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Der große Tag

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03.07.2001
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Der große Tag

Nur noch zwei Monate, dann würde er diesen engen Raum das letzte Mal sehen. Das letzte Mal aus diesem engen Fenster die Sonne suchen, das letzte Mal das Essen des Wärters entgegennehmen, das letzte Mal den Regen auf dieses Flachdach prasseln hören, das letzte Mal diesen netten Geistlichen das Evangelium lesen hören, das letzte Mal auf dieser harten Matratze liegen, an die er sich so lange gewöhnen musste. Er hatte Angst: Er hat oft darüber nachgedacht, wie es sein wird, wenn es erst einmal so weit ist. Wie stark wird er sein? War er bereit dazu?
Er schaut aus dem beschlagenen kleinen Gitter-Fenster. Der Schnee taut weg. Der schöne weiße Schnee... Hatte er das letzte Mal hier in diesen Räumen Weihnachten gefeiert? Die Zeit vergeht so schrecklich schnell. Es ist, als wäre es gestern gewesen, als sie zusammen gegessen haben, gefeiert und gesungen haben, alle Häftlinge. Aber er hatte nicht mitgesungen. Er hatte keinen Grund dazu... Als Kind, das war etwas anderes. Er war im Kirchenchor, er kannte damals über dreißig Weihnachtslieder auswendig. Weihnachten, das war immer das Größte in seiner Kindheit gewesen. „Ihr Kinderlein kommet...!“ Tja... Nein, aber er hat dieses letzte Mal nicht mitgesungen. Und jetzt bald beginnt schon die Fastenzeit.
Die Zeit vergeht am Ende immer so rasend schnell. Als er vor fünf Jahren hier hereinkam, da war es ihm, als würden die Zeiger der Uhr rückwärts laufen, und jetzt auf einmal waren sie nicht mehr aufzuhalten. Es geht alles so schnell, denkt er sich. Fastenzeit... Fastenzeit... Die letzten fünf Jahre habe ich gefastet, Opfer gebracht, zu mir selber gefunden... Was sollte er jetzt noch fasten? Gründonnerstag war es so weit, der „große“ Tag! Oh, Mann! Er hatte wirklich Angst. Er sieht es schon vor seinen Augen: Die Wärter werden kommen und seine Zelle aufschließen. Er wird schon vorher gewartet haben, bereit sein. Dann wird er sich von allen verabschieden, er wird sie alle nie mehr wiedersehen. Aber das tat ihm am wenigsten leid. Was ihn bedrücken wird, denkt er sich, ist der lange, folgende Weg, den er allein zurücklegen muss. Keiner von draußen würde ihn unterstützen, keiner. Und dann, wenig später, wäre er frei.
So in etwa muss sich jemand in der Todeszelle vorkommen. Er schmunzelte bei dem Gedanken. Nein, in der Todeszelle saß er nun wirklich nicht. Aber eine Hinrichtung wird es werden, an seinem „großen Tag“, wie Karl, sein Wärter, den Tag seiner Freilassung nennt. Eine Exekution ohne Henkersmahlzeit. Nach fünf Jahren... Und er wird allein sein.
Er erinnert sich, wie er hier hereingekommen ist. Als wäre es gestern gewesen... Alles wegen Karneval, wegen seiner Dummheit. Er hat sein Leben selbst zerstört. Nur sein eigenes? Er war ein Mörder. Rosenmontag... Er kann sich nicht mehr daran erinnern. Er war sturzbetrunken, und keiner hatte ihn am Fahren gehindert, keiner! War es denn seine Schuld? War er es in Schuld? Hatte er drei Menschenleben auf dem Gewissen? Er war so alkoholisiert, er konnte sich an nichts mehr erinnern. Aber nur eines wusste er: Keiner hatte ihn daran gehindert, zu fahren, keiner hat ihm die Schlüssel abgenommen. Er hatte es sich abgewöhnt zu weinen, wenn er daran dachte.
Sein Vater tat ihm leid. Er war damals schon Witwer. Und sein Einzelkind, gerade mit der Ausbildung fertig, ist Schuld an dem Tod einer halben Familie... Sein Vater hatte ihn jeden Tag besucht, trotz der Krankheit. Und jedes Mal merkte man, wie er seine Tränen unterdrückte. Doch irgendwann kam er nicht mehr. Er konnte nicht mehr kommen. Bei der Beerdigung war ihm klar, dass sein Vater noch Leben würde, wenn er sich um ihn hätte kümmern können. Aber wie? Die Beerdigung... Es war einer der schrecklichsten Tage seines Lebens... Die Sonne schien, und die Vögel sangen. Trotzdem war ihm schrecklich kalt. Hinter ihm zwei Beamten. Er konnte es ihnen nicht verübeln, sie taten nur ihre Pflicht. Wenigstens hatten sie ihm die Handschellen erspart. Er hatte sich so elend gefühlt damals. In den Augen seiner Verwandtschaft sah er die Vorwürfe. Keiner hatte ihm Beileid gewünscht. Drei Jahre war sein Vater jetzt tot... Damals hatte er nur noch Kathrin.
Kathrin hatte lange zu ihm gehalten. Zu lange, denkt er sich. Fast genau zwei Jahre vor dem Unfall hatten sie sich kennengelernt. Auf Karneval. Wieder muss er leise lachen. Sie war für ihn wie eine Erlösung, fast ein Mutterersatz. Ihre gemeinsame Zukunft hatten sie sich schon ausgemalt. Wenn sie mit dem Studium fertig wäre, dann würden sie ein Haus bauen. Es war damals sehr ins Blaue hinein, denn wo sollte das Geld herkommen? Aber das war egal, es war ja auch nur ein Traum, und in Träumen spielt Geld keine Rolle. Immer noch hat er großen Respekt vor Kathrin. Während der ganzen Verhandlungen hatte sie zu ihm gehalten, sie war seine einzige Hoffnung in den ersten Haftmonaten. Jeden Tag fieberte er damals den Besuchszeiten entgegen, wenn sie ihn besuchte, so weit es ihr Studium zuließ. Wie sich die Situation ändert! Jetzt weiß er gar nicht mehr, wann Besuchszeiten sind. Ein bedeutungsloses Wort für ihn, Besuchszeit.
Er schaut wieder raus, in die Landschaft, der reinste Schneematsch. Morgen ist es drei Jahre her, dass sein Vater beerdigt worden ist. Damals lag kein Schnee. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Seinem Vater hatte er so viel zu verdanken. Und als es ihm dann so schlecht ging, saß er hier in Haft, und konnte keinem helfen. Der Tod seines Vaters hatte ihn sehr berührt, er fühlt sich schuldig daran. Genauso wie an dem Tod der drei Menschen vor fünf Jahren. Er macht sich ständig Vorwürfe. Aber weinen kann er nicht mehr.
Kathrin hatte seinen Vater bis zum Schluss gepflegt. Sie ist ein wirklich guter Mensch. Aber eines Tages kam auch sie nicht mehr ins Gefängnis zu ihm. Stattdessen nur ein Brief. Der Brief musste kommen, es war nicht zu ändern. Jeden Tag hatte er Angst davor gehabt, und damals war es soweit. Es wurde zu viel für sie, und er verstand das. Fünf Jahre... Er liebte sie, und sie liebte ihn... Aber fünf Jahre Gefängnis, das konnte nicht gutgehen.
Bis heute hat er sie nicht vergessen. Wie sehr hatte er sich noch vor einem halben Jahr ausgemalt, wie schön es wird, wenn er sein Leben normal fortsetzen könnte, wie sehr hatte er sich auf den Tag der Freilassung gefreut, wenn Kathrin ihn erwartete. Als erstes wären sie zum Grab seines Vaters gefahren. Das hat er seit der Beerdigung nicht mehr gesehen. Und dann hätten sie gemeinsam gefeiert, gemeinsam getrauert. Aber er wusste schon immer, dass es bei einem Traum bliebe. Trotzdem: Er würde das Grab seines Vaters auch alleine besuchen.
Da, wo vor ein paar Monaten noch ihr Bild hing, da hängt jetzt ein Kalender. Nicht mehr lange, denkt er sich, gar nicht mehr lange, dann hat er es geschafft. Er hat Angst vor der Freiheit. Das, wonach er sich so lange gesehnt hatte, war zerplatzt wie ein Luftballon. Er sieht sich vor den Toren des Gefängnisses stehen: Keiner, der ihn abholt, keine Arbeit, kein Ort, wo er hin kann, keiner, der sich um ihn kümmert. Leere. Oh ja, viel mehr eine Lehre.
„Dein Essen, Junge!“ Karls Stimme schallte seiner Zelle entgegen.

Trotzdem! Trotzdem war er froh, dass er nicht in einer Todeszelle saß!

 

Und wieder ein kleines, individuelles Schicksal, ein Schmankerl für mich. Das Spiel mit den persönlichen Bedeutungen von Todesstrafe und Freiheit hat mir besonders gut gefallen. War er wirklich froh, nicht in der Todeszelle zu sitzen? Oder war es ihm egal? Ich halte das für ein rhetorisches Ende (und hoffe, dass es auch so angedacht war).
Stellenweise kann ich nichts Genaues mit deiner Wortwahl und deinem Satzbau anfangen

Er wird schon vorher gewartet haben, bereit sein
Aber ansonsten finde ich, hast du seine Empfindungen schon sehr eindringlich beschrieben. Auch wenn manche Passagen etwas Klischee-behaftet sind, so kommen die Gedankenspiele doch gut herüber. Übrigens gefallen mir Deine Themen bisher ausnahmslos gut. Freu mich auf Weiteres!

mit erfreuten Grüßen

 

Auch ich finde die Geschichte richtig gut. Ist schon unheimlich, daß ich heute so viele gute Storys lese... :rolleyes:
Gut beschrieben, genau richtige Länge... Ich hab überhaupt nichts zu bemeckern!

Griasle und weiter so!
stephy

 

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