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Der Handschuh
Der Handschuh
Als ich die Tür des Zeitschriftenladens öffnete, kam mir eilig ein Mann entgegen, fast hätte er mich angerempelt, vielleicht blickte ich deshalb flüchtig hinter ihm her und bemerkte, nachdem er sich drei schnelle Schritte von mir entfernt hatte, es waren drei große schnelle Schritte, wie sein Handschuh aus der Manteltasche auf den Boden fällt. Einen Sekundenbruchteil überlegte ich, dem Mann zuzurufen und ihn auf seinen verlorenen Handschuh aufmerksam zu machen, doch dann erblickte ich ein Handy an seinem Ohr und verwarf meinen Vorsatz, vielleicht auch wegen des beinahe Zusammenstoßes, dem der Unbekannte überhaupt keine Bedeutung beimaß, vielleicht genauso wenig Bedeutung wie dem Verlust seines Handschuhes. Es war ein schwarzer Lederhandschuh, den ich am Boden liegen sah und einen Augenblick dachte ich daran, den Handschuh überzustreifen, um dadurch noch etwas von der Körperwärme des mir völlig unbekannten Mannes aufzunehmen, dessen Gesicht ich noch nicht einmal erblicken konnte, sondern nur seine Schulterpartie und sein Ohr, an das er sein Handy preßte und ein Gespräch führte, das den Verlust seines Handschuhes verursachte. Gerne wäre ich mit meinen Fingern in jede einzelne Fingerhülse des schwarzen Handschuhes hineingeschlüpft, um auszuprobieren, inwieweit die Krümmung meiner Finger mit der Krümmung der Finger des mir unbekannten Handschuhträgers übereinstimmten, da der schwarze Handschuh, der auf dunkelroten Pflastersteinen lag, noch eine gewisse Spannung ausstrahlte, so als ob die Hand des Besitzers noch darin stecken würde. Ich mußte an eine Schlacht denken, wie sie sich vielleicht im Mittelalter abgespielt hätte. Auf einem Feld, daß einige Zeit schon ungepflügt brach lag, da es sich auf dem Grenzgebiet zwischen zwei befeindeten Völkern befand und sich somit im Laufe der Zeit ein grünes Feld aus Gras bilden konnte, aus dem vereinzelt noch dunkelbraune Lehmspitzen herausragten. Auf diesem grün-braunen Untergrund visualisierte ich plötzlich einen Metallhandschuh, vielleicht war er Teil einer Ritterrüstung. Ich sah deutlich den aus blank poliertem Blech geformten Handschuh am Boden liegen, die Finger waren aus drei unterschiedlich langen Metallhülsen konstruiert, die Handflächen mündeten in einem trichterförmigen Schaft, der am Ende eine Verzierung aus Nieten trug.
Aus diesem Schaft rann Blut, daß sogleich im lehmigen Boden versickerte. Undeutlich erkannte ich im Inneren des Handschuhes einen gespaltenen Knochen, umhüllt von aufgetrenntem rotem Fleisch, aus dem abgeschnittene, bläulich schimmernde Sehnen herausragten.
Der Verkäufer im Zeitschriftenladen bat mich, die Tür zu schließen. Ich weiß nicht genau wie viele Minuten ich mit der linken Hand die Türklinke herunterdrückte und mit dem linken Fuß bereits im Zeitungsladen stand, um nach hinten gewandt mit dem rechten Fuß außerhalb des Ladens, auf dem roten Pflaster stehend, den verlorenen Handschuh betrachtete. Ich betrat etwas verwirrt das Geschäft und entschuldigte mich bei dem Verkäufer. Aus der Fülle der bunt bebilderten Zeitschriften wählte ich meine Tageszeitung, die auf mattem, grauem Papier mit Schwarzen Buchstaben bedruckt ist, und nur selten farbige Abbildung enthält.
Natürlich war der Handschuh weggeräumt, als ich am nächsten Morgen zur gewohnten Stunde meine Zeitung erstand. Nichts vor dem Eingangsbereich des Zeitungsladens erinnerte mehr an die Geschehnisse des Vortages. Im Lokalteil meiner Tageszeitung wurde unter der Rubrik „Blaulicht“ erwähnt, daß ein Passant beim unachtsamen überqueren einer Hauptstraße, die ca. 3 Gehminuten von meinem Zeitungsladen entfernt verläuft, von einem PKW erfaßt wurde. Wie Augenzeugen berichteten, lief der Mann in großen schnellen Schritten, in ein Handygespräch versunken, auf die verkehrsreiche Straße. Der Fahrer des herannahenden PKW konnte nicht mehr verhindern, daß der Passant zu Boden gerissen wurde. Bei dem Sturz geriet die Hand des Fußgängers in die Stoßstange eines auf der Gegenfahrbahn vorbeirollenden Lkws und wurde dadurch vom Arm abgetrennt. In wie weit es den Ärzten der Universitätsklinik möglich war, die Hand wieder mit dem Arm zu verbinden, blieb bis Redaktionsschluß ungeklärt.