lichtstrahlen formten sich langsam vor seinen Pupillen zu einem nebulösen Mosaik, setzten sich wie Puzzleteile zusammen.
Aus einer anderen Ecke des Raumes stieß jemand ein lautes, verwirrtes „Fuck!“ aus. Schlagartig änderte sich Harolds Zustand, von schläfrig zu hellwach. Die Iris seiner Sehorgane zogen sich zusammen und arbeiteten nun schneller an der Entschlüsselung der Umwelt. Er spannte seine Bauchmuskeln an – oder das was nach knapp zwanzig Ehejahren und rund einer Million Nächte an den Theken verschiedenster Bars von ihnen übrig geblieben war – und riss seinen Oberkörper hoch. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Baseballschläger auf den Hinterkopf. Die Metallfeder die sich energisch in sein Steißbein bohrte, gehörte zur vordersten Sitzbank eines dreckigen, alten Greyhound-Busses. Quer auf der hintersten Bank lag ein großer, langhaariger Kerl mit dichtem, schwarzem Bart und dicken Oberarmen, die aus einer mit Flicken überzogenen Jeansweste herausschauten. Er fasste sich an die Schläfe und richtete sich auf. Vermutlich war er ebenso benommen wie Harold.
Ein weiterer Blick durch den Bus lies noch mehr Gesichter auftauchen. Eines gehörte zu einer dicklichen, schwarzen Lady in Blümchenkleid, deren hochhackige Schuhe über die Kante ihrer Sitzbank in den Mittelgang hineinragten. Dann war da noch ein ziemlich gewöhnlich aussehender Kerl mit Anzug und Aktentasche. Er hatte so eine Frisur, bei der man die Haare der rechten Kopfseite, über die Halbglatze hinweg, bis zur linken Kopfseite kämmte, um die große kahle Stelle dazwischen zu überdecken. Comb-Over nennt man so was. Der Mann setzte nun eine Hornbrille mit dickem, schwarzen Rand auf. Nun sah er sogar noch gewöhnlicher aus.
„Katie?“, ein junger Mann tauchte hinter dem Brillenträger auf und sah sich verwirrt um. Er trug ein weißes T-Shirt mit einem grünen Aufdruck in Form eines Hanfblatts darauf.
„Ich bin hier!“, rief ein Mädchen, nicht älter als siebzehn. Sie war sehr zierlich, hatte schulterlanges, dunkelblondes Haar, trug ein orangerotes Top und knallenge Jeans. Sie kam von einer der hinteren Reihen angerannt und fiel dem jungen Mann - offensichtlich ihr Freund - um den Hals.
Der Szenerie gegenüber, saß ein verschwitzter, haariger Mann mit Unterhemd und einem roten Flanellhemd darüber. Dicke Haarbüschel wuchsen auf seiner Brust und sein Gesicht bedurfte mal einer gründlichen Rasur. Er beobachtete das junge Paar und rollte anschließend mit den Augen. Er war wohl kein großer Romantiker.
Der letzte Kopf der auftauchte, gehörte einem Mann Mitte zwanzig, mit dunklem Teint, hohen Wangenknochen und pechschwarzem Haar. Offenkundig war er indianischer Abstammung. Er hatte kurze Haare und trug eine Uniform der US Army. Ein Soldat.
„Steven, wo sind wir hier?“, fragte das Mädchen. Harold fand, dass dies eine gute Frage war.
Er hatte sich bisher nur auf seine direkte Umgebung und die sieben Personen – Acht, wenn er selbst sich mitzählte - darin konzentriert. Die Lampen des Greyhounds leuchteten den Bus innen sehr lückenhaft aus, in einem Licht, das wie seine Umgebung schmutzig wirkte.
Die großen Seitenfenster des Busses boten Aussicht auf einen mondlosen Nachthimmel. Ohne Sterne. Nur Schwärze über dem ungewöhnlich hohen Horizont. Harold drehte sich zum Platz des Fahrers um, stand auf und schaltete das Aufblendlicht ein. Er sah erneut hinaus. Das Licht der Scheinwerfer lies den Boden vor der Windschutzscheibe feucht glitzern. Rings um den Bus türmten sich Erdmassen steil auf und umschlossen das bis zu den Fenstern mit Schlamm verkrustete Vehikel. Doch da war noch etwas: Feine hellgraue Ascheflocken fielen vom Nachthimmel, vereinigten sich in den Lichtkegeln mit der feuchten Erde und schwärzten diese noch weiter.
Alles war still. Kein Geräusch drang von außerhalb des Fahrzeugs an Harolds Ohren. Nur das Atmen und sich Regen der Insassen.
„Ich… kann mich an gar nichts erinnern.“, sprach die Frau im Blümchenkleid.
„Ich auch nicht.“, sagte Katie und drückte fest die Hand ihres Freundes. „Du etwa?“, sie sah ihm in die Augen. Er schüttelte nur den Kopf. Der haarige Flanellhemdträger zuckte mit den Schultern.
„Scheiße, ich auch nich’!“, der Langhaarige kam den Mittelgang hinuntergestampft. „Bin Rob.“, er deutete mit einer fahrigen Geste auf sich selbst und band dann seine Haare am Hinterkopf zusammen. „Wie heiß’n Sie, Lady?“
Die Farbige wirkte leicht eingeschüchtert. „Doris.“, sagte sie knapp.
Rob nickte Harold zu. „Und du? Bistn’ Briefträger, wie?“, Harold schaute verwirrt drein. „Die Uniform.“, erklärte Rob.
Der Angesprochene nickte zurück und lächelte – hauptsächlich über sich selbst. „Messerscharf kombiniert. Mein Name ist Harold Gibson.“
Plötzlich machte der Mensch mit dem Aktenkoffer einen erstickten Laut und presste sich ein Stofftaschentuch vor den Mund. Alle drehten sich zu ihm um.
„Alles klar mit dir, Alter?“, erkundigte sich Rob.
Der Brillenträger sah auf. „Es geht schon wieder. Mein… mein Name… ist Gene.“
Der Soldat meldete sich zu Wort: „Billy Mohaine. Ich bin mir nicht sicher ob…“
„Entschuldigen Sie, ich muss mal an die frische Luft!“, unterbrach ihn der Brillenträger mit gepresster Stimme und rannte zur offen stehenden Bustür.
Im nächsten Moment passierten mehrere Dinge fast gleichzeitig. Zunächst sprang das Radio des Greyhounds an und aus allen Lautsprechern drang, in angenehmer Lautstärke, der Gesang einer Rhythm and Blues Kapelle namens „The Ink Spots“, die zwischen den Dreißigern und Fünfzigern bekannt war. Das Lied hieß „I Don't Want To Set The World On Fire“.
Genes Wangen hatten sich voll aufgeblasen und ein Rinnsal aus Speichel und Erbrochenem floss ihm aus dem Mundwinkel, während er die Metallstufen nach draußen hinunterstürzte. Dann tauchten direkt vor dem Ausstieg dünne seidige Fäden auf, die vom Dach hinab hingen. Gene hatte sie wohl nicht rechtzeitig bemerkt und lief durch sie hindurch, doch die Fäden blieben an seiner Jacke und dem Gesicht kleben. Gene ging weiter hinaus in den Matsch. Nach zwei Metern bückte und erbrach er sich. Die spinnenseidenartigen Fäden waren bis aufs äußerste gespannt und zogen eine Art Qualle hinter sich her, die mit einem lauten Platschen vom Dach fiel. Der Anzugträger realisierte anscheinend erst jetzt was geschehen war und versuchte die Fäden von seiner Haut zu lösen. Sie juckten, brannten sogar und ließen in sekundenschnelle eiternde Pusteln entstehen, die zu großen, rot pulsierenden Geschwüren und Abszessen heranwuchsen. Gene versuchte zu schreien, doch als er Luft dafür einzog, geriet ihm eine der Nesseln in den Hals, der sofort anschwoll. Kurz darauf starb er einen qualvollen, gurgelnden, zuckenden Tod, während im Radio diese Musik lief und die anderen Leute ihn ungläubig und stumm vor Schock aus den Fenstern heraus beobachteten. Die Musik verstummte. Zurück blieben eine tote Qualle, eine völlig deformierte Leiche und ein ganzer Linienbus voller Sprachlosigkeit.
Wie es sich für einen echten Rocker gehörte, war es an Rob, die atemlose Stille zu brechen. „Fuck! Was zum Geier war’n das?“, platzte es aus ihm heraus. Darauf wusste keiner eine plausible Antwort.
Nach einigen Minuten eisigen Schweigens – keiner wusste genau wie viele Minuten es waren, denn sämtliche Uhren der Buspassagiere hatten den Geist aufgegeben, ebenso die Handys – ging der Junge mit dem Hanfblattaufdruck zur Tür.
„Nicht!“, sagte seine Freundin.
„Keine Angst, ich setz’ keinen Fuß nach draußen.“, versprach er ihr. Er sah hinaus. „Vielleicht haben uns ja Aliens entführt oder so was. Echt strange das alles.“ Er beobachtete die Flocken die draußen zu Boden fielen. „Ist das Asche?“
Harold zog seine Postbotenmütze ab und kratzte sich am Kopf. Er hatte es sich auf dem Fahrersitz bequem gemacht und fummelte dann und wann an den verrosteten Kontrollen herum. „Scheint so.“, sagte er.
„Ich sehe es aber nirgendwo brennen. Generell ist da draußen alles dunkel und öde. Tja, auch wenn alles darauf hindeutet…“, Steven drehte sich von der Tür weg und witzelte. „…wir sind nicht in Dallas.“ Katie lächelte.
Das Radio sprang wieder an und Steven erschrak. Er schaltete schnell und versuchte weiter in den Bus hinein zu laufen, doch es war zu spät. Ein dünner, mit Zähnen bewehrter Tentakel schoss durch den Aus-, bzw. Eingang und umschloss den Jungen peitschenartig schnell. Noch bevor irgendjemand aus der Deckung springen und reagieren konnte, hatte ihn der Tentakel aus dem Mittelgang gerissen und nach draußen gezogen. Er verschwand irgendwo im Dunkel und sein Schrei verhallte nach wenigen Sekunden, zugunsten teuflischer Schmatz- und Kaugeräusche.
Mit dem Einsetzen von Katies Schrei, hörten auch die Ink Spots wieder mit ihrem Gesang auf und das Radio versagte abermals den Dienst. Katie wollte ihrem Freund und dem Tentakel hinterher hechten, doch Doris hielt sie auf.
„Geh nicht raus! Blieb hier!“, sie zog sie an sich heran und drückte das hysterische, weinende Mädchen an ihren großen Busen.
„Neeeeiiiin…“, weinte Katie und ihre Tränen tränkten das Blümchenkleid der Farbigen.
„Weißt du…“, begann diese mit beruhigender Stimme, „…ich glaube wir sind hier, weil Gott uns alle prüfen will. Und unseren Glauben.“
„Oh Mann…“, stöhnte Rob und marschierte mit rollenden Augen davon.
Doris störte sich nicht daran. „Du wirst Steven sicher wieder sehen. Aber wir müssen das hier durchhalten.“
Wenige Minuten später hatte sich das junge Mädchen bereits beruhigt und hing schlaff in Doris’ Armen. Ihre Tränen flossen von nun an leise.
Die Anderen versammelten sich um den Flanellhemdträger herum, der sich keinen Zentimeter gerührt hatte, seit er aufgewacht war. „Da waren’s nur noch sechs.“, sagte dieser.
„Sehr witzig.“, brummte ihn Billy, der Soldat indianischer Abstammung, an. „Dir ist klar, dass wir nicht viel Zeit haben, oder?“
„Yeah…“, stimmte Rob zu. „Und wie heißt du eigentlich? Hast dich noch nich’ vorgestellt.“
„Ist das so verdammt wichtig?“, lautete die Gegenfrage.
„Nein, vermutlich nicht. Zumindest nicht mehr lange.“, entgegnete Harold, der Briefträger.
Billy meldete sich wieder zu Wort. „Wir sollten auf alle Fälle so schnell wie möglich von hier verschwinden, oder wir gehen alle nacheinander drauf.“
„Der Bus funktioniert jedenfalls nicht mehr. Die Zündung macht keinen Mucks. Kommen wir vielleicht von innen her an den Motor ran? Ist nämlich vielleicht keine so gute Idee, raus zu gehen und unter die Motorhaube zu schauen, wenn da draußen Sonstwas rumhängt.“
„Das ist doch Schwachsinn!“, erwiderte der Flanellhemdträger. „Wir kommen mit dieser Mühle doch unmöglich den Hang hoch! Siehst du die Steigung und den Matsch und wie hoch das alles ist? Ich schätze die Erdmassen mal auf sechs bis sieben Meter.“
„Yeah… Wir könnten eher versuchen, zu Fuß da hoch zu kommen.“
„Einverstanden!“, sagte der Soldat. „Aber wir dürfen keine Zeit verlieren. Wenn das Radio nur in bestimmten Abständen anspringt und dieses… Wasauchimmer… anlockt, dann könnten wir es vielleicht schaffen von hier weg zu kommen, wenn wir nur JETZT gehen.“
Harold war das alles nicht geheuer, aber besser als nur herum zu sitzen war es allemal. Der Flanellhemdträger machte keine Anstalten aufzustehen. Ihm war wohl alles egal. Oder wusste er etwas, was die Anderen nicht wussten?
Die Fünf machten sich auf, nachdem der schweigsame Sechste sein Mitwirken bei der Flucht verweigerte. Während des Ausstiegs registrierte Harold am Rande, dass die Leiche des Brillenträgers mit dem Haarausfall, zusammen mit der absonderlichen Qualle, die ihn umgebracht hatte, verschwunden war.
Im Schein der Aufblendlichter lief die Gruppe, durch den Schlamm und die Asche, bis zum Fuß des steilen Hangs. Rob versuchte zuerst, ihn zu erklettern. Er trug feste Stiefel, was seinen Aufstieg begünstigte. Als er den Boden ertastete, schnitt er sich die Handfläche auf.
„Shit!“, brüllte er. „Überall Stacheldraht!”, er schaute den Hang hinauf und dann hinunter zu den Anderen. Ihnen lief die Zeit davon. „Komm her Kleine! Ich helf’ dir rauf!“ Katie ergriff seine Hand und lies sich hinaufziehen. „Kletter weiter! Wenn du fällst, fang ich dich auf!“ Und sie kletterten den matschigen Hang empor, versuchten sich einigermaßen aufrecht zu halten, was nicht einfach war. Aber immerhin hatten sie schon die Hälfte geschafft.
„Ich kann gleich was sehen! Ein bisschen noch!“, rief sie mit zitternder Stimme, als wieder die Musik zu spielen begann.
Der Gesang der Kapelle reichte bis zum Hang hinauf und erweckte den Stacheldraht unter der Oberfläche zum Leben. Sofort schloss er sich um die Beine des Rockers und kletterte an ihnen hinauf, bis zu den Knien.
„Oh Gott!“, rief Doris und rannte zum Bus zurück, so schnell es der Untergrund und ihr Schuhwerk erlaubte. Harold folgte ihr. Nur Billy blieb stehen.
Katie sah sich verängstigt um. Es war noch so weit bis ganz oben. Rob deutete ihr an, sie solle auf seine Arme springen. Sie zögerte erst und sah zu, wie der Stacheldraht weiter Robs Beine empor kroch und auf dem Weg alles aufschlitzte. Dann sprang sie und er fing sie auf, doch er konnte das Gleichgewicht nicht halten und stürzte rücklings vom Hang. Ein platschendes Geräusch ertönte und beide rutschten den Hang hinunter, wobei sich Rob den ganzen Rücken aufriss. Unten angekommen, half Billy dem Mädchen hoch.
„Weg hier, verdammt!“, brüllte Rob und wurde im nächsten Moment vom lebenden Stacheldraht eingewickelt, der ihn langsam ins feuchte Erdreich zog.
Die anderen Beiden rannten zum Eingang des Greyhounds zurück, wo Harold und Doris bereits warteten. Katie lief voran. Dann, als Katie in den Bus sprang, wurde Billys linker Stiefel von einem langen Stück Stacheldraht gepackt, der sich tief ins schwarze Leder schnitt. Der Soldat kam ins Straucheln, konnte aber grade noch die pneumatische Tür des Busses zu fassen bekommen. Der Draht zog energisch an ihm, sodass Billy fast waagerecht in der Luft hing. Er fühlte sich wie auf einer Streckbank und merkte, wie seine vom Schlamm glitschig gewordenen Finger immer mehr von der Tür abglitten. Schließlich kam Katie wieder aus dem Bus und löste den Schnürsenkel des Armeestiefels, sodass er mit einem *plopp* von seinem Fuß schnellte und in die Schwärze hinaus gezogen wurde. Eine weitere Stacheldrahtattacke kam nicht.
Wenig später, die Musik war schon längst wieder verstummt und alle hatten sich beruhigt, begann Billy zu erzählen: „Ich war letzte Woche bei meinem Onkel im Krankenhaus. Er lag im Sterben. Er hat mir erzählt was ihm passiert war, als er in der Army war. Früher.“, er rutschte auf seinem Sitz hin und her. Der Flanellhemdmann, Harold, Katie und Doris hörten zu. „Er war bei einer Spezialeinheit. Er wurde eingesetzt, wo es brenzlig wurde und er hat viele Menschen getötet. Er konnte das alles, weil sein Vater mit ihm immer jagen war, wie mein Vater mit mir. Die alte Schule. Also auf Indianer-Art. Und mein Onkel war gut. Wirklich gut. Eines Nachts, hat er mir erzählt, kamen dann die Geister derer, die er getötet hatte, zu ihm. Sie taten ihm nichts. Sie sahen ihn nur an. Sie wollten ihn warnen, denn er war vom rechten Weg abgekommen. Dem Weg seiner… unserer Urväter. Und er wiederum warnte mich, ich solle nicht zur Army gehen. Und auf seinem Sterbebett wieder, ich solle aussteigen. Ich schlug die Warnung natürlich beide Male in den Wind. Jetzt ist er tot. Und ich glaube die Geister sind gekommen um mich zu holen, weil ich so dumm war.“, er starrte Löcher in den Boden.
„Glaubst du den Quatsch den du da redest wirklich, Kleiner?“, stichelte der Mann im Flanellhemd. „Ich jedenfalls glaube, wir sind alle tot und in der Hölle gelandet.“
„Ich gehe jeden Sonntag in die Kirche!“, rief Doris empört, „Und außerdem…!“
„Ist Maßlosigkeit nicht auch ne Todsünde, Big Mama?“, unterbrach er sie gelassen.
„Sie sind ein Riesenarschloch, Mister!“, Billy funkelte ihn an.
Doch dann schaltete sich Harold ein: „Schluss jetzt!“, er sah nach unten und entdeckte ein längliches Stoffbündel. Der Inhalt war nur lose eingewickelt. Niemand anderes hatte das Bündel bemerkt, dem war sich der Briefträger sicher. Doch er bückte sich auch nicht um es aufzuheben. Die Zeit war noch nicht reif. Das wusste er intuitiv. Und er ließ es liegen. Erneut setzte das Radio ein und „I Don't Want To Set The World On Fire“ lief weiter.
Augenblicklich erschienen rings um Doris’ Sitz etliche Reihen von Säbelartigen Zähnen. Sie sprossen durch die Wand des Busses und ein riesiges Maul biss ein großes Stück samt der Frau heraus. Dann verschwand es in der Finsternis.
Das war der Punkt an dem Katie völlig die Kontrolle über sich verlor. Sie rannte weinend und schreiend aus dem Greyhound. Die Männer versuchten sie aufzuhalten, doch sie schlängelte sich einfach blitzschnell an ihnen vorbei. Sie lief hinaus und blieb zehn Meter vor dem Bus stehen.
„Was wollt ihr?“, schrie sie in die Dunkelheit.
Billy wollte ihr nachhechten, aber Harold hielt ihn fest. „Komm zurück! Das Radio läuft noch!“, rief er statt dessen.
Augenblicklich öffnete sich der schlammige Boden unter Katie und verschlang sie ebenfalls.
„Scheiße!“, brüllte der Soldat und schlug wild um sich, trat dabei gegen das Radio, das bereits keinen Mucks mehr von sich gab. Der Lautstärkenregler kullerte in den Fußraum, zwischen Gaspedal und Bremse.
„Da waren’s nur noch drei.“, gab der Flanellhemdträger bekannt.
„Du wandelst auf verdammt dünnem Eis, Sportsfreund!“, drohte ihm der Soldat.
Wieder verstrichen stumme Minuten. In der Aktentasche des nun toten Anzugträgers Gene, hatte Billy eine Zeitung gefunden und schlug sie auf. „Vielleicht bringt uns das ja weiter.“, hatte er zuvor gesagt. Er bemühte sich, Haltung zu bewahren, doch seine Stimme war nicht unfern der Resignation.
Der Flanellhemdträger brach wenig später das Schweigen. „Weißt du Harold…“, er setzte sich eine Mütze auf, die die ganze Zeit neben ihm gelegen hatte. Es war eine Busfahrermütze. „…das menschliche Gedächtnis ist ziemlich unzuverlässig, wenn man es nicht trainiert. Ich mache viel fürs Gehirn. Kreuzworträtsel, Sudoku. Ich liebe den Scheiß. Ihr könnt euch nicht dran erinnern was passiert ist, bevor ihr hier her kamt? Ich kann es! Ich war der Busfahrer. Bis zu einem gewissen Punkt kann ich mich an alles erinnern. An die Fahrt nach Dallas, mitten durch die Pampa und an die Passagiere.“, er reckte lässig die Hände nach oben und streckte einen Finger nach dem andern aus. „Der Langhaarige, das Pärchen, die Schwarze, der Soldat, der Typ mit der Brille, ich selbst…“, sieben Finger deuteten in die Luft und er sah den Briefträger an. „Aber an dich… Fehlanzeige.“
Billy meldete sich zu Wort, während sich Harold langsam nach dem Bündel unter dem Sitz bückte. „Überfall auf einen Bus am Stadtrand von Dallas: Ein Linienbus wurde gestern mittels einer selbstgebauten Fahrzeugmine von der Straße geschleudert. Anschließend wurden die Überlebenden des Unglücks aus nächster Nähe erschossen. …Bla, bla, bla… Der Täter, ein geistig verwirrter Briefträger, richtete sich nach dem Blutbad selbst. Insgesamt starben acht Menschen (den Täter eingeschlossen). Diese Zeitung ist von morgen! Harold, kann es etwa sein, dass wir wegen dir hier sind? Sind wir DEINE Geister?“ Die letzten Worte sprach er voller Entsetzen. Dann sah er auf und wollte grade noch etwas anfügen, doch was er sah, raubte ihm vor Überraschung den Atem. Harold hatte das Bündel ausgepackt. Er hatte offenbar befunden, dass es an der Zeit war. Der Inhalt war eine abgesägte Schrotflinte. SEINE Schrotflinte. Nun wusste Harold wieder alles. Alles, was er getan hatte. Dass er die Bombe der Marke Eigenbau mit Flüssigsprengstoff befüllte, den er selbst angemischt hatte; dass er neben der Interstate nach Dallas im Straßengraben lag und wartete; dass er den Zünder betätigte, als der Bus direkt über der Bombe war; dass er kam, als die Bombe detonierte; dass er immer noch sexuell erregt war, als er die überlebenden Insassen umlegte, die aus den Fenstern geschleudert wurden. Der Busfahrer war der letzte, das wusste er noch tief im Hinterstübchen. Was danach kam, wusste er nur, weil Billy die Zeitung zitiert hatte.
Harold schoss auf den Soldaten, noch ehe dieser Gegenmaßnahmen einleiten konnte. Zwölf kleine Eintrittswunden spickten seinen Brustkorb und er kippte nach hinten um. Zeitungsschnipsel flatterten durch die Luft.
Der Postbote lud nach, doch der Busfahrer im Flanellhemd war bereits über die Sitze hinweg auf ihn zu gesprungen. Eine akrobatische Leistung, mit der keiner von beiden gerechnet hätte. Der Angreifer packte ihn an der Waffe und rammte ihn mit voller Wucht in Richtung Windschutzscheibe. Dabei löste sich ein weiterer Schuss, der die Scheibe zum zersplittern brachte. Keiner der Männer konnte noch rechtzeitig reagieren und abbremsen und so stürzten beide hinaus in den Schlamm und die hernieder rieselnde Asche. Harold landete ein Stück von dem Busfahrer entfernt und hatte dadurch genügend Zeit zum Nachladen und Feuern. Drei zerstörerische Schüsse trafen den Mann, der sich grade zu einer erneuten Nahkampfattacke aufbäumte. Der letzte Schuss zerfetzte ihm - unter anderem - die Hauptschlagader und ließ ihn tot im Lichtkegel der Scheinwerfer niedersinken.
Die Munition war leer und es war nicht überstanden. Ein letztes Mal spielte das kaputte Radio diesen einen Song, den Harold mittlerweile um das Bisschen brachte, was sein kranker Verstand war. Oder war sein Verstand nur infiziert? Er krabbelte schwerfällig durch den Matsch und während dem Finale des Liedes „I don't want to set the world on fire. I just want to start a flame in your heart.”, schlängelten sich dutzende armdicke Maden aus dem Boden und stürzten sich auf den letzten Überlebenden. Ihre spitzen, schwarzen Zähne gruben sich in seine Augenhöhlen, zerrten die Augäpfel heraus, verspeisten sie in wohliger Wonne. Eine der schleimigen Maden fraß sich währenddessen langsam durch den Gehörgang. Die Finger verlor Harold einzeln und nacheinander. Dann waren die Weichteile dran, sowie der leckere Knorpel unter den Kniescheiben. Er wand sich und kreischte mit heller Stimme, während sein Fleisch bei lebendigem Leib bis auf die Knochen abgenagt wurde. Der sanfte Ascheregen verebbte, als nur noch sein Skelett übrig war.
…
Frau Doktor Lindsburgh führte das fünfköpfige Komitee durch die breiten, sauberen Gänge der Anstalt und klapperte alle Zellen ab. Die weiß gekleideten Komiteemenschen kritzelten irgendetwas auf ihre Notizblöcke und ließen sich von Doktor Lindsburgh jeden Fall im Sanatorium schildern. Sie tat das gerne, bekam sie doch immerzu die ganz harten Fälle und war darauf auch ziemlich stolz. „Unser nächster Fall ist äußerst interessant.“ merkte sie im Plauderton an und verharrte vor einer Panzertür mit Guckloch. „Diese Art der Therapie ist neu.“ Sie unterschlug dabei, dass der Patient um diese Form der künstlerischen Therapie gebeten hatte. Sich ein wenig mit fremden Federn zu schmücken konnte ja nicht schaden. Sie ließ jeden Mal durch das Guckloch schauen.
Drinnen saß ein hagerer Mann mit lückenhaftem Dreitagebart, an seinem Basteltisch und kicherte leise. Das Radio spielte „I Don't Want To Set The World On Fire“ von den Ink Spots. Was auch sonst? Über ihm, auf einem langen Board stehend, thronten seine Werke, neunzehn an der Zahl. Es waren Schneekugeln in denen Asche statt Schnee fiel und jede Einzelne enthielt ein verheerendes Ereignis als Diorama. Eines hatte als Motiv die brennenden Twin Towers, ein weiteres war Charles Mansons Haus und eines – sein größtes bisher – war dem Konzentrationslager in Auschwitz gewidmet. Diese Liste lies sich weiterführen bis zu seinem neusten Schatz, welches hier auf dem Basteltisch stand. Ein alter Greyhound-Bus. Er hatte davon in der Zeitung gelesen.
Er sah zum Guckloch hinüber und betrachtete Frau Doktor, sowie ihre fünf gaffenden Begleiter. Er konnte nicht hören was sie redeten. Dann zogen sie weiter.
„Er nennt sich selbst den „Seelensammler“.“, sagte Dr. Lindsburgh. „Reizend nicht? Aber so tut er wenigstens niemandem mehr weh.“, sie grinste und führte das Komitee weiter.
Der Mann hinter der Panzertür streichelte derweil seine letzte Schneekugel und grinste manisch. Er schüttelte sie ein weiteres Mal – Speichelfäden troffen von seinem Kinn, während er das tat – und stellte sie wieder hin; glotzte begeistert lachend hinein. Und während die Ascheflocken ein weiteres Mal auf den Bus hernieder schwebten, war es erneut Harold, der als Erster aufwachte.