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Der Hase des Joseph Druel
.Irrwege.
Joseph Druel wurde in einer kalten und stürmischen Winternacht geboren. Es war eine jener Nächte, in denen die Wolken, sonst friedlich weiß am dunklen Himmel, sich zusammenbrauten, sich vereinten und ineinander flossen, bis sie zu einer einzigen, gleichförmigen Finsternis verschmolzen, aus deren kaum mehr erahnbarer Tiefe sich der Schnee in ungezähmt tobenden Kaskaden entlud. In wilder Raserei wütete der Sturm um die kleine Blockhütte, peitschte seine weiße Fracht gegen die hell erleuchteten Fenster und suchte mit substanzlosen, unsichtbaren Fingern schrill pfeifend durch die Fugen zwischen dem schweren Eichenholz ins warme Innere zu dringen. Das Gebälk ächzte drohend und draußen bogen die kahlen Bäume sich in den an- und abschwellenden Böen, doch das Haus, das sich geborgen in die Mulde unterhalb des Dorfhügels duckte, hielt tapfer stand.
Als am nächsten Morgen wider aller Erwartung erneut die Sonne durch die zerfaserten grauen Wolkenfetzen tropfte, war der Himmel schwefelgelb und das Licht widerspiegelte sich in Milliarden und Abermilliarden glitzernder Eiskristalle. Der Wind hatte sich in höhere Sphären zurückgezogen, um dort sein Spiel mit den sich verstreuenden Wolken zu treiben, und die Schneedecke spannte sich weich und sanft über die Hügel, hüllte das Gerippe des Waldes in einen lichten, wärmenden Mantel und stob in wehenden Schleiern von den Giebeln, wenn der Wind noch gelegentlich mit sanftem Hauch über die Dächer strich.
Vielleicht waren es diese ersten Eindrücke, die Joseph Druels späteres Leben so entscheidend prägten. Vielleicht war sein denkwürdiges Geschick auch von Anfang an vorherbestimmt, vielleicht aber handelte es sich auch lediglich um einer Verkettung verschiedenster äußerer wie innerer Umstände, die ihm den Pfad durch das Dickicht des Lebens wiesen, wenngleich dies eine Möglichkeit darstellte, die er selbst nie in Erwägung gezogen hätte. So handelte es sich bei dem Tag seiner Geburt womöglich schlicht um ein weiteres Merkmal, das sich perfekt in das wohlgeordnete und stets gehegte Chaos seines Wirkens einfügte.
Ganz gleich, wo die Ursachen letztlich gelegen haben mögen, so steht außer Zweifel, dass von Anfang an die Natur eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn ausübte, und diese Anziehung war es, die ihn durch all die Jahre mit sich zog, ihn bisweilen aufrichtete, ihm Kraft und neuen Mut gab, um ihn sogleich wieder in tiefster Hoffnungslosigkeit zu Boden zu schmettern. Mit allen nur erdenklichen Mitteln trachtete er, diese kostbaren Momente, die ihm die Natur schenkte, Anblicke von Himmel und Erde, Getier und Vegetation, festzuhalten, sie in ihrer Schönheit zu bewahren, im Zauber des Augenblicks einzufrieren und so unsterblich zu machen, was ohnehin unvergänglich war.
Vielerlei Wege schlug er so ein in seinen Jugendjahren, unternahm die verschiedenartigsten Versuche, an sein Ziel zu gelangen, wenngleich es ihm auch an fester Vorstellung dessen fehlte, wohin er eigentlich wollte. So versuchte er sich scheinbar willkürlich an der Malerei ebenso wie an der Dichtung, der Musik oder gar den Naturwissenschaften, stets auf der Suche, nach dem einen perfekten Ausdrucksmittel, und ein jedes seiner so geschaffenen Fragmente füllte ihn aus, wuchs und reifte heran, erlangte für sich eine eigene verborgene Schönheit und versetzte seine Welt in helle Blüte. Ob er mit seinen Anstrengungen der wahren Urgewalt der Elemente tatsächlich gerecht wurde, lässt sich schwerlich sagen, kann unter Umständen sogar ohne weiteres angezweifelt werden, doch lag all seinen, wie auch immer gearteten Werken ein eigener Zauber inne, der dem, der sie betrachtete ein Stück der Welt des Joseph Druel und manchmal der eigenen Seele offenbarte.
Diese Kunst, diese Gabe, das wahre Wesen der Dinge einzufangen, verlernte er später wieder, als er sich widerstrebend, doch unaufhaltsam dem Mannesalter näherte. Grausam sind des Schicksals Beschlüsse, denn kaum der Geborgenheit der Kindheit entrissen, von der er sich nicht loslösen konnte oder wollte, da zerbrach er bereits an den Aufgaben, die ihm das Leben stellte, Aufgaben, die für andere Menschen mühelos zu bewältigen, für Joseph Druel jedoch unüberwindbar schienen. In dieser neuen, fremden Welt, in die er sich so unversehens versetzt sah, war kein Platz mehr für seine einstigen Träume und Sehnsüchte, für all den Enthusiasmus, der ihn in seinen Jugendjahren getrieben hatte. Und so, vor lauter Angst angesichts eines Lebens, das er nicht als solches wiedererkannte, entzweite er sich von sich selbst und seinen früheren Wünschen und Idealen, und wenig blieb übrig von der Welt, wie er sie sich nicht nur erträumt, sondern sie als präsente Wahrheit gesehen hatte. Ein dunkler Schleier aus Furcht und Widerwillen senkte sich über ihn und verblendete ihm in der vielleicht entscheidenden Phase seiner Entwicklung die Sinne. Genommen war ihm die Fähigkeit, die Schönheit des Lebens wahr- und in sich aufzunehmen, und damit auch die Gabe, diesen Zauber anderen zu vermitteln.
Solcherart gezeichnet schien es ihm auch unmöglich, weiterhin seinem einst so vertraut erschienen Weg zu folgen. Selten gelang es ihm nur noch, das Licht in seinen Werken zu entzünden, denn zumeist war all sein Streben von Trauer und Unglück überschattet, was in ihm die Abneigung gegenüber jenem Umfeld wachsen ließ, in dem er den Ursprung für sein Scheitern zu sehen glaubte, nicht erkennend, dass er selbst es war, der sein größtes Hindernis darstellte. Einst so voller großer Pläne und Hoffnungen zog er sich nun immer weiter vom Quell seiner Inspiration zurück, ließ ihn nur in seinen Träumen weiterleben und errichtete sich eine Scheinwelt der Wildheit und Urtümlichkeit, in der er sein Heil zu finden glaubte.
"Bilde sich bloß niemand etwas ein auf die sogenannte Zivilisation", spottete er einmal im kleinen Kreise seiner Freunde, "denn letztlich handelt es sich dabei um nichts weiter als ein Synonym für Sklaverei. Für Versklavung nicht nur all jener, die zu den vermeintlich Wilden, Primitiven zählen, sondern auch ihrer selbst. Welchen Vorteil bringt dir denn die ach so fortschrittliche Zivilisation? Ich erkenne nicht einen einzigen. Es ist ein Geschwür, ein System, das dem Einzelnen keinen Nutzen einbringt, sondern lediglich sich selbst verwaltet, sich selbst ernährt, wächst und vergiftet, ohne dass am Ende irgend etwas gewonnen ist. Die Zivilisation zerstört, sie vernichtet, sie richtet zugrunde. Sie stiehlt dir das Leben. Sie verbarrikadiert sich hinter einem Netz von Regeln und Vorstellungen, über die sie selbst stolpert, an denen sie sich selbst stranguliert. Sie verlangt alles von dir und du willst alles für sie tun, aber niemand lässt dir auch nur geringste Chance dazu. Was du selbst willst, was du brauchst, um nicht in ihrem giftspeienden Odem zu ersticken, wen interessiert das schon? Also erklärst du dich bereit, ihr Spiel zu spielen, um wenigstens physisch am Leben zu bleiben, obwohl dir bewusst ist, dass du keinerlei Gegenleistung zu erwarten brauchst. Was die Sache jedoch verschlimmert, ist die Tatsache, dass nicht einmal, was du tun musst, um dich in ihre verlogene Gleichförmigkeit einzugliedern, dir auch wirklich zu tun gelassen wird. Sie wollen alles von dir, doch sie lassen dir noch nicht einmal die Gelegenheit, irgend etwas zu geben. Vergeude nicht dein Talent, sagen sie? Vergiss es. Du hast ohnehin keine Aussicht, etwas davon zu nutzen. Anstatt dir zu helfen, dich aufzurichten, bringen sie dich um, richten dich zugrunde und geben dir selbst die Schuld daran. Sie lassen dir keine Chance und du hast keine andere Wahl. Was bleibt, ist ein Leben in sinnloser Sklaverei und Isolation. Das ist Zivilisation."
So sprach er in seiner Verblendung, seiner Verzweiflung, gab die Schuld dem modernen Weg des Lebens, der ja doch die einzige Möglichkeit für ihn war, um seine Träume in den Flammen des heilenden Feuers auferstehen zu lassen. Er sehnte sich eine Ursprünglichkeit herbei, die seine Sehnsucht angesichts des schlichten Überlebenskampfes im Keim bereits ersticken würde. Doch wer konnte es ihm verübeln? Er sah seine innere Welt zersplittert und im Chaos zerworfen, verirrt in weglosem Gelände, und der einzige Ausweg schien ihm der Hass auf diejenigen, die er für sein Unglück verantwortlich glaubte, der Rückzug in Ablehnung und Misstrauen, vielleicht sogar in den Wahnsinn. Womöglich lag er in seinen Ausführungen nicht zur Gänze falsch, vielleicht erkannte er selbst jetzt noch einen Teil des tatsächlichen Wesens der Dinge, doch war ihm in seiner Wut ob seiner Unfähigkeit, sein Leben zu leben, jegliche Gerechtigkeit abhanden gekommen.
Denn seine Zivilisationsfurcht, seine Angst vor Einengung und Freiheitsverlust, war nicht der einzige und mit Bestimmtheit nicht der wahre Grund für seinen sich stetig verschlechternden inneren Zustand. Er sprach nicht davon, was ihn wirklich bewegte, nämlich dass er sich selbst nicht länger als Teil jener Natur und Natürlichkeit sah, die er so verehrte. Alles dort draußen war im Fluss, voller Vielfalt und Gemeinschaft, eng miteinander verwoben, doch er selbst stand außerhalb dieses komplexen Kreislaufs. Er war alleine. Nicht physisch, denn obgleich er sich dessen nicht bewusst war, hatte er immer noch seine Freunde, die zu ihm hielten und an ihn glaubten, seinen immer kritischer verlaufenden Rückzug in sich selbst mit Sorge beobachteten. Nein, er war nicht im eigentlichen Sinne alleine, doch war er einsam im Geiste. So fühlte er, selbst angesichts derer, die ihm zur Seite standen und ihn zu verstehen meinten.
Mit dem Alter wuchs die Einsamkeit des Joseph Druel. Er blieb in Kontakt mit seiner äußeren Umwelt, war hie und da in Gesellschaft, wo er stets lachte und bisweilen herzlichen Humor zeigte, um seine Unsicherheit zu verbergen. Doch sein wahres Sehnen, seine Träume und Ängste, offenbarte er niemandem, nicht einmal seinem vertrauteren Kreise, denn sein Inneres nach außen zu kehren hätte bedeutet, sich selbst anzuerkennen und zu akzeptieren, mit allen Mängeln, Schwächen und Niederlagen. Dies allein jedoch war ihm nach so langer Zeit selbsterwählter Isolation, seinem ständigem Zweifel und Scheitern an sich selbst, nicht mehr möglich, und so blieb er losgelöst von der Einheit, nach der er strebte. Er verschloss sich beinahe vollständig, brachte seinen Panzer zu adamantener Perfektion und verbaute sich zusehends selbst den ersehnten Weg zurück, verlor den Schlüssel zu sich selbst.
Dieserart wäre er vielleicht auf ewig vereisten Herzens geblieben, alt und verbittert geworden, innerlich gespalten, filigran und zerbrechlich, ohne rechte Freude an allem, was ihm das Leben schenkte – wäre ihm der Vorfall mit dem Hasen nicht rechtzeitig zu Hilfe gekommen.
Es war in seinem achtunddreißigsten Jahre, als sich in Joseph Druels unglücklichem Leben endlich eine Wende abzuzeichnen schien ...
.Das Labyrinth.
Wohl einer der bedeutendsten Einflüsse auf dem Weg zur Erkenntnis manifestierte sich als der neue Blumenladen im Dorfe, der in ebenjenem Jahr nur unweit von Druels Haus eröffnete. Genau genommen war es gar kein Geschäft im eigentlichen Sinne, eher ein kleines umgebautes Gartenhäuschen, seit Jahren verlassen und von Wildkräutern im gleichen Maße überwuchert wie vom Alter der Zeit. Die kleine Hütte war kaum in größerem Stil bearbeitet worden, und so boten die leicht windschiefen Balken, die sich aus einem farbenfrohen Dickicht verschiedenartigster Gewächse erhoben, einen vertrauten verwilderten Anblick, der Joseph Druel tief ins Herz fuhr. Es war, als hätte man ihn über all die unglücklichen Jahre hinweg in die Vergangenheit versetzt, als wäre ein Teil seiner einstigen Träume mit einemmal aus dem Exil wieder aufgetaucht.
Vermutlich war es Druels weisester Entschluss, als er sich von den hohen Erwartungen, den verworrenen, irrationalen Träumen der letzten Jahre abwandte und sich in die heimlichen, doch sichereren Gefilde der Realität herabließ, um fortan in dem Blumenladen zu arbeiten. Dies war der Moment, in dem sich die Verstrickungen um seine verblendeten Sinne allmählich zu lösen, der Weg zu seinem Seelenheil sich abzuzeichnen begann. Er lernte, mit seinem Leben zufrieden zu sein, sich an jedem Tage neu zu erfreuen; ganz ging er auf in seiner Tätigkeit, die ihn mehr mit der Natur verband, ihn näher an ihr Wesen heran brachte, als jeder künstlerische Versuch zuvor, und mit der Zeit begann er die Augen wieder zu öffnen. Er erkannte, welch unwiederbringliche Momente ihm entgangen waren, wie er sich, in dem Versuch, sich ihnen zu nähern, immer weiter von seinen Zielen entfernt hatte. Die Abwendung von seiner Suche hatte ihn näher an ihr Ende herangebracht, als all die Jahre vergeblichen Forschens. Joseph Druel erwachte, doch langsam nur. Noch fehlte ihm ein Wegweiser, der ihn zurück ins goldene Zeitalter seiner Inspiration und über die Sterne seiner Sehnsucht hinaus bringen würde.
So begab es sich, dass er immer noch von Zeit zu Zeit ziellos in der Umgebung des Dorfes umherzuwandern pflegte, doch mit wacheren Sinnen, als noch vor wenigen Monaten. Es war auf einem dieser Streifzüge, dass er den Hasen entdeckte.
Er befand sich nahe am Waldrand und ließ den Blick über die blühenden Wiesen rings um das Dorf schweifen, atmete tief durch und warf einen letzten Blick auf den nahezu wolkenlosen stahlblauen Himmel, bevor er in den Schatten der Bäume tauchen würde, da fiel sein Blick auf ein pelziges braunes Etwas zwischen den Gräsern am Wegesrand, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Als er näher herantrat, erkannte er einen jungen Hasen, der ihn zitternd aus furchtsamen schwarzen Augen anblickte, verletzt offenbar und allein gelassen. Druel konnte nur mutmaßen, wie das Geschöpf in diese Lage geraten war, doch er dachte auch nicht lange darüber nach, sondern aus einem plötzlichen Impuls heraus, gefangengenommen vom rätselhaften Blick des Hasen, nahm er das Tier an sich, um es im Schutz seines Heimes zu versorgen, bis es sich erholt hätte.
Während der folgenden Wochen blühte Joseph Druel geradezu auf, es war, als hätte er wieder ins Leben zurückgefunden. Der Hase baute ein Vertrauen zu seinem Retter auf, das diesen selbst überraschte, und auch als er wieder so weit genesen war, sein Leben eigenständig fortzusetzen, blieb er in dem Verschlag, der für ihn eingerichtet worden war. Druel hing mit der Zeit immer mehr an dem Tier, und allmählich schien es ihm, als hätte er mit dem Hasen mehr gefunden, als ein bloßes Haustier. Seine Zuversicht kehrte zurück, stärker als je zuvor; die verloren geglaubte Natur hatte nicht nur in sein Haus und sein Berufsleben Einzug gehalten, sondern auch wieder in sein Herz, und er fühlte, wie seine Inspiration zurückkehrte und ihm zugleich mit dem Hasen neue Freude am Leben geschenkt ward.
Allein, sein Glück sollte nicht lange währen, denn kaum anderthalb Monate nachdem der Hase ihn gefunden hatte, wie Joseph Druel es auszudrücken pflegte, war das Tier mit einemmal verschwunden. Insgeheim hatte Druel die ganze Zeit über befürchtet, dass der Hase wieder in seine vertraute Umgebung zurückkehren würde, doch jetzt, wo er sich mit der Wirklichkeit konfrontiert sah, wollte er sich damit nicht abfinden. Es hatte eine Zeit existiert, da hätte er den Dingen vielleicht ihren Lauf gelassen, in sein Schicksal ergeben und resigniert erneut sich in seine eigene, persönliche Welt zurückgezogen, doch ein neuer Geist war in ihm erwacht, und so machte er sich auf, den Hasen wiederzufinden. Er wusste, wenn das Geschöpf seine Freiheit suchte, so konnte er es nicht daran hindern, doch Druel hatte wieder gelernt, was Hoffnung bedeutet, und allein deshalb sollte seine Suche mit Erfolg gekrönt sein.
So kam es auch, dass nicht weit vom Dorfe er in der Ferne einen haselnussbraunen Fleck im Grün der Wiesen wahrzunehmen glaubte, und sein Herz sagte ihm, dass er auf dem rechten Wege war. In höchster Eile lief er in jene Richtung, in welcher er den Hasen vermutete, rasch, doch behutsam, um nicht das Tier unwiderruflich in die Flucht zu schlagen, aber so schnell ihn seine Beine auch trugen, der Hase war ihm stets voraus, niemals mehr, als nur ein flüchtiger Schatten am Horizont. Doch blieb er stets in Sichtweite, und als Druel schließlich, völlig außer Atem, inne hielt, da schien es ihm gar, der Hase warte darauf, dass er sich wieder in Bewegung setzte. Lange zog sich die Verfolgung solcherart hin, viele Stunden, wie Druel meinte, und er merkte kaum, dass der Himmel langsam dunkler wurde und lange Schatten auf das Gras fielen. Allein, es war kaum Nachmittag, und die Sonne hatte den Zenit erst überschritten, doch war das Firmament verfinstert, verborgen hinter grauen Wolken, die sich mit jedem seiner Schritte tiefer herab zu senken schienen, und ehe er ganz begriffen, da sah er sich von hohen Mauern umgeben, gehauen aus rohem Fels, und einen Weg zurück konnte er nicht mehr erblicken. Grau ragten sie empor, grau wie der Himmel darüber, abweisend und bedrohlich, und bildeten ein vielfach verwinkeltes System von Wegen und Gängen, trügerisch und voller Tücke, ein irreführendes Labyrinth, das geschickt hinter einem Netzwerk von Illusionen den einzig wahren Weg verbarg. Die Luft schmeckte nach Regen und leiser Donner kündete fern vom Horizont, und länger und länger irrte Druel durch das Labyrinth, verstrickte sich immer tiefer in die Ausweglosigkeit der unzählig verschlungenen Windungen, verlor sich immer weiter in einem Irrgarten, der kein Ende und kein Ziel zu haben schien, weiter und weiter lief er, ohne jemals auch nur die leiseste Spur des Hasen wiederzufinden. Tiefer senkten sich die Wolken, als trachteten sie danach, jeden Eindringling zu erdrücken, und silbrige Nebelschleier, zart verwobenes Gespinst, krochen über das feuchte Gras, das Boden und allmählich auch Mauern überwucherte, um auch den Rückweg in vollkommener Unkenntlichkeit zu verhüllen. Langsam verlor Druel jegliche Hoffnung, zurückgeschmettert in eine Zeit der Düsternis, aus der er sich befreit geglaubt hatte, und von düsteren Gedanken begleitet setzte er seinen Weg fort, bis er keinerlei Ziel mehr vor Augen hatte.
Doch als die ersten Regentropfen fielen und er beinahe schon zweifelte, den Hasen jemals wiederzufinden, geschweige denn einen Weg aus diesem unermesslichen Konstrukt, da glaubte er, aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrzunehmen, und in Ermangelung einer besseren Möglichkeit wandte er sich in die Richtung, die ihm nun gegeben war. Ein Wegweiser war erschienen, der all die Hinterlist des Labyrinths vergebens machte und inmitten all der Wirrnis den Wahren Weg unverkennbar beschrieb, wie eine hell sprühende Leuchtspur im Dunkel der Nacht. Druel glaubte fest daran, dass dies der Hase war, der ihn durch das Labyrinth führte, ja der ihm erst den Weg hierher eröffnet hatte. Der Hase, so war er sicher, führte ihn durch all die Gefahren, die hinter den Wegen liegen mochten, hinzu jenem einen Ziel, das er so lange gesucht hatte, und zu dessen Findung der Hase ihm als Schlüssel gegeben war.
Blind verließ er sich so auf einen Führer, den er nicht erfassen konnte, der jenseits seiner bewussten Wahrnehmung lag, und indem er so vertraute, durchquerte er zuletzt das Labyrinth, und die Wände wichen vor ihm beiseite, um den Blick freizugeben und jenseits des von wildem Grün umrankten Tores den Baum des Lebens zu enthüllen. Joseph Druel hatte das Zentrum erreicht.
.Der Baum der Erkenntnis.
Vor ihm erstreckte sich eine weite Ebene, die sich sachte zu einem sanften Hügel aufwarf, nach allen Seiten umgeben von den nur mehr vereinzelt unter der alles beherrschenden Vegetation hervor ragenden grauen Mauern des Labyrinths. Helles Licht brach durch einen Riss in der Wolkendecke und glitzerte spielerisch auf dem regennassen Gras, wo es sich in den gläsernen Tropfen als glühend farbiger Schleier zerstäubte und sich vermischte mit dem erfrischenden Duft feuchter Erde. Die Atmosphäre war verzaubert, leicht und magisch kündete sie von einer erwachenden Welt, die das Labyrinth überwunden und besiegt hatte und allmählich zum Verschwinden brachte, es in sich selbst aufnahm und daraus unter dem milden Zwielicht des aufbrechenden Himmels neues Leben gebar. Von all diesen Dingen jedoch sah Joseph Druel wenig, denn sein Blick war gebannt von jenem einen Wesen, das aus dem Zentrum des Hügels erwuchs und die gesamte Szenerie in seiner weithin strahlenden Herrlichkeit beherrschte.
Es war ein Baum und es war kein Baum. Es war ein Gefüge von hoher Kunst, ein filigranes Traumgebilde, ein Turm, obwohl es jeglichen Regeln der Architektur widersprach. Es war ein System, ein von Leiterbahnen und Schaltkreisen durchzogener Komplex, eine von Energie durchflossene Maschinerie. Joseph Druel konnte den Informationsfluss fühlen bis zu den Toren des Labyrinths, die hinter ihm mehr und mehr, gebrochen und unaufhaltsam, im Grün versanken, und von dort weiter hinaus in ungebrochene Grenzen, die jenseits lagen, er spürte den Datentransfer aus dem Inneren eines Baumes entspringen, der nur vorgab, ein Baum zu sein, und doch viel mehr war. Das Objekt inmitten des ewigen, ausweglosen Labyrinths imitierte bloß ein einzelnes, lebendes Individuum. In Wahrheit war es das Leben selbst.
Es dauerte eine Weile, bis Druel begriff, dass dies die Maschinerie des Universums war, das Räderwerk, das alles Leben in Gang hielt. Dies war der Baum der Erkenntnis. Und er war gewaltig. Bis in den Himmel reichten seine in unmöglichen Winkeln verschraubten Äste, die das verwobene Grau der Wolken berührten und aus deren Rinde zerflossenes Licht in enigmatischen goldenen Bahnen den dunklen Stamm herablief. In diesem Baum, der sich ständig regenerierte und aus sich selbst heraus neue, schillernde Sprosse trieb, in sprühender Leichtigkeit erblühte und leuchtende Früchte entwickelte, in diesem Baum, der unzähligem Getier Raum bot, flinken Springern mit wissend glänzenden Augen und Vögeln mit flammendem Gefieder, deren Gesang weit über das kollabierende Labyrinth hinwegschallte, in diesem Baum und den goldenen Ornamenten, die er aus sich heraus schuf, lag das Geheimnis des Lebens. Und am Fuße jenes Baums, inmitten der mächtigen, von mattglühendem Moos bedeckten Wurzeln, saß der Hase, das Geschöpf, das ihn an diesen Ort geführt hatte, und blickte Druel aus seinen rätselhaften, dunklen Augen an.
Da erkannte er, dass er nicht mehr suchen musste, denn er hatte seine Antwort gefunden, eine Antwort, die er seit Anbeginn seines Strebens in sich getragen hatte, und die Antwort lag im Leben selbst. Er musste nicht weiter forschen, denn jetzt wusste er, dass nichts verloren ging, eingebettet im ewigen Kreislauf des Baumes, und dass er einfach unbesorgt sein Leben führen konnte. Denn der Baum welkte nicht, und er konnte immer wieder hierher zurückkehren. Vor ihm erhob sich der Baum des Lebens und hinter ihm war das Labyrinth verschwunden, aufgegangen im Strom von Einsicht und Wiedergeburt.
Selbstfindung ist ein langwieriger Prozess, und viele verlieren sich auf dem Weg dorthin. Joseph Druel war lange Zeit von seinem eigenen Pfad abgekommen, und ohne einen Führer, der ihm über all die Hindernisse, all die Widrigkeiten des Lebens, die sich ihm entgegenstellten, hinweghalf, wäre er wohl hoffnungslos verloren gewesen. Für Druel war der Hase ein solcher Führer gewesen, ein Wegweiser, der ihn Schritt für Schritt zurück zu sich selbst gebracht hatte, bis er schließlich auf die Essenz dessen gestoßen war, was ihn in seiner Gesamtheit ausmachte, den unbezahlbaren Schatz, den nur er besaß, und von dem nur er den anderen geben konnte. Es war vollkommen gleich, was er tat, so lange er nur seiner inneren Stimme folgte, solange er nur er selbst blieb und seinem ureigensten Wesen folgte. Er war einen langen Umweg gegangen, doch jetzt wusste er, dass der Aufwand nicht umsonst gewesen war, denn hätte er die einfachere Variante gewählt, die breite, vorgeebnete Straße, wie die meisten Menschen sie benutzen, die sich einfach durch den Alltag treiben lassen, niemals hätte er den Baum zu Gesicht bekommen und den tatsächlichen Sinn seines Strebens erfahren, jenen Sinn, der in sich selbst lag und keiner Rechtfertigung bedurfte.
All diese Wahrheiten eröffneten sich ihm nun, hier unter dem Baum des Lebens, und Joseph Druel stellte fest, dass er mit dieser Erkenntnis nach so langer Suche seine perfekte Ausdrucksform endlich gefunden hatte. Mit dieser Gewissheit im Herzen ließ er das sterbende Labyrinth hinter sich, um den Menschen die verlorene Hoffnung wiederzubringen.