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Der heimliche Wunsch

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23.09.2008
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Der heimliche Wunsch

Meine armen Eltern. Sie tun mir leid.
Die Leute gucken sie schon komisch an und reden hinter ihrem Rücken. Und das meinetwegen. Weil ich so dünn, so blass und so stur bin und niemandem direkt ins Gesicht schauen kann. Weil ich mich nicht benehmen kann. Weil ich mich nicht benehmen kann und dumm bin. Weil ich mich nicht benehmen kann und dumm und böse bin. Ja, böse.

Wen wundert es da noch, dass ihnen meine bloße Anwesenheit lästig ist? Sie sagen, so was wie mich braucht kein Mensch. Das lassen sie mich jeden Tag spüren. Mit jedem ihrer Blicke, die mich nicht nur von vorn, sondern auch von hinten treffen. In Momenten ihrer lauten Wut spüre ich deutlich ihren Widerwillen, ihren Ekel.
Ja, es ekelt sie vor mir, da ich klapperdürr bin. Und blass. Und krumm dasitze. Und meine Nägel kaue, bis meine Fingerkuppen bluten. Und immer öfter stiere ich einfach nur so vor mich hin und sage nichts. Wer kann mich schon lieben? Sie haben ja so Recht. So bin ich.

Zu gern würde ich mich unsichtbar machen, wenn ich nur könnte. Ja, wenn ich es nur könnte! Aber noch nicht einmal das kann ich. Wie oft versuche ich zu verschwinden, nicht mehr da zu sein; esse kaum etwas, trotz der Prügel, mit der sie jeden Bissen in mich hinein zu hämmern versuchen. Doch ich bin da. Immerfort da. Dünn, aber da.

Sie sagen, sie hätten mit mir ein schweres Kreuz zu tragen. Das schwerste überhaupt. Ich wiege und laste derart schwer, so unbeschreiblich schwer, sagen sie, dass sie nur meinetwegen bis weit über ihre Grenzen hinaus erschöpft sind. Ich bin die Schlimmste von allen, sagen sie. Die Schlimmste, Ungezogenste, Trotzigste, Vorlauteste und Undankbarste.

Dabei möchte ich so gern gut sein. Tief in mir spüre ich etwas, was gut ist. Manchmal fühle ich es. Abends, vorm Einschlafen. Aber das Gute in mir stößt immer und immer wieder gegen eine Wand aus dickem Gummi, aus der nichts nach außen dringt. So sehr ich auch suche, so sehr ich mich auch abmühe. Es gibt keine Spalte, nicht mal eine klitzekleine Ritze, durch die das Gute hindurch schlüpfen kann.

Was werfen ihnen die Leute vor? Die Beulen an meinem Kopf? Die blauen Flecke an meinen Armen? Die verschorften Wunden?
Wenn ich gefragt werde, sage ich es. Sage es laut und deutlich. Oh ja, das kann ich gut, da kann ich laut sein. Da darf ich laut sein, ich muss es sogar!

Vor einigen Wochen war eine Frau vom Amt da. Sie hat meine Mutter gefragt, woher ich die blauen Flecke und Wunden habe.
„Sie ist einfach zu ungeschickt. Sehr, sehr ungeschickt. Ich kann gar nicht sagen, wie ungeschickt sie ist! Das müssen sie mal erleben! Nicht wahr, meine Kleine?“ Dabei streichelt sie mir über den Kopf.
Ich nicke und schmiege mich an sie.
Das ist doch ganz einfach: Die Beulen stammen von einem Sturz. Das verquollene Auge zum Beispiel habe ich selbst verschuldet. Jawohl. Ich bin aus Ungeschicklichkeit in die Faust meiner Schwester gelaufen.
Oder neulich, da wollte ich einen Nagel heraus ziehen. Dabei bin ich abgerutscht. Ausgerutscht. Gestolpert. Gestürzt. Ein Hund hat mich vor ein paar Wochen angefallen. Und vor zwei Tagen bin ich gegen eine Schaukel gelaufen. Oder gegen ein Fahrrad geknallt? Sie und ich wissen es nicht mehr, weil mir ständig so was passiert. Sie und ich können alles erklären. Alles!
Die Frau ist nie wieder gekommen.

Und selbst dann; wenn es so wäre, wie die Leute denken. Wenn die Beulen und Flecke und Male, die die Leute an mir sehen von meinen Eltern stammen, so wissen die Leute doch nur die Hälfte von dem was sie tun, aber die andere Hälfte, nämlich davon, was ich tat, damit sie es taten; ja, tun mussten!,… wissen die Leute nichts.

Ich schreie zu laut. Ich weine zu laut. Ich muss mir das abgewöhnen!
Ich könnte ja dabei zählen. Zahlenreihen bilden, Schäfchen zählen. Ein Schaf - patsch. Zwei Schafe - patsch, patsch. Gedichte aufsagen. Ein Lied singen. An den Struwwelpeter und an Hans- guck- in- die- Luft denken. Oder an den Zappel- Phillip. Am fünften Tage war er tot. Oder war es der siebte? Oder an Bibi Blocksberg. Ich könnte mir wünschen, Bibi Blocksberg zu sein - hex, hex! – und schwupps!..., bin ich weg. Oder an Benjamin Blümchen, der laut „Töröhhh!“ ruft, damit ich ihr Geschrei nicht höre, während sie auf mich eindreschen. Ich kann alles Mögliche sein. Kann alles Mögliche tun, damit ich nicht da bin. Ich kann anwesend sein, aber nicht wirklich da sein. Ich muss das hinkriegen! Ich muss.

Sie können mir unmöglich meine Schlechtigkeiten durchgehen lassen. Das sehe ich ein. Sie können den Dreck nicht übersehen, den ich mache. Den Lärm nicht überhören, den ich verursache. Sie können es nicht einmal überhören, wenn ich still bin, denn dann führe ich garantiert etwas im Schilde. Ich führe eigentlich immer etwas im Schilde, denn ich bin verschlagen. Verschlagen, hinterrücks und von Grund auf schlecht. Ein durch und durch schlechter Charakter. Es ist immer besser, wenn mit mir umgehend kurzer Prozess gemacht wird. Gar nicht lange fackeln. Hose runter. Bück dich:
Kochlöffel auf den Hintern. Ledergürtel auf nackter Haut. Siegelring mit flacher Hand mitten ins Gesicht. Patsch und fertig. Wenn erst lange gefackelt wird, bin ich sofort wieder böse, steigen gleich wieder falsche Hoffnungen in mir auf. Und schlechte Gedanken. Wenn die Leute wüssten, wie viele schlechte Gedanken in meinem Hirn stecken. Was da für ein Druck herrscht! Zerstörungswut, Hass, üble Verwünschungen. Sie können und dürfen es mir nicht durchgehen lassen. Sie können mich MIR nicht durchgehen lassen! Die Leute können ja sagen was sie wollen, aber sie kennen mich nicht. Nicht wirklich.

Hinterher weine ich. Leise. Heimlich. Im Verborgenen. Da kann ich leise weinen.
Da gehts.
Unter meiner Matratze hab ich ein Foto versteckt. Es ist schon ganz zerknittert und aufgeweicht, weil ich es so oft anschaue und meine Tränen darauf tropfen. Es zeigt meine Eltern, die ihre Arme um mich gelegt haben. Links und rechts von ihnen sind meine Geschwister zu sehen. Sie lachen und sehen fröhlich aus und sogar ich lächle ein bisschen. Es ist so schön! Ich muss es immer wieder ansehen.

Wenn ich mich ausgeweint habe und ganz leer bin, wenn ich schwach bin, in die Knie gehe und bereue, was ich getan habe, spreche ich in Gedanken mit ihnen. Dabei schaukele ich mit meinem Oberkörper hin und her.
„Wisst ihr noch“? , summe ich leise, „wisst ihr noch, wie gut es war, ohne mich? Ihr hattet kein böses Mädchen, keine Aufregung, keinen Kummer. Ach, könnte es doch wieder so sein. Es wäre für alle besser, wenn ich nicht mehr da bin. Schlagt mich doch einfach tot."

Doch das ist nur ein Traum. Das darf ich mir in Wahrheit gar nicht wünschen! Ich muss zusehen, dass ich am Leben bleibe, zu unser aller Pech. Wie stehn sie sonst da? Mit einem erschlagenen Kind!

Wer, wenn nicht ich, soll den Leuten erklären, dass es ein Unfall war?

 

Sua Sponti:
ein starker Text. Ein angreifender doch kein selbstmitleidiger Text. Ein ganz, ganz "runder" Text!

Meine armen Eltern. Sie tun mir leid.
Wunderbarer Einstieg,dieser Satz macht neugierig.

Doch ich bin da. Immerfort da. Dünn, aber da.
Ja. Das Leben weicht nicht so schnell.

Dabei streichelt sie mir über den Kopf.
Ich nicke und schmiege mich an sie.

Ein weiterer starker Satz, der die Not, das Elend, die Bedürftigkeit es kleinen, geschundenen Mädchens zeigt. Die Solidarisierung des Opfers mit dem Täter.-

Wenn die Beulen und Flecke und Male, die die Leute an mir sehen von ihnen stammen, so wissen die Leute doch nur die Hälfte von dem was sie tun, aber die andere Hälfte, nämlich davon, was ich tat, damit sie es taten; ja, tun mussten!,… wissen die Leute nichts.

Tja, was soll ich sagen? Noch so ein starker, verschlüsselter Satz, der alles, das ganze Seelenfeuer des Kindes offen legt...

Ich habe hier, bis auf absolute Kleinigkeiten, die noch nicht mal erwähnenswert sind, absolut nichts zu meckern:

Glückwunsch. Es ist für mich ein ganz dichter, gruseliger, distanziert naher Text.

WOW.

 

Hallo Knallfröschli :)

Ein äußerst witziger nickname! :D
Stelle mir darunter ein temperamentvolles Fröschlein vor, das mit seinen Beiträgen + Kommentaren einen "Knaller" verursacht und fühle mich deshalb zweifelsohne sehr geschmeichelt. WOW!
Danke,
sagt Sua Sponte

 

Hallo Sua,

auch ich finde den Text gelungen. Die Zerrissenheit des Kindes, dessen Glaube, das richtig ist, was ihm geschieht, sind gut getroffen.
Nur ein paar Kleinigkeiten:

Ich wiege und laste derart schwer, so unbeschreiblich schwer, sagen sie, dass sie nur wegen mir bis weit über ihre Grenzen hinaus erschöpft sind.
Auch wenn es ein Text aus Kinderperspektive ist, würde ich hier den Genitiv benutzen: dass sie nur meinetwegen bis ...
Ich bin die schlimmste von allen, sagen sie. Die schlimmste, ungezogenste, trotzigste, vorlauteste und undankbarste.
Sind zwar alles Adjektive, werden aber als Satzobjekt benutzt und müssen entsprechend groß geschrieben werden.
Eine dunkle Membran, aus der nichts nach außen dringt.
zwar schade um die Membran, aber dem Alter der Erzählerin eher nicht gemäß
Und selbst dann; wenn es so wäre, wie die Leute denken. Wenn die Beulen und Flecke und Male, die die Leute an mir sehen von ihnen stammen, so wissen die Leute doch nur die Hälfte von dem was sie tun, aber die andere Hälfte, nämlich davon, was ich tat, damit sie es taten; ja, tun mussten!,… wissen die Leute nichts.
wenn du es so erzählst, wissen die Leute es genau, denn in diesem Aufbau stammen auch die Beulen, Flecken und Male von den Leuten. Der Bezug ist unklar. Nun kannst du einwenden, jeder weiß doch, was gemeint ist, grammatikalisch ausgedrückt hast du es aber nicht.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Sim,

danke für deine wertvollen Hinweise. Stimme dir komplett zu und werde sie dementsprechend ändern.

Hallo Rueganerin,

bisschen off-topic ... ja, liest sich ein wenig nach Eigenwerbung, den eigenen Beitrag zu erwähnen. Empfand es ähnlich, als ich den Hinweis abgeschickt hatte, war selbst im Zweifel ... fiel mir erst viel später im Auto ein, auf den Beitrag per PN hinzuweisen, aber da war ich bereits beruflich unterwegs. Nu isset passiert ... :hmm:

Danke Euch fürs positive feedback!

Lieben Gruß
Sua Sponte

 

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