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Der Held
„Hey Tom, kannst du mir etwas Geld leihen?“ Thomas schaute gerade in seinen fast leeren Geldbeutel, als Jans Stimme seine Ohren erreichte. Er sah auf, sah nochmals in seinen Geldbeutel, dann wieder zu Jan. „Ja klar, kein Thema. Wie viel brauchst du denn?“ - „Eins fünfzig.“ - „Hier.“ – „Danke dir.“ Tom steckte seine leere Geldbörse zurück in die Hosentasche. „Willst du dir denn nichts holen?“ Jan sah in mit fragendem Gesicht an, auf dem ein leiser Anflug von schlechten Gewissen lag. „Ne, hab mir heut morgen meinen Bauch ziemlich voll geschlagen, hab jetzt noch keinen Hunger.“ Tom grinste seinen Freund an, während er sich seinen angeblich vollen Bauch rieb. Damit gab sich Jan zufrieden, kaufte sich sein Pausenbrot und die beiden Jungen gingen zurück zum Schulgebäude. Die nächste Stunde fing schon bald an.
Sie waren kurz vor dem großen Eingang der Geschwister Scholl Realschule, als Tom eine alte Frau erblickte, die verzweifelt versuchte über die Straße zu gelangen, ein paar Schritte nach vorne ging, sich rasch wieder zurückzog, als ein Auto die Straße entlang fuhr, sich wieder umsah. Tom zögerte einen Moment, schaute auf die Uhr, dachte kurz nach. „Hey Jan, geh schon mal vor, ich komme gleich nach.“ – „Bist du dir sicher? Alter, wir sind eh schon spät dran, du weißt du wie Frau Glose abgeht wenn wir nicht pünktlich im Klassenraum sind!“ – „Ich find schon irgendeine Ausrede.“ – „Wie du meinst. Bis gleich.“
Jan eilte zur Eingangstür und verschwand im Dunkel der riesigen Empfangshalle, als Tom das Schellen der Schulglocke hörte. Er lief zu der alten Frau hin, die es gerade in diesem Moment verfluchte, eine alte Schachtel zu sein, die es nicht einmal schaffte, über diese scheiß Straße zu kommen. Da bemerkte sie den Jungen, der plötzlich neben ihr aufgetaucht war. Er bot ihr an, sie über die Straße zu begleiten, und die Frau nahm das Angebot dankbar lächelnd an. „Was für ein netter Junge“, dachte sie, als Tom sie sacht am Arm hielt und sicher über die Straße brachte. Sie bedankte sich, bot dem netten Jungen etwas Geld für seine Mühen an, doch er lehnte lächelnd ab und lief wieder zur anderen Straßenseite zurück, ehe die Frau Gelegenheit bekam, Einwände zu erheben und dem Jungen doch noch das Geld zu geben. „Was für ein netter Junge“, dachte sie noch einmal.
Es war schon drei Uhr, als Tom mit seinem Ranzen auf den Rücken den Nachhauseweg antrat. Er hatte etwas länger in der Schule bleiben müssen. Frau Glose war tatsächlich ziemlich „abgegangen“, als Tom zehn Minuten zu spät in den Unterricht gestürmt kam. Sie hatte eine Salve von wütenden Vorträgen über Pünktlichkeit und Anstand auf Tom niederprasseln lassen, ehe sie ihm einen Tadel, eine Sechs für nicht gemachte Hausaufgaben (Tom hatte seine Hausaufgaben gemacht, er war lediglich nicht da gewesen, als Frau Glose sie kontrollierte) und Nachsitzen aufhalste. Tom war es mehr oder weniger egal; Frau Glose hatte genügend andere Schüler auf dem Kicker, die es noch viel schlechtere trafen als Tom, und so hatte er es sich die Prozedur stillschweigend über sich ergehen lassen. Außerdem hatte Herr Klein beim Nachsitzen Aufsicht gehalten, den Tom besonders mochte, und mit dem er sich die vollen zwei zusätzlichen Stunden über die James Bond Filmreihe unterhalten hatte. Plötzlich fiel Tom ein kleiner Junge auf, der zusammengekauert und mit von Tränen verschmiertem Gesicht an einem Baum hockt.
Der kleine Junge weinte gerade still vor sich hin, als Tom auf ihn zugelaufen kam. „Hey kleiner, alles in Ordnung?“ Tom hockte sich vor den Jungen und sah in besorgt an. „Warum weinst du denn?“ Der Junge erwiderte Toms Blick irritiert. Dann wischte er sich die Tränen von der Wange und begann langsam zu erzählen. „Ich kann nicht mehr nach Hause.“ – „Und warum nicht? Hast du Stress mit deinen Eltern gehabt?“ – „Nein.“ – „Was dann?“ Langsam machte sich Tom echte Sorgen um den kleinen. „Ich“, begann dieser, „ich… ich habe heut morgen meine Mathearbeit zurückbekommen.“ Tom begriff. „Und die war wohl nicht sonderlich gut ausgefallen, was?“ Der Junge schüttelte bestätigend den Kopf, dann schniefte er. Tom lächelte. „Hey, das ist doch jedem schon mal passiert. Bloß keine Sorge, deine Eltern werden dich vielleicht schimpfen, aber das wirst du ertragen können und morgen haben deine Eltern deine schlechte Note längst wieder vergessen.“ – „Bist du sicher?“ – „Klar.“ Tom grinste bestätigend. „Also, soll ich dich ein Stück nach Hause begleiten?“ – „Nein, vielen Dank, ich schaff das alleine.“ Der junge lächelte Tom verlegen an. Dann bedankte er sich erneut und rannte nach Hause. Seine Eltern schimpften ihn wirklich, aber am selben Abend noch waren sie nicht mehr sauer auf ihn. Einen Tag früher, als es Tom prophezeit hatte.
Tom war fast daheim angekommen, als er plötzlich Rauch ein paar Straßen weiter aufsteigen sah. Dann Feuerwehrsirenen. Tom zögerte. Er war ziemlich müde und wollte eigentlich nur noch nach Hause. „Aber vielleicht kann ich irgendwie helfen“, murmelte er. Er dachte kurz darüber nach, dann lief er in die Richtung, aus der der Rauch zu kommen schien. Er sah schon von weitem das brennende Haus. Rote und gelbe Flammen lugten aus den Fenstern heraus, fast das komplette Haus war in einen roten Schleier gehüllt. Vor dem Haus standen ein paar Leute mit entsetzten Gesichtern, nicht weit daneben eine vergleichsweise große, gaffende Menge. Kurz vorher eingetroffene Feuerwehrmänner bereiteten die Löschung vor. Tom war gerade am Haus angekommen, als jäh ein Aufschrei durch die Straße hallte. „Mein Gott, mein Junge! Mein Junge ist noch da drin!“
Tom folgte dem Blick der verzweifelten Frau, hoch zu einem der noch nicht von Flammen verdeckten Fenster. Ein kleiner Junge lugte weinend und nach seiner Mutter rufend daraus hervor. „Das ist doch nicht… nein.“ Für einen kurzen Moment hatte Tom geglaubt, es wäre der Junge mit der schlechten Mathearbeit gewesen. Aber der Junge schwebte trotzdem in Lebensgefahr. Jemand musste ihm helfen, ihn da raus holen. Keiner machte Anstalten, den Jungen zu retten. Tom tat dass, was er in solch einer Situation immer tat: er zögerte, dachte über die Situation nach. „Dass schaff ich doch nie… ich kann da doch nicht einfach reinlaufen. Was wenn ich es nicht schaffe.“ Todesängste stiegen in ihm auf. Sein Herz pochte immer schneller. Er atmete tief durch, schloss die Augen, machte sie wieder auf. „Jetzt oder nie…“ Er wollte Anlauf nehmen, doch seine Beine waren wie festgefroren. Da sah er einen der Feuerwehrmänner durch den Eingang des Feuerpalastes rennen, während die anderen Männer versuchten, das Haus zu löschen.
Toms Herz schlug plötzlich ganz langsam. Es schien als würde die Zeit stillstehen. Er hörte die Schreie der Mutter. Er hörte das Lodern der Flammen. Wasserstrahlen schossen auf das Flammenmonster nieder. Toms Herz blieb für einen Augenblick stehen. Dann kam der Feuerwehrmann wieder herausgelaufen, den kleinen, erschöpften aber lebendigen Jungen unterm Arm haltend. Die Welt um Tom kehrte zurück. Der Mann übergab das Kind der weinenden Mutter, die es so sehr an ihre Brust drückte, dass der erschöpfte Junge fast erstickte. Jubelruf von der gaffenden Menge. Die anderen Feuerwehrmänner gratulierten zu der Heldentat, klopften ihrem Partner auf die Schulter.
Tom stand einfach nur da und sah zu. Dann atmete er erleichtert auf. Alles war gut. Er drehte sich um und trottete nach Hause. Als er über die Türschwelle ging flackerte kurz ein Gedanke in ihm auf: „Ich wünschte, ich wäre auch ein Held.“ Wenig später warf er sich müde auf sein Bett und schlief ein.