Der Hut
Der Hut
Er schaute sich um, ließ seinen Blick durch die belebte Gasse gleiten und sah dem Treiben der Menschen zu. Wie sie mit ihren großen Einkaufstaschen fast panisch die Straße hinauf und hinab stolperten ohne auch nur einen Moment zu verschnaufen und ihren ständig plappernden Mund
zu schließen. Dann wären auch sie endlich einmal auf ihre Umgebung aufmerksam geworden und deren Gefahren. „Vor allem die Gefahren“, dachte der Mann mit dem großen Hut, der in einem der kleinen, wunderbar schönen, italienischen Cafés saß. Eines, für einen normalen Touristen völlig gewöhnliches und unscheinbares Café, wie jedes Andere auch.
Doch dieses kleine, an der Ecke des San Marco Platzes in Venedig, liegende Café war das Einzige, das keine Angestellten besaß, der nicht im Register des Mannes verzeichnet und sich ausdrücklich als ungefährlich erwiesen hatte. Keine Angestellten mit Vorstrafen, ungewöhnlichen Hobbys oder gar seltsamen Verwandten, die sich höchst wahrscheinlich als kriminelle Mörder oder Mafia-Bosse herausstellen würden. Dieses Café war der einzige Platz in Venedig an dem der Mann mit dem Hut keinen Überfall oder Attentat vermutete. Hier sah er nicht erst unter den Stuhl, um sich zu vergewissern das keine Bombe darunter befestigt war. Hier lehnte er sich sogar zurück, um kurz den schwarzen Zylinder etwas anzuheben, sodass, hätte man direkt vor ihm gestanden, das Funkeln in seinen Augen hätte bemerken können mit dem er gerade den Passanten vor sich bedachte.
Denn alle außerhalb von diesem Platz der Ruhe waren natürlich verdächtig.
Hinter jeder Ecke konnte die dunkle Gefahr lauern, darauf wartend, dass kleine, schmächtige Menschen wie er sich in die falschen Gegenden verlaufen, um sie dann heimtückisch zu überfallen.
Sich dieser Tatsache bewusst schob der Mann seinen Hut wieder schnell zurück und verstecke seinen Blick erneut im Schatten der Hutkrempe.
Seinen Hut nahm der Mann niemals ab, außer zum Schlafen, aber selbst das vergaß er manchmal.
Denn für ihn war der Hut kein Hut. Er war sein Freund, sein Einziger um genau zu sein.
Er war sein Beschützer und das nicht nur vor den anderen Menschen, er beschützte ihn auch vor der Einsamkeit, in Wahrheit die größte Angst des Mannes, eines Tages ganz allein zu sein.
Der Hut gehörte einfach zu ihm, er war der Hut, oder besser der Hut war der Mann.
Ohne den Hut war der Mann nicht er selbst. Hinter ihm konnte er sich verstecken, tarnen und zu weil auch verschwinden.
Dann war da niemand mehr, nur noch eine alte, heruntergekommene Kopfbedeckung,
die meist in irgendwelchen Ecken dunkler Gassen lag. Nicht beachtet, nicht gesehen, nicht da.
Einmal als der Mann noch klein gewesen war und der Hut ihm zu groß, über beide Ohren hängend, jedoch noch neu und glänzend, damals hatte er es das erste Mal geschafft, zu verschwinden hinter dem Hut. Die Angst hatte in dazu gebracht. Ein schneller Läufer war er nie gewesen, also vor den Banden in den heruntergekommenen Vierteln, in denen auch er aufgewachsen war, weg zu laufen war keine gute Wahl. Also kauerte er sich einfach nieder, war still und stellte sich vor er wäre ganz woanders.
Dieser Gedanke schien sich in diesen Momenten auch in das Bewusstsein seiner Gegner eingeschlichen zu haben. Denn gefunden hatten sie ihn nie.
Und auch als Erwachsener passierte es noch manchmal, zwar war er jetzt nicht mehr in solch geradezu zwingenden Notlagen, aber einfach zu verschwinden ist wohl einer der angenehmsten Lösungen für manche Probleme.
Der Mann mit dem großen Hut erhob sich, legte etwas Geld für seine Tasse Kaffee auf den Tisch, der übrigens scheußlich geschmeckt hatte, doch was tat man nicht alles für ein bisschen Sicherheit und machte sich daran zu gehen.
Mit schweren Herzen übertrat er die mit Geranienkästen gesäumte Grenze in die gefährliche Welt. Er überquerte den Platz, natürlich hatte er zuvor die hübsche Mopetfahrerin durch gelassen hatte, die ihm mit einem solch herzlichen lächeln begrüßt hatte, dass dies schon wieder verdächtigt wirkte. Gerade überlegte er das sie wahrscheinlich als Seife getarnten Sprengstoff bei sich haben musste, denn ein starker Frühlingsduft, eine Mischungen aus Rose und Vanille, war ihm bei ihrem Vorbeifahren in die Nase geflogen. Noch ganz benommen war er auch schon an der Bäckerei gegenüber von seinem Haus angekommen. Er öffnete die verglaste Tür und sah in das rote runde und etwas auf gequollene Gesicht der Verkäuferin. Jedes Mal wenn er sie sah stieg ihm die Wut in den Kopf. Diese Frau besaß eine gerade zu verblüffende Ähnlichkeit mit einem Mann, den er im Polizeibericht unter der Kategorie 'Gesucht' entdeckt hatte. Doch keiner seiner Nachforschungen hatte ein befriedigendes Ergebnis hervorgebracht, sie musste eine gerade zu perfekte Tarnung besitzen.
Er nahm seine drei Brötchen entgegen und lief jetzt etwas schneller zur Eingangstür seiner Wohnung, denn gerade hatte er seinen Vermieter die Straße entlang kommen sehen.
Er dachte schon er hätte es geschafft, doch kurz bevor er die Treppe hinauf gehastet und in seiner halbwegs sicheren Wohnung angekommen war, gellte die gerade zu aggressive Stimme seines Hausherren an sein Ohr. „ Hey, Mr.! Sie schulden mir noch die Monatsrate, hören sie, ich kann nicht länger warten. Sie können sich nicht ewig verstecken!“, rief er ihm noch schnell zu, als er die Wohnungstür ins Schloss fallen hörte.
„Doch das kann ich“, flüsterte der Mann mit dem großen Hut in die Leere seiner Wohnung hinein und eine Träne rollte ihm die Wange hinunter.
Und würde der Mann eines Tages sterben, es würde niemand bemerken, denn er wäre dann schon längst verschwunden, schon längst in einer anderen Welt.
Nur einer wäre dann noch immer am selben leeren Ort, einsam, zurückgelassen und leer.
Der Hut