Der Hängende Garten
DER HÄNGENDE GARTEN
“Creatures kissing in the rain
shapeless in the dark again
In the hanging garden, change your past
In the hanging garden, wearing furs and masks”
-The Cure, “The Hanging Garden”
Der Wagen meines Vater hält an. Ich blinzle in die Wintersonne hinaus, während er mir viel Spaß wüscht und ich verhalten nicke.
"Junge", sagt er. "Junge, mach mir keine Sorgen"
"Nein", wispere ich.
Ich steige aus, und es fühlt sich an, als würde der Himmel auf mich fallen. Der Gang über den mit plattgefahrenem Schnee bedeckten Parkplatz ist wie das Waten durch Wasser. Die anderen stehen schon an der Bushaltestelle und plaudern. Ich stelle mich mit eingezogenem Kopf hinter sie in die Ecke des überdachten Häuschens, ich versuche Augenkontakt herzustellen. Ab und zu blickt mich jemand an, aber sie drehen den Kopf schnell wieder weg und sehen etwas interessanteres als mich.
Der Lehrer kommt, grüßt in die Menge hinein und beginnt einen Plausch mit ein paar Schülerinnen. Kalter Wind sticht in meinem Gesicht und an meinen Händen. Der Lehrer blickt auf, sieht mich an, seine Augen weiten sich, beginnen zu erstarren. Ich
nicke schüchtern, und er blickt weg.
Im Bus sitze ich weit vorn. Ich höre Musik, aber versuche trotzdem wieder Augenkontakt aufzunehmen. Manchmal sieht jemand kurz her, aber niemand spricht
mit mir.
Es ist dunkel geworden, und wir sind am Ziel. Wolken verdecken den Mond, und so sehen wir fast nichts, als wir vor dem Hotel aus dem Bus aussteigen.
Die Klassenfahrt beginnt jetzt erst richtig, sagt jemand hinter mir. Jetzt wird gefeiert, jetzt wird Party gemacht.
Der Lehrer geht voran auf das helle Rechteck zu, hinter dem uns die luxuriöse, andere Welt entgegenleuchtet. Die Glamourwelt, die Partywelt. Ich gehe neben dem Lehrer, balanciere über das Eis, und kurz vor der Tür falle ich hin. Noch bevor ich auf dem Boden aufschlage, höre ich Gekicher hinter mir, und als ich dann am Boden liege und versuche, wieder aufzustehen, tritt mir jemand in die Seite. Ich stöhne und strecke die Hand aus, hoffe, das mir jemand aufhilft, aber Phillip, der Klassenrowdy, setzt sich auf meinen Rücken.
"Ich hab einen Elch! Einen kleinen, stinkenden, schwitzenden Elch!", ruft er triumphierend aus. Die anderen lachen. Der Lehrer ist bereits im Hotel und geht auf die Rezeption zu.
Ich will Phillip sagen, dass er ein Idiot ist und das so ziemlich der dämlichste Spruch war, den ich jemals gehört habe, aber ich bekomme keine Luft, obwohl ich schon längst auf der Bettkante meines Einzelzimmers sitze. Ich halte meine zerbrochene Brille in meiner Hand und klebe sie mit Tesafilm wieder zusammen. Als ich sie so gut wie möglich repariert habe, sehe aus dem Fenster. Die Bäume des nahen Waldes wanken wie angeschossene Soldaten, die vom Schlachtfeld weghumpeln. Der Mond lugt zwischen den Wolkenfetzen hervor.
Die Luft draußen vor dem Hotel schneidet durch meinen Hals wie eine Rasierklinge. Ich schlucke hart, und drehe mich zu dem Gebäude um. Vereinzelt brennen Lichter in den Fenster, und dahinter sehe ich Gestalten mit Gläsern und Zigaretten, die miteinander reden und ab und zu auflachen. Sie sitzen auf Tischen, Stühlen, Betten und manchmal auch auf dem Schoß eines anderen. Dann drehe ich mich um und gehe über die Straße, kämpfe mich einen zentimeterdick mit Schnee bedeckten Hügel hinauf und schreite in den Wald hinein.
Im Wald ist es ganz still und dunkel. Nichts zirpt oder singt, nichts rührt sich. Nur wenn ich selbst mich bewege, höre ich das Knirschen des Schnees. Ich spüre die Kälte, die in meine Glieder fährt und meine Adern in Eiszapfen verwandelt, die bei meinen Bewegungen brechen. Meine Lippen und Ohrläppchen sind taub, und meine Lunge fühlt sich an, als würde ich Nägel atmen. Die Ruhe hier ist perfekt. Ich quäle mich durch den hohen Schnee, zwischen die Bäume hindurch. Der Vorgang des Gehens, das Stapfen durch den Schnee, automatisiert sich allmählich, und so nehme ich ihn nicht mehr wirklich wahr. Das ist auch der Grund, warum ich nicht merke, dass der Boden unter mir dünner wird.
Erst, als der Boden einbricht, wird meine Seele wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins gerissen. Als ich aufschlage, denke ich zuerst, dass ich tot bin. Aber als ich meine Lungen und mein Herz in meiner Brust werkeln fühle, fühle ich, dass ich noch lebe. Ich schüttele den Kopf und versuche, mich umzusehen. Es ist dunkel hier unten, dunkel und schwül, aber ich bin zu überrascht, um Angst zu haben. Mein logisches Denkvermögen allerdings sagt mir sehr wohl: Hier unten wird mich nie jemand finden.
Ich rapple mich auf und taste vorsichtig umher. Die Höhle scheint groß zu sein, und erst, als ich ein paar Schritte nach vorne wanke, realisiere ich, wie mörderisch die Hitze hier unten ist. Ich taste mich voran, vorsichtig, aber nicht verängstigt. Ich merke, dass die Höhle enger wird, ich gehe eine Art Gang entlang. Die Luft ist dick und heiß, sie fühlt sich in meinen Lungen wie Erdöl an. Schweiß bricht aus allen meinen Poren, ich ziehe die Winterjacke und den roten Wollpullover aus, den meine Mutter letzten Winter für mich gestrickt hat. Meine Mutter... was wird sie denken, wenn sie mein Lehrer anruft um ihr mitzuteilen, dass ihr erstgeborener Sohn verschwunden ist? Nein, ich möchte nicht hier unten sterben. Ich muss hier raus, bevor ich ersticke und meine Leiche verfault und ich damit im Frühling die Bäume über mir dünge.
Je weiter ich mich vortaste, desto heißer wird es. Ich irre seit einigen Stunden hier unten herum, mal biege ich rechts ab, mal links. Inzwischen bin ich zu sehr in die Situation vertieft, um Angst zu haben.
Mir ist klar geworden, dass irgend jemand dieses Tunnelsystem angelegt haben muss, denn die Natur würde niemals etwas so koordiniert Konstruiertes zustande bringen. Möglicherweise bauen die Gemeinden solche Tunnel, um Wasser abfließen zu lassen. Aber davon habe ich noch nie etwas gehört, und außerdem erscheint mir dieser Gedanke als kompletter Unsinn.
Gerade, als sich die Luft in meinen Lungen wie Blei anfühlt, sehe ich ein Aufflackern von Licht. Ich quäle mich weiter vor, und erkenne, dass es tatsächlich eine Art Ausgang gibt. Ich gehe schneller, ich laufe, und falle hin - unter mir befindet sich eine Stufe. Ich stehe auf und schreite eine Treppe hinauf und aus der Höhle heraus auf eine Art Balkon. Das Licht blendet mich, aber meine Augen passen sich schnell an.
Dann sehe ich es: Unter mir befindet sich ein gigantischer Garten im Inneren einer größeren Höhle. Dunkelgrüne Gräser, riesige, schief stehende Bäume, dunkelbraune, gebogene Äste. Es scheint mir, als versteckten sich in den Büschen Scheinwerfer, denn ich kann kein Licht an der Decke des Höhle sehen. Überhaupt scheint nur der Boden des Gartens erleuchtet, alles andere liegt im Dunkeln, sogar die Kronen einiger Bäume kann ich nicht mehr erkennen.
Ich keuche erleichtert auf: Hier fühlt sich die Luft dünner, aber nicht kühler an.
Ich weiß nicht, wie ich die Situation einschätzen soll: Hier stehe ich jetzt, meterweit unter der Erdoberfläche auf einer Art Balkon, und eine Ebene unter mir liegt ein riesiger, unheimlicher, wilder Garten.
Als ich die Seile sehe, die an den Seiten des Gartens zur Decke ragen, saugt sich mein Kopf weiter mit Spekulationen, Ängsten und Hoffnungen voll.
Jemand hat diesen Garten über einer riesigen Schlucht unterhalb der Erde gespannt. Die kochend heiße Luft lässt die Gräser scheinbar flirren, und ich wünsche mir, ich wäre niemals weggelaufen.
Geschlagene zehn Minuten stehe ich da und betrachte den Garten. Den Hängenden Garten. Die Luft riecht nach Blattwerk und Tierfell.
Etwas, das sich irgendwo im Garten versteckt, beginnt zu schreien. Möglich, dass es ein Mensch ist, aber wenn, dann hat er jeden Sinn für Menschlichkeit verloren. Ein zweiter Schrei mischt sich mit dem ersten.
Blätter rascheln.
Ich atme laut aus.
Ein Tier, dass wie ein grausam entstellter Pavian aussieht, springt schreiend aus einem Busch hervor und kreischt mich an, während er mit seinen krummen Beinen auf dem Boden aufsetzt. Er kreischt weiter, ich blicke in seine verzerrte Fratze. Seine Arme heben sich, zucken in der Luft, und dann, während ich erschrocken nach Luft ringe, dreht er sich blitzschnell um und verschwindet im Blattwerk.
Ich ringe nach Luft, meine Hände zittern, meine Knie sind mit Wasser gefüllt. Ich schließe die Augen, fühle den Schweiß meine heiße Stirn hinunterlaufen und meine Gesichtsmuskeln zucken. Meine Hände ballen sich unwillkürlich zu Fäusten, mein Körper spannt sich an. Ich öffne die Augen wieder, mein Körper erschlafft, ich spüre, wie der Schock erst jetzt richtig heftig durch meinen Körper schießt wie Elektrizität, wie kleine Blitzbälle, die durch meine Sehnen kugeln. Ich breche zusammen, kippe über das spartanische Steingeländer des Balkons und falle nach unten.
Als ich meine Augen öffne, höre ich ein Geräusch wie eine von einem Synthesizer verzerrte Panflöte in meinem rechten Ohr. Ich versuche, mich zu bewegen, aber jeder Knochen meines Körpers tut mir weh. Unter größten Schmerzen schaffe ich es, mich umzudrehen und das Gesicht in das überraschenderweise warme Gras zu drücken.
Diese Hitze hier unten wird mich noch umbringen, denke ich bei mir.
Nach einigen Anläufen schaffe ich es schließlich, mich aufzurichten. Ich sehe nicht sehr viel, vor meinen Augen wabert Nebel. Nachdem ich mir die Augen gerieben habe, merke ich, dass es nur Wasser ist, dass sich auf den geschlossenen Lidern angesammelt hat.
Ich sehe mich um.
Der Hängende Garten erstreckt sich vom Balkon ausgesehen scheinbar endlos, aber hier unten, wenn man inmitten der Bäume und Büsche steht, spürt man förmlich, wie die Klaustrophobie einem die Luftröhre zudrückt. Die Decke der Höhle kann ich nicht sehen. Ich kann noch nicht einmal die meisten Baumspitzen sehen. Nur der Boden ist wie von unsichtbaren Scheinwerfern beleuchtet. Der Horizont existiert praktisch nicht. Ich kann nicht sehen, was sich einhundert Meter weiter vorne befindet, da die Hitze die Luft flirren lässt. Alles, was ich sehe, sind grüne Schlieren, die in ein bodenloses Schwarz übergehen.
Dann kommt mir dieser seltsame Affe wieder in den Sinn. Ich frage mich nicht lange, ob es so etwas überhaupt geben kann, denn mit Tieren kenne ich mich nicht besonders gut aus. Es wäre gut möglich, dass es so einen seltsamen, hässlichen Affen tatsächlich gibt und ich nur nichts davon weiß. Allerdings will ich trotzdem keine zweite Begegnung mit diesem Tier. Ich ziehe einen langen, robusten Stock aus einem Busch heraus, schlage ihn ein paar Mal gegen einen Baum, um seine Stabilität zu testen, und mache mich auf die Suche nach... nach was auch immer.
Seit einiger Zeit bin ich im Hängenden Garten unterwegs. So habe ich ihn getauft, den Hängenden Garten, nach dem Titel eines The Cure - Songs. Würde mir jemand oder etwas folgen, könnte er mich ohne weiteres aufgrund der Spur aus Kleidung ausfindig machen, die ich hinterlassen habe. Inzwischen trage ich nur noch Jeans, ein T-Shirt und meine Turnschuhe. Aber so wie es aussieht, muss ich mich auch bald von dem Shirt verabschieden, denn es wird tatsächlich immer heißer.
Im Laufe meiner Wanderschaft ging ich über unzählige Hügel und durch zahllose Täler. Einerseits löste dieser Garten klaustrophobische Anfälle bei mir aus, so dass ich kurz anhalten und mich auf den Boden setzen muss, um wieder zu Sinnen zu kommen, auf der anderen Seite überkam mich oft ein Gefühl des absoluten Verlorenseins, und zwar so heftig, dass ich oft kurz davor war, mir an einem Baumstamm das Hirn aus dem Schädel zu hauen.
Jetzt stehe ich da, verloren wie noch nie zuvor, und denke darüber nach, ob es wirklich so schlimm wäre, wenn ich mich einfach hinlegen und sterben würde. Die Chance, dass ein Weg aus dem Hängenden Garten herausführt, stehen sehr groß, denn der Architekt des Ganzen, sollte es denn tatsächlich einen geben, und davon gehe ich aus, muss ja auch irgendwie herausgekommen sein. Aber wie groß stehen die Chancen, dass ich diesen Ausgang noch vor meinem Ableben erreiche? Darüber denke ich im Moment lieber nicht nach.
Meine Haut juckt, meine Lungen brennen. Ich kann nicht mehr. Verzweifelt tasten sich meine Hände nach vorn, versuchen, sich an irgendeinem Baum festzuhalten, um meinen Körper nicht einfach auf den Boden knallen zu lassen. Ich bekomme etwas zu fassen - die Kapillaren in meinen Fingerspitzen ziehen sich zusammen. Egal, was ich gerade anfasse: Es ist eiskalt. Nachdem ich meine von ziehenden Schmerzen durchdrungenen Augen aufmache, erkenne ich, dass es die Büste eines Mannes ist. Die Statue besteht aus einem mannshohen Sockel, auf dem der Kopf eines Mannes sitzt - herausgearbeitet aus purem Stein. Ich starre dem Mann in seine nicht existierenden Augen. Dann lasse ich die Statue los, blicke mich um. Ein Weg, aus kleinen, weißen Kieselsteinen gelegt, auf jeder Seite jeweils eine Männerbüste. Ich stehe vor der rechten. Der Weg führt auf eine Brunnenanlage, die aus mehreren, jeweils übereinanderliegenden, immer dünner werdenden Ringen aus Stein besteht. Das Wasser spritzt aus einer grausamen Statue in der Mitte des obersten Ringes und plätschert dann von einem Ring zum nächsten immer weiter nach unten. Das Gebilde ist von Efeu und Ästen überwuchert. Ich gehe darauf zu. Ich frage mich, was ich davon halten soll. Die Situation hier unten wird immer bizarrer, und mittlerweile bin ich dazu bereit, alles zu glauben, was ich sehe. Gerade, als mir dieser Gedanke bewusst wird, höre ich wieder das Gekreische der Affen. Ich bemerke, dass ich meinen Stock nicht mehr bei mir trage.
Der Affe springt hinter dem Brunnen hervor und kreischt wieder. Ich weiche aus, rieche aber den Gestank von Tierkot, den er verströmt. Mein Körper sackt zu Boden, ich sehe die haarigen, klumpigen Beine des Affen neben mir auf dem Weg. Ich sehe, wie sie sich drehen, und dann spüre ich den Schmerz, der meine Wange hinunterfährt bis zum Schlüsselbein. Ich schlage panisch nach dem Tier, aber es springt einfach über meinen Körper und bearbeitet meinen Rücken. Wieder drehe ich mich um und versuche, dass Mistvieh zu fassen zu kriegen, aber die Missgeburt hüpft herum wie ein Flummi. Ich sehe kurz sein Gesicht, sehe den Schaum vor seinem Mund, die Zähne, die wie Rasierklingen aus dem entzündeten, dunkelroten Zahnfleisch ragen, die irren Augen, die in zwei verschiedene Richtungen schauen.
Dann, plötzlich, verschwindet das Tier aus meinem Blickfeld, die Schläge hören auf. Lautes Kreischen, Geräusche wie zerreißendes Papier, rote Regentropfen, die ins Gras fallen. Dann Stille. Ein Grunzen, dass nichts mit dem Affen zu tun hat. Ich fühle, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Meine Innereien ziehen sich zusammen. Laub raschelt, etwas macht einen Schritt nach vorne. Wieder ein Grunzen. Meine Augen brennen. Ich richte meinen Oberkörper auf, und dann sehe ich es. Ich verliere fast meinen Verstand.
Es ist groß, klobig, behaart. Mindest zwei Meter hoch ragt es einige Schritte von mir entfernt vor dem Brunnen auf. Seine Schultern sind breit, seine Haltung gebeugt. Der Kopf, der Ähnlichkeit mit dem eines Stachelschweins hat, sieht aus, als hätte er schon unzählige schwere Kämpfe hinter sich. Die Augen sind dunkel, matt leuchtend, schielend, irre. Der Mund ist geöffnet. Aus dem dunkelroten Zahnfleisch ragen gelbe, scharfe Zähne. Eine lange, schleimige Zunge ragt aus der glitschigen Mundhöhle hervor. Wieder grunzt es. Ich spüre, wie meine Lunge hektisch Luft einsaugt und wieder ausstößt, mein Herz hämmert gegen meinen Brustkorb, als ob es sich seinen Weg heraustrommeln will. Der Schweiß brennt auf meiner Haut.
Dann schreitet es auf mich zu.
Seine Arme wackeln, als es auf mich zu geht und dabei schnauft wie eine Lokomotive. Ich rapple mich hektisch auf, erstarre aber in meiner Bewegung. Es ist anscheinend nicht sehr schnell. So ein riesiges Tier kann gar nicht schnell sein, denke ich bei mir. Ich gehe langsam rückwärts davon, es geht mir langsam nach. Ich habe Angst, den Kopf zu drehen, Angst, es aus den Augen zu lassen.
Dann schießt es nach vorne. Da ich niemals im Leben damit gerechnet hätte, dass dieses monströse Etwas sich so schnell bewegen kann, akzeptiert mein Gehirn die Situation noch nicht ganz, und als es das tut, ist es schon zu spät. Die stinkende, stachelige Brust drückt sich gegen mein Gesicht, ich spüre den Bauch der Kreatur, seinen Penis, seine Oberschenkel. Ich versuche zu schreien, aber in genau diesem Augenblick werde ich gegen einen Baum gequetscht. Knochen brechen, Organe reißen.
Ich liege halb bewusstlos am Boden. Blut läuft aus meinem Mund, das spüre ich. Ich spüre auch den Atem dieser Kreatur in meinem Nacken. Aber meinen linken Arm spüre ich nicht mehr. Der Anwesenheit dieses Monsters zum Trotz versuche, ich meine linken Finger zu bewegen. Nichts. Nachdem ich mich kurz im Gras geregt habe, merke ich, dass Arm noch dran ist. Mehr wage ich nicht zu tun oder zu denken, denn ich möchte nicht sterben. Nicht hier unten.
Die Kreatur beschnüffelt mich. Ihr stinkender Atem auf meiner Haut widert mich an. Ich muss etwas tun. Jetzt. Meine rechte Hand ballt sich zu einer Faust. Ich spüre, wie Adrenalin durch meine Adern gepumpt wird. Mein Atem geht schneller. Mein Herz pocht. Ich will schreien, so aufgeregt bin ich. Meine Muskeln reißen fast, so sehr spanne ich sie an. Ich will dieses Tier zu Brei schlagen, und zwar jetzt.
Dann schieße ich nach oben. Die Schmerzen wollen meinen Körper wieder auf den Boden werfen, aber ich halte durch. Gerade einmal wenige Zentimeter vor diesem Monster stehe ich da und versuche, nicht vor Qual zu weinen. Meine Beine automatisieren sich, drehen sich um und beginnen zu laufen. Den Rest des Körpers ziehen sich anstandshalber mit. Die Kreatur hinter mir brüllt, ein Brüllen, dass sich wie ein Geräusch aus einem Godzilla-Film anhört, wenn es von Ozzy Osbourne produziert werden würde. Ich laufe durch den Wald, mit dem Wissen, dass ich keine Chance habe, das Tier abzuschütteln.
Die Bäume schießen wie grüne Schatten an mir vorbei, während mein inzwischen tauber Körper über Steine und umgefallene Baumstämme schießt. Das Tier war die ganze Zeit hinter mir, aber es holt mich nie ein. Es genießt die Jagd. Wie oft verirrt sich schon jemand in diesen Garten? Möglicherweise war ich der erste. Aber dann kommt mir das Tunnelsystem wieder in den Sinn, und die Tatsache dass dieser Garten über einer Schlucht gespannt wurde. Vielleicht genießt das Tier nicht die für ihn seltene Jagd, vielleicht wurde es so abgerichtet. Spiel erst mit deiner Beute, bevor du sie zerfleischst.
Ein Stoß fährt durch mein Gehirn. Ich sehe etwas vor mir liegen. Dann lasse ich mich hinfallen.
Erst springt die Bestie über mich hinweg. Dann dreht sie sich um, aber ich habe den spitzen Stein bereits in der Hand. Das Monster schießt auf mich zu, aber ich habe bereits ausgeholt. Es beißt in meine linke Schulter, aber mein Körper ist bereits taub. Dann beginne ich, auf das Tier einzuschlagen. Wie mechanisch hackt mein Arm immer und immer wieder auf den Kopf und den Rücken ein. Als es verärgert den Blick hebt, als ich in eines seiner trüben Augen sehe, zählt mein Gehirn eins und eins zusammen. Instinktiv ramme ich meine improvisierte Waffe in das Auge der Kreatur. Sie brüllt wieder auf, beißt fester zusammen, und jetzt spüre ich den Ansatz eines Schmerzes durch meine Schulter rasen, aber dann öffnet das Monster den Kiefer. Erleichtert falle ich zu Boden, Blut spritzt aus meinen Wunden wie aus einer explodierenden Wasserbombe. Das Tier zieht sich zurück, läuft monströs winselnd in den Wald hinein. Ich bleibe liegen, nur für eine Weile, denn als ich zumindest etwas Kraft in meinem Körper spüren kann, richte ich mich auf und torkle zum Brunnen zurück. Das ist mein einziger Anhaltspunkt in dieser Hölle: Der Brunnen. Wenn ich sterben muss, dann dort. Dann weiß ich zumindest, wo ich sterbe.
Hinter dem Brunnen lag der Weg zu einer provisorischen, steinernen Treppe. Die Treppe führte zu einer Falltüre aus Holz. Dadurch bin ich sofort zurück in den Wald gekommen.
Jetzt stehe ich hier, verletzt, allein, sterbend. Blut läuft aus meiner zerrissenen Schulter, mein linker Arm ist zerquetscht und meine Beine sind zerkratzt, jeder Schritt tut mir in den Innereien weh. Aber ich gehe durch den Schnee, an den gespenstischen, schwarzen, kahlen Bäumen vorbei und in den Nebel hinein. Fast die halbe Nacht irre ich durch den anscheinend endlosen Wald. Dann knirscht etwas hinter mir. Ich drehe mich um. Nichts. Ich versuche trotzdem zu laufen, aber ich weiß nicht, wohin.
Es ist noch immer dunkel. Ich komme an einen gefrorenen Fluss mitten in einer traumhaften Winterlandschaft. Vor einigen Minuten hat es zu Schneien begonnen.
Der Fluss sieht aus, als wäre er mitten in seiner Bewegung erstarrt. Ich würde gerne einmal sehen, wie ein Fluss von einer Sekunde auf die nächste zufriert. Eine eiskalte, kristallklare Träne läuft mein Gesicht hinunter. Ich werde traurig. Ich blicke nach oben, sehe in den wolkenbedeckten Himmel hinauf. Mein Körper tut nicht mehr weh, er ist taub.
Dann sehe ich wieder vor mich hin, auf die eingeschneite Wiese, den entfernten Wald, den gefrorenen Fluss. Vorsichtig steige ich auf das Eis, dass im Frühling und im Sommer wie flüssiges Kristall fließt. Ich lege mich darauf, drücke dagegen, bis es bricht und das kalte Wasser über meinen Oberkörper schießt. Ich schließe die Augen, und während die kalte, qualvolle Erlösung meinen ganzen Körper umspielt und umarmt, schlafe ich ein.