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Der Irrgarten
„Aber ja“, sagte das kleine Wesen, der Zwerg, Wichtel, oder was immer es war. „Begib dich in den Irrgarten. Wenn du den richtigen Weg gehst, wirst du ihn als sehr glücklicher Mann verlassen.“
Genau deshalb war er hier. Eben davon hatte er gehört. Und dennoch war da ein gewisses Unbehagen. Riff sah seinem Gegenüber tief in die blitzenden kleinen Augen. Eine innere Stimme warnte ihn, umzukehren und diesen berühmt-berüchtigten Irrgarten für immer hinter sich zu lassen. Sein warnender Instinkt war fast immer ein guter Grund sich zurückzuziehen. Aber wie so oft schien ihm der Grund, der ihn hergeführt hatte – die Aussicht auf reiche Beute – wieder der bessere zu sein. Außerdem hatte er einen Ruf als Bester unter den unbekannten Dieben des Landes zu verlieren. „Ich könnte also etwas von hohem Wert finden, ja?“, vergewisserte er sich noch einmal.
„Oh ja. Von sehr hohem Wert. Das Wertvollste von der ganzen Welt, würde ich sagen.“ Das kleine Wesen wippte auf den fingerlangen Zehen auf und ab und beobachtete mit schiefgelegtem Kopf jede Veränderung in seinem lebendigen Mienenspiel.
Riff sah noch einmal zu dem dunklen Tor hinüber, über dem bezeichnender Weise eine Reihe von Totenköpfen hing. Einmal mehr schoben sich seine Lippen zwischen den Zähnen hin und her. Nein, so wollte er nicht enden, aber andererseits – hieß es nicht „Hunde die bellen, beißen nicht“? Na ja, auch da hatte Riff schon andere Erfahrungen gemacht, aber nur weil bisher nicht alles ein seinem Leben glatt verlaufen war, hieß das schließlich nicht, dass er darauf verzichten sollte dem Glück eine Chance zu geben, wenn es sich anbot. Und das hier war eindeutig eine Chance! „Also schön, ich werde da hineingehen. Aber ich brauche eine Fackel.“
„Die bekommst du“, versicherte der Kleine hastig und offensichtlich hoch erfreut. „Hier hast du sie schon.“ Das fremdartige Wesen nahm einen einfachen Stock zur Hand, blies auf eines der Enden und an der Stelle, an der sein Atem auftraf, loderten kleine Flammen auf. Riff nahm sie entgegen und verabschiedete sich.
Um die fünf Meter ebenen Weges bis zum Eingangstor zurückzulegen brauchte er fast eine halbe Minute. Ihm war nie zuvor so unheimlich zumute gewesen, aber schließlich trieben ihn die Worte des kleinen Mannes an: „Das Wertvollste von der ganzen Welt.“ Na, wenn das kein Risiko wert war! Unter dem Wertvollsten der Welt konnte er sich eine ganze Menge vorstellen – im Grunde all das, was er nicht besaß und worauf all sein Denken und Streben schon seit Jahren ausgerichtet war. Gold und Diamanten zum Beispiel! Obwohl – das Wertvollste der Welt? Nein, das müsste schon ein großer Haufen Gold und Diamanten sein. Der größte Haufen Gold und Diamanten, der auf der Welt zu finden war! Was auch immer es sein mochte, das ihn da erwartete, diesen Schatz würde er sich holen, so wahr er Riff Pechfinger hieß!
Er schritt unter dem Torbogen hindurch und Licht und Wärme schienen verschluckt worden zu sein. Vor sich sah er eine breite Mauer, die den Weg versperrte. Er wandte sich nach rechts. Seine Fackel erleuchtete die Wände zwischen denen er ging, aber das Ende des Weges lag im Dunkeln. Da er nur in etwa wusste, wie groß der Irrgarten war und keine Ahnung hatte, wo sich der Schatz befand, den er suchte, beschleunigte er entschlossen seine Schritte.
Am Ende des Ganges machte der Weg eine Biegung nach links. Je weniger sich der Weg gabelt, desto besser, dachte Riff und lief hoffnungsfroh weiter. Dann blieb er plötzlich wie angewurzelt stehen. Ein Geräusch wie von sich schließenden jahrhundertealten Kerkertüren hatte ihn zusammenfahren lassen. Es folgte ein unangenehmen Knirschen. Nachdem er für einen Moment unfähig war sich zu bewegen, drehte er sich jetzt langsam um und spähte in die Dunkelheit. Aber da war nichts. Riff schluckte und nahm sich tapfer vor zu vergessen, was er gehört hatte. Dann brachen die Steine unter seinen Füßen auseinander. Es ging alles viel zu schnell. Er stürzte. Verzweifelt versuchte er nach Steinen am Rand des entstandenen Loches zu greifen, aber seine Hände fuhren ins Leere. Da war nichts mehr woran er sich hätte festhalten können. Er fiel und fiel und… prallte auf feuchtem Boden auf. Kurz darauf verlor er das Bewusstsein.
Als er schließlich wieder zu sich kam, wusste er nicht, noch konnte er erahnen, wie viel Zeit vergangen war. Langsam richtete er den Oberkörper auf, während seine Ellbogen noch stützend auf dem Boden ruhten. Die schmerzenden Körperteile ließen sich an einer Hand nicht abzählen. Stöhnend stand er auf. Die Beine schienen dagegen protestieren zu wollen. Seine Hand fühlte sich feucht an. War es das Wasser vom Boden oder das Blut von seinem Körper? Der Angstschweiß kam natürlich auch noch in Frage. Immerhin in einem Punkt hatte er Glück gehabt: seine Fackel war noch da. Sie lag nur wenige Schritte von ihm entfernt. Riff nahm sie auf und sah sich um, soweit das in dem dürftigen Licht möglich war. Abgesehen davon, dass Wasser in kleinen Rinnsalen über die Steinplatten lief, sah es hier unten nicht anders aus als oben. Allerdings befand er sich in einem langgestreckten Raum und zu beiden Seiten gab es je drei Möglichkeiten diesen Raum zu verlassen. Noch einmal befühlte Riff seinen Kopf und prüfte die Funktionstüchtigkeit seiner Glieder. „Könnte schlimmer sein“, murmelte er und konzentrierte sich wieder auf das, was vor ihm lag. Irgendwo in seinem Kopf überlegte eine innere Stimme, ob es nicht doch besser gewesen wäre umzukehren, als er noch die Möglichkeit dazu hatte. Riff überging sie geflissentlich. Er nahm sich die Gänge vor. Keiner sah besser oder schlechter aus als die anderen. Er entschied sich für einen der mittleren Ausgänge. Er bewegte sich nun vorsichtiger als zuvor. Wenn man durch erhöhte Aufmerksamkeit einem Genickbruch entgehen konnte, so war es das allemal wert.
Der Weg führte ihn nach kurzer Zeit an eine Treppe. Die Stufen waren so hoch als wären sie für größere Wesen als Menschen geschaffen. Hoffentlich bedeutete das nicht, dass sämtliche Fallen in diesem Irrgarten auch für größere Wesen geschaffen waren. Auch den Gedanken verschob Riff rasch in die Kategorie „besser nicht zuende denken“. Das Ende der Treppe war nicht zu sehen. Er erklomm die Treppe in Sprüngen, denn er hatte das Gefühl, die Stufen seien nur dazu angelegt worden, beim Betreten in einer gähnenden Tiefe zu versinken, ähnlich wie die Steinplatten zuvor. Er war stets bereit, sich an der nächsten Stufe festzuklammern, sollte seine Befürchtung sich bewahrheiten. Doch nichts geschah. Er erreichte das Ende der Treppe, ohne dass sich irgendetwas ereignet hätte. Abermals fand Riff sich in einem langen Gang wieder, dessen Ende nicht zu sehen war. Entschlossen ging er weiter. Einen Schritt – zwei – fünf – zehn – irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas veränderte sich – und zwar nicht zum guten. Riff hasste es, wenn sich die Dinge ohne sein Zutun veränderten – es sei denn sie denn sie taten es zu seinem Vorteil, aber er konnte sich nicht erinnern, wann das zum letzten Mal der Fall gewesen war. Also was zum Teufel ging hier vor?! Endlich fiel ihm auf, was es war. Die Wände standen nicht mehr so weit auseinander wie zu Beginn. Und das lag nicht daran, dass dieser Abschnitt des Ganges enger gewesen wäre als der vorhergehende. Die Wände bewegten sich aufeinander zu – mit zunehmender Geschwindigkeit. Riff sah gehetzt zurück und wieder nach vorne. In keiner Richtung konnte er das Ende des Ganges sehen. Er wusste wie weit der Weg zurück war. Wie weit es nach vorne noch sein mochte, konnte er nicht erahnen. Gut erkannt, Riff! Und was machst du jetzt daraus?! Die Panik hatte ihn fest im Griff und wenn er noch lange untätig blieb nicht nur sie. In der kurzen Zeit, die er hatte, entschied er sich für die Variante, die er für zu bewältigen hielt. In einer einzigen Bewegung drehte er sich um und rannte zwischen den immer näher rückenden Wänden hindurch. Er kam schon bald nicht mehr weiter, ohne dass seine Arme ständig an den Mauern entlang schleiften. Sein Atem ging so schnell, dass er das Gefühl hatte erbrechen zu müssen. Schließlich musste er sich seitwärts bewegen, um überhaupt noch voranzukommen. Die Wände waren erdrückend nah. Endlich bekam seine linke Hand die vorgeschobene Mauerecke zu fassen, die das Ende des sich bewegenden Wandstücks ankündigte. Aber zu diesem Zeitpunkt steckte er bereits fest. Er stemmte sich gegen das zermalmende Schicksal, aber er kam kaum noch vorwärts. Und dann gelang es ihm doch noch, sich mit größter Kraft aus dem sich schließenden Mordinstrument herauszudrücken.
Er stolperte auf den oberen Treppenabsatz und lief, ohne viele Gedanken zu verlieren, die hohen Stufen hinunter. Er fühlte zwar eine nicht zuletzt körperliche Erleichterung, aber der Schock saß so tief, dass er sie kaum an sich heranließ. Für den Augenblick war er sich nicht einmal sicher, ob ihm die Wände nicht womöglich folgen konnten. Aber nicht von ihnen ging die aktuelle Gefahr aus. Es waren die Treppenstufen, die plötzlich ihre Gefahrlosigkeit verloren hatten. Jede Stufe, die sein Fuß berührte und dann verließ, explodierte hinter ihm und schleuderte Steinbrocken hinter ihm her. Er löste die Lawine aus, während er vor ihr davonrannte.
Die letzte Treppenstufe flog in Bruchstücken durch die Luft und wurde von anderen Steinbrocken begraben. Riff kam mit Prellungen und einer offenen Wunde am Fußgelenk davon.
Er lag auf dem kalten Steinboden, atmete die kalte Luft mit ihrem Geschmack nach mehreren Jahrhunderten ein und regte sich nicht. Das war zuviel für ihn gewesen. Er war doch nur ein kleiner Dieb, der einen – zugegebenermaßen nicht ganz so kleinen – Schatz suchte. Drei Minuten verstrichen, dann erst wichen Schock und Furcht einer grimmigen Entschlossenheit. Er hatte mehrere gemeine Fallen überlebt und er würde auch weitere überleben. Wenn der Schatz nicht gerade hinter den Wänden lag, die sich geschlossen hatten, dann konnte er es immer noch schaffen. Er zwang sich, die Schmerzen zu ignorieren und stand auf. Ha, man würde ihn noch als wagemutigen Helden feiern, wenn er mit dem Schatz aus den Mauern des Irrgartens herauskäme und erzählen könnte, was für Gefahren er getrotzt und welchen Ungeheuern – zerdrückende Wände konnten als Ungeheuer durchgehen, fand er – er die Stirn geboten hatte. Zum Reichtum käme der Ruhm wie von selbst dazu… Er grinste in sich hinein, ließ diesen anspornenden Gedanken alle anderen unterdrücken und machte sich wieder auf den Weg.
Kurz darauf stand er erneut in dem Raum mit den sechs Ausgängen. Er wählte den nächsten Gang zu seiner rechten. Der Weg führte lange geradlinig in eine Richtung. Sicherheitshalber hielt Riff die Arme ausgestreckt, um sofort zu registrieren, wenn die Wände wieder lebendiger sein sollten, als es ihnen natürlicherweise zustand. Auch die Decke behielt er im Blick. Wenn sie einstürzte, konnte er nichts dagegen tun, aber sollte sie sich langsam bewegen, so wollte er auch das rechtzeitig feststellen. Er konnte den Gang passieren, ohne dass sich ein einziger Stein bewegte. Dahinter allerdings sprossen in einem sechseckigen Raum plötzlich Ranken zwischen den Ritzen hervor. Sie waren von furchteinflößend roter Farbe, aber wahrhaft furchterregend waren erst die messerlangen Stacheln. Er entkam ihnen mit weiteren Schrammen und Schürfwunden, musste aber schließlich feststellen, dass auch dieser Gang eine Sackgasse war.
Zurück im Raum der sechs Ausgänge sah er sich wütend um und nahm einen anderen Weg. Der führte ihn in einen großen Raum mit drei Toren. Über dem linken hing ein Stein, über dem mittleren ein Ast, das rechte Tor wies als einziges keine Ausschmückungen auf.
An der Wand hing eine Steintafel, in die drei mysteriöse Sätze eingemeißelt waren:
Wähle den Weg der Dunkelheit und du wirst stehen können.
Wähle den Weg der Zerstörung und du wirst fühlen können.
Wähle den Weg des Feuers und du wirst reden können.
Warum stand da nirgendwo etwas von finden oder nehmen? Stehen, fühlen, reden – konnte er das nicht alles längst? Verdattert starrte Riff die Tafel an. Gut, ein Rätsel war allemal besser als die Gefahren, die er hinter sich hatte, aber er hatte das ungute Gefühl, dass ihn umso größere Gefahren erwarten würden, falls er nicht imstande sein sollte es zu lösen. Er überdachte die Sätze ein ums andere Mal, aber sie wollten keinen Sinn ergeben. Fühlen konnte zwar vieles meinen, aber Riff bezweifelte, dass es da um Glücksgefühle ging. Am meisten versprach er sich noch von „Reden können“, denn reden konnte auch heißen mit jemandem reden. Das hieß er konnte möglicherweise jemanden fragen, wo es zum Schatz ging. Jetzt galt es noch zu ermitteln, welchen Weg er wählen musste. Der Weg der Dunkelheit, das musste der rechte sein. Nichts und Dunkelheit wurden ja nicht selten gleichgesetzt. Er hatte also die Wahl zwischen Stein und Holz. Holz brauchte man, um Feuer zu machen, Steine dagegen, wenn man sie sich größer vorstellte, als diesen, wurden mitunter von Katapulten als Zerstörungswerkzeug eingesetzt. In seinen eigenen Ohren klang diese Erklärung logisch. Blieb nur zu hoffen, dass wer auch immer sich diesen Mist ausgedacht hatte, das genauso sah. Riff war noch immer äußerst unwohl zumute, als er durch das mittlere Tor trat, aber ihm mangelte es an Geduld und Gesundheit um länger herumzurätseln.
Das Tor schloss sich hinter ihm und er stand auf einer Brücke über einem gähnenden Abgrund. Er lief los zum anderen Ende, doch schon gingen Teile der Brücke in Flammen auf. Zugleich erschienen im Nichts des Abgrunds steinerne Sockel. Es war nicht nur wie in einem Alptraum, es war ein Alptraum. Um jetzt noch klar zu denken und überlegt zu handeln, blieb keine Zeit. Riff sprang über die Sockel im Nichts, während Brücke und bald auch Sockel in Flammen aufgingen.
Er konnte später nicht sagen, wie er das überlebt hatte, nur dass er sich in dem Raum mit den sechs Ausgängen wiedergefunden hatte. Doch dort war er nicht allein. Der Zwerg, der ihm die Fackel gegeben hatte, saß ihm gegenüber, offenbar amüsiert und sagte: „Sag mir, was du suchst und ich zeige dir, wie du es findest.“ Riff wollte antworten „den Schatz“, besann sich aber dann eines besseren. Der Zwerg hatte gesagt, er könne das Wertvollste überhaupt finden. Riff wusste jetzt, was er meinte. Seltsamerweise war er deshalb noch nicht einmal zornig. „Zeig mir den Ausgang“, antwortete er matt.