- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Der große Auftrag
"Wie lautet unser Auftrag?" fragte Roisin. Mit dieser Frage begann die klein und zerbrechlich wirkende Irin mit den kupferroten Haaren die Missionsbesprechung.
"Es sieht so aus, als wenn wir wieder ein paar aufrührerische Zivilisten mit eigener Meinung auslöschen sollen." erwiderte Juven, der hünenhafte Veteran und Anführer des Teams "RJR". "Die Gegend ist als besonders arm bekannt. Während eine kleine Elite in unglaublichem Wohlstand lebt, muss die Mehrheit jeden Tag ums Überleben kämpfen. Natürlich entsteht in so einer Lage irgendwann Widerstand. Den sollen wir zumindest zum Teil brechen.
Die meisten Probleme gibt es in einer Stadt namens 'Kantonin'. Unser Einsatzgebiet umfasst einige Hochhäuser, die nach Meinung unserer Auftraggeber besser unbewohnt sein sollten. Die Häuser sollten wir stehen lassen, aber um die Wohnungen brauchen wir uns keine Gedanken machen. Wenn wir unseren Job gut machen, können wir mit weiteren Aufträgen rechnen."
"Ein Armenviertel...", sagte Roisin nachdenklich, "Das hatten wir doch schonmal, Juven."
"Du hast recht. Die waren ganz schön widerspenstig", spottete Juven.
"Widerspenstig?", wiederholte Roisin leise, "So kann man das auch nennen." Sie kann nach all den Jahren im Team immer noch nicht verstehen, warum Juven sich manchmal über ihre Opfer lustig macht. Für sie hat das Söldnerdasein immer noch etwas Absurdes. Roisin diente einige Jahre beim Militär, wurde aber wegen Drogenbesitzes und einiger Schlägereien unehrenhaft entlassen. Bis Juven sie rekrutierte war sie passionierte Gärtnerin. Wie er sie überreden konnte, die Gartenarbeit aufzugeben ist ihr bis heute schleierhaft, doch bereut hat sie bisher nichts.
Währenddessen schaute Razor verstohlen zu Roisin hinüber. Ihre ständigen Zweifel trieben ihn fast in den Wahnsinn. Ganz zu schweigen von ihrer Schwäche für extravagante Kleidung: Ob Hitze oder Kälte, immer hatte sie einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug an. Roisin behauptete einmal, dass die dunkle Kleidung ihren blassen Teint und die roten Haare betonen. Razor hätte bei dieser Bemerkung am liebsten laut gelacht, blieb aber ruhig. Aus gutem Grund: Das "Team RJR" war in den letzten Jahren sehr erfolgreich, spülte also viel Geld in seine oftmals leeren Taschen. Und das brauchte er, um es zunehmend für Alkohol und Zerstreuung zu verpulvern.
"Weil eine hohe Mauer die Stadt umgibt, ist es am besten, wenn wir so direkt wie möglich in unser Zielgebiet einfallen. Die Zielpersonen befinden sich ghetto-typisch am Außenrand der Stadt, fast direkt an der Stadtmauer. Wir machen kurzen Prozess und verschwinden so schnell es geht. Natürlich schlagen wir erst nach Sonnenuntergang zu."
"Und mit wieviel Personen müssen wir rechnen?" fragte Roisin.
"Nach Angaben unseres Haupt-Auftraggebers werden wir wohl mit 160 bis 200 Leuten rechnen müssen, also viel mehr als sonst. Wenn wir schnell genug sind, werden die meisten allerdings kaum Widerstand leisten können." Juven hielt kurz inne. Selbst ihm war nicht ganz wohl bei dem Gedanken, so viele Menschen einfach umzubringen. Dabei waren ihm ähnliche Situationen nicht neu. Vor seiner Zeit als Söldner war er Soldat und konnte in vielen Krisenregionen Erfahrungen sammeln. Nach zwanzig Jahren braver Gefolgschaft wollte er endlich selbst bestimmen, wie eine Mission verläuft.
"Wenn wir die Stadtmauer überquert haben müssen wir einfach nur zwei Kilometer dem Verlauf einer Straße direkt vor uns folgen. Dort befinden sich an einer mäßig befahrenen Kreuzung vier Häuser, die geräumt werden sollen.
Hier die Details: Roisin hält an den jeweiligen Hauseingängen Wache, während ich und Razor uns jedes Haus einzeln vornehmen. Wir begeben uns möglichst unauffällig in den obersten Stock. Dort öffnen wir jede Tür mit meinem Schlosschirurg." An dieser Stelle hält Juven kurz inne, um sich innerlich für sein Spezialwerkzeug zu loben. Er hat es selbst entworfen und gefertigt. Obwohl das Gerät praktisch das Schloss herausbricht ist es schnell und erzeugt es keinen Lärm. Monatelang hat er getüftelt, um den Geräuschpegel zu reduzieren.
"Ja, Juven. Ist gut. Wir wissen, dass dein Schlosschirurg ein Meilenstein der Einbruchstechnik ist", sagte Roisin und verdrehte die Augen.
"Gut, gut!" maulte Juven. "Also: Wir dringen in die Wohnungen ein und benutzen überall hochwirksames Gas. Wir müssen schnell sein, sonst gibt es Geschrei.
Wenn wir alle Wohnungen durch haben, gehen wir nochmal von unten nach oben und suchen nach Überlebenden. Was mit denen geschieht, könnt ihr euch sicherlich denken. Und falls irgendwas richtig schief läuft, dann gibt's großes Kino mit Roisin."
"Darf man fragen, wer unser Auftraggeber ist?" unterbricht Razor die beiden.
"Der Bürgermeister von Kantonin steckt hinter dem Auftrag. Das Ganze soll nach einem Terroranschlag aussehen. Er wird sich danach als Retter aufspielen und kann seine Macht besser entfalten... Mir soll's recht sein."
"Und wieso kann der Mann nicht selber für Ordnung sorgen?"
"Genaues weiß ich nicht. Die Stadt hat natürlich eine eigene Polizei. Die ist aber wenig korrupt und relativ unabhängig vom Bürgermeister. Da müssen halt Leute von außerhalb 'ran."
***
Roisin verlässt den Fahrerplatz und setzt sich nach hinten. Seit einer halben Stunde ist die Sonne untergegangen. Um mit dem Wagen nicht gesehen zu werden sind die Frontscheinwerfer ausgeschaltet. Razor übernimmt, fährt noch ein paar Meter und bleibt parallel zur etwa dreihundert Meter entfernten Stadtmauer stehen. Roisin holt aus einer großen Tasche ein Scharfschützengewehr hervor, dass sich vor allem durch gute Schalldämpfung auszeichnet. Sie springt neben den Wagen, um nicht gesehen zu werden und zielt auf den oberen Rand der etwa fünfzehn Meter hohen Mauer. Durch ihr Zielfernrohr beobachtet sie das Geschehen.
"Alle dreihundert Meter sind mannhohe Absperrungen errichtet. Die Wachen in einem Bereich können also Wachen in anderen Bereichen nicht sehen", erklärt Roisin. "Wahrscheinlich bauen sie auf guten Funkkontakt. Direkt vor uns sind... fünf Wachen."
"Gut. Knips ihnen das Licht aus", befiehlt Juven. Roisin zielt: Zuerst auf die Wache am linken Rand. Drückt ab, wandert mit Routine nach rechts. Nach wenigen Sekunden sind alle Wachen erledigt. Nur der Letzte merkt, dass etwas nicht stimmt, kann sich aber nicht rechtzeitig wegducken.
Juven, der mit einem Fernglas alles mitverfolgt hat, ist sichtlich erfreut: "Gute Arbeit, Roisin. Jetzt kann es richtig losgehen."
Sie müssen den Überraschungsmoment für sich nutzen. Schnell springt Roisin in den Wagen. Während sie die letzten Meter zur Mauer überwinden, statten sich die Kämpfer mit allerlei Waffen und Granaten aus. Kurz vor der Mauer bedecken sie den Wagen mit einer tarnenden Abdeckplane. Sie müssen den Wagen zurücklassen, brauchen ihn aber noch zur Flucht. Niemand soll ihn vorher finden. Unbemerkt überqueren sie innerhalb weniger Minuten die Mauer.
***
Das Bild, das sich ihnen hinter der Mauer bietet, ist eine unangenehme Überraschung. Vor ihnen liegen verwahrloste, graue Betonklötze. Auf den baufälligen, schlecht beleuchteten Straßen liegt viel Müll herum. Erst in einigen hundert Metern Entfernung sind vereinzelt Menschen zu sehen.
"Gehen wir los, Leute!", sagt Juven aufmunternd. "Je eher wir anfangen, desto schneller können wir von hier verschwinden."
Wenige Minuten später erreichen sie die Kreuzung an den Hochhäusern. Anspannung macht sich breit. Mit finsteren Mienen betreten Juven und Razor das erste Haus, Roisin hält aufmerksam Wache. Mit flackerndem Deckenlicht bringt ein Fahrstuhl Juven und Razor in das oberste Stockwerk. Juven zückt sein Spezialwerkzeug, Razor hält Gas bereit, beide setzen Atemschutzmasken auf. Oben angekommen halten sie kurz inne, konzentrieren sich, machen sich Mut.
Geräuscharm nach Plan vorgehend dringen sie in die Wohnungen ein und löschen jedes Lebewesen aus. Nachdenken ist nicht gefragt.
Nach zwanzig Minuten sind sie unten angekommen, hetzen ohne Pause erneut nach oben, diesmal die Treppen benutzend, und halten nach Überlebenden Ausschau. Mit dem Fahrstuhl fahren sie nach unten. Endlich können sie ihre Schutzmasken wieder abnehmen und treten auf die Straße.
Roisin wartet bereits ungeduldig.
"Wie war's bei dir?" fragt Razor, der so aussieht, als wenn er sich gleich übergeben müsste.
"Habt ihr nicht in den Hausflur geschaut?" Verdutzt werfen Juven und Razor einen Blick zurück in den Hausflur. Abseits vom Fahrstuhl liegen unordentlich gestapelt mehrere Leichen.
"Okay, Roisin. So weit, so gut. Ab jetzt wird es schwerer", stellt Juven fest, "Wir verrammeln hier die Haustür, verschwinden durch ein Fenster im Erdgeschoss und nehmen uns das nächste Haus vor. Wahrscheinlich müssen wir sehr bald mit Polizei rechnen. Um die musst du dich erstmal allein kümmern. Je nachdem, wie gut du dich hältst, gehen wir entweder vor wie bisher oder verschwinden."
"Okay. Ich geb' mein Bestes." Die Söldner bereiten sich wie besprochen auf das nächste Haus und stürmen es. Auch hier ist ein Fahrstuhl. Juven und Razor setzen erneut ihre Masken auf und führen ihren bezahlten Feldzug fort. Nach zehn Minuten hält Razor an. Er braucht eine Verschnaufpause. Obwohl sich die körperliche Anstrengung für seine Verhältnisse bisher in Grenzen hielt scheint Razor erschöpft, kniet auf dem Boden.
Tatsächlich hat ihn jedoch das Grauen gepackt. Im Geiste rechnet er bei jeder Wohnung, wieviele Menschen gerade gestorben sind. Juven nutzt die Pause, um Roisin zu kontaktieren: "Wie geht es dir da unten?" fragt er. Die Verbindung ist schlecht.
"Hatte ... zwei Polizisten. Die liegen ... Flur. ... hoffe, dass wegen denen nicht Verstärkung kommt."
"Okay. Halte weiter die Stellung. Wir haben das halbe Haus durch und sind in ein paar Minuten unten."
"... klar, Juven. Bis dann!"
***
Plötzlich fallen Schüsse über Juven und Razor.
"Razor, schnell!" ruft Juven und ist im Begriff zu fliehen als ihm auffällt, dass er sich nicht bewegt.
"Razor?"
Stille.
Razor kippt um. Erst jetzt wird sichtbar, dass ein Schuss ihn am Kopf getroffen hat. Reglos liegt er am Boden. Juven ist bestürzt; Sein Körper verkrampft sich. Er atmet flach.
Nach wenigen Sekunden ist der erste Schreck vorbei. Er nimmt seine Maske ab, beugt sich über Razor und fühlt seinen Puls. Nichts. Juvens Miene verfinstert sich. Seine Mundwinkel verziehen sich nach unten. Seine Augen füllen sich mit Tränen. Seine Erfahrungen haben ihn vieles gelehrt, aber nicht den Umgang mit dem Tod eines langjährigen Freundes. Aber noch ist keine Zeit zum Trauern.
Er rafft sich auf, schleicht langsam nach oben und versucht sich möglichst gut zu decken. Nach wenigen Metern kann er den Schützen sehen. Zusammengekauert liegt er röchelnd in einer Ecke des Flurs. Seine Waffe liegt neben ihm. Er trägt zwar eine Atemmaske, aber Juven sieht auf den ersten Blick, dass sie nur unzureichend Schutz bot. Das Sterben kann sich bei solch einer Maske über einige Minuten hinziehen. Schnell gibt Juven ihm den Gnadenstoß, eilt zurück zu seinem toten Kameraden und kniet sich neben ihn. Für einige Sekunden harrt er aus, als wenn er auf etwas warten würde. Wieder rollen bittere Tränen, die diesmal auf Razors Jacke laufen. Juven hat sich kaum noch unter Kontrolle.
Durch die Schüsse alarmiert meldet sich ein Bewohner zu Wort: "Was macht ihr da oben für einen Krach! Könnt ihr mal ruhig sein? Ich will schlafen, verdammt!" Einige Bewohner kommen die Treppen hochgelaufen, um zu sehen, was passiert ist. Nur noch wenige Sekunden und alles fliegt auf. Langsam bemerkt auch Juven, dass ihm in Kürze Ärger droht. Endlich rafft er sich auf und jagt mit gezückten Waffen die Treppen herunter; Schießt auf alles, was er sieht.
"Wegen euch kann ich meinen besten Freund nicht mitnehmen!" ruft er ständig mit donnernder Stimme, als wären die Bewohner an Razors Tod schuld. Er kennt keine Gnade. Erst im Erdgeschoss kommt er wieder zur Ruhe. Über ihm hört man die Schreie der Sterbenden und Verletzten.
Nur ein Stockwerk fehlt bis zum Ausgang, aber aus irgendeinen Grund verlässt ihn hier der Mut. Er fühlt sich hilflos. Wie Hammer schlagen die Erinnerungen an die letzten Minuten auf ihn ein, zwingen ihn in die Knie. Juven benutzt trotz der lächerlichen Entfernung zwischen ihm und der Haustür sein Funkgerät.
"Roisin? Kannst du mich hören?" Es ist sehr laut am anderen Ende. Man hört Schreie, aber Roisin meldet sich nicht. "Roisin!! Melde dich!"
***
Juven ist starr vor Angst. Roisin meldet sich nicht, also muss etwas vorgefallen sein. Bevor er nach draußen laufen kann, um Roisin zu suchen, erschüttert eine Explosion den Boden. Die Eingangstür gibt nach und fällt ins Haus.
Nachdem sich die Rauchschwaden verzogen haben, rennt Juven mit bösen Vorahnungen und gezogenen Waffen hinaus auf die Straße.
Vor ihm liegt ein zerstörter, brennender Polizeiwagen; Im näheren Umkreis stehen weitere Wagen in Flammen. Nur wenige Meter von ihm entfernt bemerkt er Roisin. Sie liegt am Boden; Ihre Kleidung ist zerfetzt, die Haare pechschwarz. Schon von Weitem kann man erkennen, dass keine Hoffnung für sie besteht.
Juven ist völlig am Ende. Die Mission ist ein Desaster. Ausdruckslos starrt er auf Roisin, unfähig, sich zu bewegen. Polizisten stürmen herbei, stürzen sich auf ihn und führen ihn ab. Er leistet keinen Widerstand, kann aber den Blick nicht von Roisin abwenden. Wieder füllen sich seine Augen mit Tränen.
"So war das nicht geplant... So war das wirklich nicht geplant...", flüstert er kleinlaut, bevor er in ein Polizeiauto verfrachtet wird.