Was ist neu

Der große Zeh

Mitglied
Beitritt
03.08.2003
Beiträge
491

Der große Zeh

Der große Zeh ragte aus dem Wasser und wies himmelwärts, ein Gebilde, so abgrundtief häßlich, dass ich trotz der wohligen Wärme des Solebades eine Gänsehaut bekam.
Ich umschwamm das Monstrum in weitem Bogen und nahm in der einzigen freien Nische am Beckenrand Platz.
Ein angenehmes Sprudeln kam von unten. Über mir grasten weiße Wolkenbüffel auf endlosen blauen Prärien und Manitu, der gute Geist, schwebte über den Wassern. Ich stellte mir vor, er wäre in allem – in dem Glitzern der Wassertropfen, in den Badelatschen am Beckenrand, in den planschenden Kindern, in dem Zeh, in den beiden Frauen neben mir, davon eine die Besitzerin des Zehs, die wie gestrandete Wale in ihren Nischen lagen ...
Da traf ein Satz wie ein Hammer mein Ohr und riss mich brutal aus meiner wohligen Stimmung heraus. Auf einmal empfand ich das Plätschern des Wassers nicht mehr als säuselig und angenehm sondern als störend. Man verstand ja kaum ein Wort.
Warum taugten deutsche Männer nichts? Das interessierte mich.
Der Zeh ließ das Wasser aufspritzen, als der Wal neben mir die Antwort gab.
„Die sind ja so was von laaaangweilig.“
Wieder peitschte der Zeh die Wasseroberfläche.
„Die gehen ja noch nicht mal fremd.“
Ich riskierte einen vorsichtigen Blick, aber meine Vorsicht war unbegründet. Die beiden Damen neben mir rekelten sich im Sprudelwasser des Solebades und beachteten mich nicht. Für ihr Alter hatten sie sich gut gehalten. Aber der große Zeh! Es war wie ein Zwang. Ich musste immer wieder hinsehen. Er war dick und fleischig, dazu von enormer Länge, die anderen Zehen daneben zu Kinderzehen degradierend. Der Nagel war rosa lackiert, eingerissen und hätte einen Schnitt vertragen können.
Wal Nummer zwei sagte: „Die türkischen Männer dagegen ...“ Und seufzte.
Ihre Freundin pflichtete ihr bei: „Du, als ich vor zwei Wochen in Antalya war – das war ein Traum. Die Männer da, die geben einem das Gefühl, irgendwie ... ja, als wäre man die schönste Frau der Welt.“
„Jaaaa“, seufzte die Freundin.
„Charmant, witzig – das sind Männer“, fuhr Wal Nummer eins fort. Platsch! Eine Fontäne spritzte auf und einige Tropfen blieben auf meiner Brille haften. Mist, das gab eine Salzkruste.
„Also dieser Mustafa – bei dem hatte ich wirklich das Gefühl, also dieses Gefüüühl ...“
„Ich weiß, was du meinst“, seufzte ihre Freundin wieder.
„Und dabei nimmt man doch in Kauf ... also ich bin ja nicht blöd ... dass sie sich nur verstellen. Na ja, aber dieser Mustafa ... überhaupt, ich glaube die Männer da können sich so in das, was sie sagen, reinsteigern, dass sie wirklich in dem Moment daran glauben. Südländer eben.“
„Jaaaa...“ Seufzen.
„Im Herbst fahr ich wieder hin.“
Wie das Periskop eines U-Bootes erschien nun der andere Zeh, das Auftauchen des zweiten Fußes ankündigend und ich floh. Was wohl Mustafa zu den Zehen sagt? Wahrscheinlich ist er Zehenfetischist.

 

Hi Sturek,

nette Geschichte. Ich habe mich richtig mitgeekelt vor diesem großen Zeh. Du schreibst sehr anschaulich, es lässt sich gut lesen und man kann sich prima reindenken in den armen Jungen :)
Wie oft hört man nicht unfreiwllig Gespräche mit an, bei denen man weghören sollte, es aber nicht kann/will. Die ständige Hinwendung zum großen Zeh ist dir gut gelungen, beim Lesen musste ich immer dran denken, wie der aus dem Wasser ragt - unangenehm.

Trotzdem hätte ich mir ein bisschen mehr Inhalt gewünscht - Das Gespräch zwischen den Walen ist an und für sich sinn- und nutzlos - wie so oft, wenn man irgendwo eine Unterhaltung zwischen fremden Leuten mitbekommt. Ich gehe mal davon aus, dass du einen Gegensatz schaffen wolltest zwischen dem hässlichen Zeh (= hässliche "Wal"frauen) und dem Gespräch beider über ihre Schönheit, die hier in Deutschland wohl nicht recht gewürdigt wird (um es mal vorsichtig auszudrücken :D ) Dafür reicht's dann doch aus und ringt mir auch einen Schmunzler ab.

Insgesamt aber dennoch gern gelesen
liebe Grüße
Malachy

 

Hi Sturek,

eine schön verfasste Geschichte hast du da. deine Beschreibungen von der Umgebung und den Walen gefallen mir gut. Man hat das Gefühl zwischen dir und den Walen zu sitzen und das Geschehen unbemerkt zu beobachten.

Hat Spaß gemacht zu lesen.


mit Freundlichen

Mort

 

Hallo,

danke fürs Lesen und Kommentieren. :)

Ja, es stimmt, der Inhalt ist nicht besonders schwergewichtig, um es mal vorsichtig zu formulieren. Ich bin aber der Meinung, es muss auch solche Geschichten geben. Ich habe tatsächlich durch Zufall diesen Dialog gehört (ok, ok, ich habe gelauscht ;) ) und fand ihn so niedlich, dass ich spontan beschloss, eine Geschichte daraus zu machen. Also habe ich mir diese Rahmenhandlung mit dem Zeh ausgedacht.
Auf keinen Fall wollte ich die Story künstlich aufblähen.

@ Malachy:
Ich sehe, du hast dich schreibend an den Inhalt der Story herangetastet. Genau das war meine Absicht. Nebenbei werden interessante Aspekte der weiblichen Psyche beleuchtet. Diese geniale Fähigkeit zur Selbsttäuschung...

@ Marius Manis:
Wie gesagt, ich wollte die Story nicht unnötig in die Länge ziehen.

@ Mort Fossili:
Freut mich, wenn du Spaß an den Beschreibungen hattest.

Grüße
Sturek

 

hallo sturek,

ja, das ist eine nette kleine geschichte. zwar ohne viel inhalt/ ohne synthese, aber nett geschrieben.

ich hab sie gern gelesen

bis dann

barde

 

Hallo Barde,

danke auch für deine Meinung.
Ich bin mir nicht sicher, was du mit Synthese meinst.
Für mich war der Inhalt der Kontrast zwischen dem Dialog und der Wirklichkeit, wie sie durch die Rahmenhandlung zum Ausdruck kommt.

Grüße
Sturek

 

"Ich bin mir nicht sicher, was du mit Synthese meinst."

als synthese spreche ich das ergebnis als teilmenge des inhalts an. in der geschichte werden zwei verschiedene männertypen besprochen, und der erzähler belauscht sie.
das ende der geschichte bringt kein ergebnis - kein resumee des zuhörers.
oder noch deutlicher, der protagonist gibt keine wertung zum inhalt des gesprächs ab.

das ist in deiner geschichte sicherlich nicht negativ - ich finde, das gespräch der wale darf im raum stehen bleiben! *smile*

 

Hallo Sturek,

Viel Neues kann ich nicht sagen. Nur soviel: mir hats gefallen, Du hast einige schöne, gutausgearbeitete Bilder darin (Zehenthema, Wolkenbüffel ...), und schreibst kurzweilig (auch von der Wortwal her) und angenehm. Klar muss es auch solche Geschichten geben, eben mal ein Happen für zwischendurch, kurz und gut geschrieben.

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Maus und Barde,

@ Barde:
Aha, so war's gemeint. Ich sollte mich wohl mal etwas mehr mit der Theorie des Erzählens beschäftigen. Der Erzähler zieht eigentlich durch seine Flucht und seine Gedanken am Schluss ein gewisses Resumee, das kommt aber wohl nicht so raus. Aber wie du schon sagtest, muss es auch nicht.

@ Maus:
Das Erfinden der Bilder hat mir auch am meisten Spaß gemacht. Schön, wenn's dir gefällt.

Grüße
Sturek

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom