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Der Idiot
Der Idiot (der 11. November)
Am Morgen des 11. Novembers war Mark Horn ein wahrer Idiot, der das Leben in seiner ganzen Form und Fülle verkannte. Stunden später war er es nicht mehr; Stunden später jedoch war er ebenso tot. Am Morgen des 11. Novembers fuhr Mark Horn wie jeden seiner Tage mit der S-Bahn zur Arbeit. Er trug einen abgeschlissenden Anzug, der das einzige war , womit er sich die letzten 30 Jahre bekleidet hatte, die Krawatte streng gebunden. Braun in Braun. Menschenmassen quollen in einem zähen Fluß durch die Bahnhöfe und bereits in den frühen Morgenstunden war die Luft in den Waggons von beißendem Schweißgeruch geschwängert. Mark spürte wie die Enge die Wut in ihm hochkochen lies. Der Sauerstoffmangel tat sein übriges zu einem penetranten Pochen in seinen Schläfen. Bereits zwei Haltestellen früher drängte er in Richtung Ausgang, als verdiene er allein den ersten kühlenden Windzug draußen, sobald die Türen aufschwangen. Wenn es soweit war, war er derjenige, der die Hochschwangere rücksichtslos vor sich herschob, sodass sie ins Taumeln geriet und beim Versuch auszusteigen wohlmöglich zwischen Bahn und Bahnsteig ihr Kind und vielleicht noch ihre Beine verlor. Oder derjenige, der beim Mann-zu-Mann-Kampf bei der Jagd auf den ersten regenerierenden Atemzug einer 92-jährigen mit dem Ellenbogen die dritten Zähne ausschlug, auf denen wiederum das nächste Kind ausrutschte und die ganze umstehende Brigade mit sich zu Boden riss. Dann drehte er sich nicht um und selbst wenn er bemerkte, welche Spur der Verwüstung er hinter sich her zog, konnte ihm das kein bisschen mehr Interesse abbringen. Den Job machte er nun seit über 30 Jahren und jeder Tag gestaltete sich genauso schlimm wie der vohrige. Und die Kollegen. Er sah von Weiten schon die in die Jahre gekommende Empfangsdame. Die war es ebenso nötig auszuwechseln wie die Alte vom Chef. Morgen, singsangte sie fröhlich. Dann stockte der modrige Atem. Sie dachte: der alte Griesgram. Der alte Sack. Gib den Löffel auch nich ab. Er passierte sie wortlos, brachte nicht die Mühe auf ihr Beachtung zu schenken. Dann kämpfte er sich wacker durch den Tag, machte die ihm Untergestelten zur Sau, trug ihnen seine Aufgaben auf, legte die Füße auf den Tisch, und surfte im Internet. Er vertraute auf Frühpansionierung und er arbeitet bereits an einer dubiosen Krankheit. Gott, war man dumm. Warum arbeiten, wenn es andere für dich tun. Mark stand auf und machte Schluss für heute. Eine Viertelstunde zu früh. Die grässliche Empfangsschachtel war immer noch da und immer noch über dem Verfallsdatum. Raucherhaut. Auf Wiedersehn Herr Horn, rief sie ihm nach und dachte: So ein Idiot. Gott, war man dumm, wenn man das Leben ignorierte. Am Abend des 11 Novembers dann stieg Mark Horn wieder in die S-Bahn so wie ein ganzer Fluss von Menschenmassen und es war stickig und roch nach Schweiß und in seinen Kopf hämmerte der Schmerz und Wut schäumte in ihm auf. Und eigentlich war es wie immer, bis auf eine Kleinigkeit, die anders war. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bahn klammerte sich ein hagerer Mann mit verbissenem Gesicht an der Halterung entlang der Decke fest. Er trug einen abgeschlissenden Anzug, der gute 30 Jahre alt sein mochte, die Krawatte streng gebunden. Braun in Braun. Er erinnerte Mark an jemanden, doch ihm kam bei Leibe nicht in den Sinn an wen. Die üblichen zwei Haltestellen vor der seinen war ihm die Erleuchtung immer noch nicht gekommen. Diesmal war es nicht er, der zuerst an der Tür war. Ein anderer Mann drängte sich gewaltsam an ihm vorbei und nahm den Platz ein, für den nur er allein berechtigt war. Es war der Mann, der ihm bekannt vorkam. Als die Türen schließlich aufschwangen und Mark ansetzte sein Recht gelten zu machen, stieß er auf unerwarteten Widerstand. Tatsächlich war es sein Vordermann, dem es zuerst gelang den Bahnsteig zu erreichen. Dessen Ellenbogen schoss mit voller Wucht in sein Gesicht. Er schmeckte Blut, ein betäubender Schmerz setzte ein und zwang ihn in die Knie. Die umstehende Brigade streckte ihre Arme nach ihm aus und versuchte ihn wieder auf die Beine zu wuchten. Es war eine Hochschwangere, die half, und eine alte Frau, etwa 92 Jahre alt, und ein Kind, das nach seinen Armen griff, und ihm zum Trost anlachte. Ein unbeschwertes, freies Kinderlachen. Von da unten war die Perspektive eine ganz andere. Das Lachen schallte in seinen Ohren und brachte ein wenig Licht in das Leben eines verbitterten, hageren Grisgrams. Warm, wie das Blut, das ihm aus der Nase sickerte, wurde ihm ums Herz beim Klang dieses Lachens, bevor er die Augen schloss. Es war das letzte, was er sah und hörte in seinem Leben, das letzte was er spürte. Im nächsten Moment war er dann tot. Mark Horn, ein wahrer Idiot, der das Leben erst mit dem letzten regenerierenden Windzug draußen außerhalb der S-Bahn erkannte, starb an einer dubiosen Krankheit.