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Der Joghurtbecher
Der Joghurtbecher
Ich sitze im Zug. Andernfalls wäre ich auch ziemlich blöd gewesen, als ich mir ein Zugticket gekauft habe. Ich sitze in einem Abteil, das sechs Leuten je einen Sitzplatz zu bieten hat. Beleidigenderweise ist es nur zu zwei Dritteln belegt.
Ich habe einen Fensterplatz und sitze in Fahrtrichtung. Mir gegenüber sitzt ein Mann, der Zeitung liest und sich durch diese Tarnung meinen abschätzenden Blicken entziehen kann. Links von mir befindet sich eine dickliche Frau, die seit drei Stationen ununterbrochen isst. Ihr gegenüber sitzt ein alter Mann, der wahrscheinlich schon taub ist und auch nicht mehr so gut sehen kann.
Das Rattern des Zuges wirkt einschläfernd auf mich. Ich lehne meinen Kopf gegen das Fenster und schaue hinaus, ohne die vorbeiziehende Landschaft wirklich wahrzunehmen.
Bäume, Häuser, Straßen und Tiere wechseln sich im Erscheinen ab. Woher weiß ich das, wenn ich die Landschaft doch gar nicht wahrnehme? Merkwürdig.
Ich bin gerade am Eindösen, als mir eine Geschichte aus meiner Kindheit einfällt: Emil und die Detektive. Schlagartig bin ich wieder wach. Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass der Mann sich vor mir verbirgt: Er ist Herr Grundeis. Es kann keine andere Erklärung geben.
Ich kämpfe gegen den Schlaf an, aber vergebens. Nach wenigen Minuten erliege ich dem Bedürfnis.
Ich bin wieder aufgewacht. Niemand ist mehr in meinem Abteil. War ja klar. Ich Depp. Warum bin ich eingeschlafen, obwohl ich doch genau wusste, dass der Mann mir mein Geld stehlen würde? Ich greife in meine Manteltasche und fühle wie erwartet – Moment, das Geld ist noch da... Ich Depp. Bin mal wieder nur vom Schlechten im Menschen ausgegangen. Der Mann hat mir nichts geklaut, im Gegenteil, er hat mir etwas dagelassen: Die Zeitung liegt noch auf seinem Platz. Frech wie ich bin, nehme ich sie mir. Selber Schuld, der Volltrottel, was lässt er sie auch hier liegen? Wenn ich sie nicht nehmen würde, täte es ein anderer. Also kann ich es genauso gut tun. Bei mir ist sie jedenfalls in guten Händen.
Ich schlage die Zeitung auf, den Sportteil. Ich hab’s gewusst: Werder hat schon wieder verloren!
Die Fahrt zieht sich hin. Ich habe den Sportteil schon so gut wie auswendig gelernt. Es gibt keine andere Beschäftigung, um die lange Weile zu verkürzen. Doch da fällt mir etwas ein und froh mache ich mich daran, den Rest der Zeitung zu lesen.
Ich komme zu den Todesanzeigen. Selbst sie können mich aus der Lethargie hier befreien. Eine fällt mir sofort ins Auge. Sie ist mittig platziert, was sowohl Höhe als auch Breite der Zeitung angeht. Es handelt sich nur um drei Zeilen, aber wären diese von, sagen wir mal, Franz Kafka, würden sie von den Kritikern hochgejubelt werden. Da sie aber nicht von Kafka und auch sonst keinem berühmten Literat sind, wird die Masse sie wahrscheinlich auslachen.
Drinnen ein Joghurtbecher.
Warum?
Vielleicht der Mann, der diese Zeitung gelesen hat? Ich weiß es nicht. Ich Depp. Ich musste ja unbedingt schlafen und das Beste wieder versäumen!
Hat der Mann seine Zeitung hier vergessen? Ist er nur auf die Toilette gegangen? Nein, das kann nicht sein, sein Gepäck ist nicht mehr da. Hat er sie vergessen oder hat er sie mir absichtlich dagelassen, dass ich sie lese? Wollte er mir einen versteckten Hinweis geben?
Der Zug hält an der Endstation. Ich muss aussteigen. Und das nicht nur, weil hier die Endstation ist, sondern auch, weil ich hier in der Nähe wohne und weil ich frische Luft brauche.
Ich nehme mein Gepäck und steige aus. Mit mir verlassen nur sehr wenige Leute den Zug. Hier draußen wohnt fast niemand. Und trotzdem gibt es eine Zugverbindung? Ich wundere mich jedes Mal darüber. Die Zeitung befindet sich nun in meinem Handgepäck. Ich gehe nach Hause.
Ich schließe die Haustür hinter mir und lege ab. Die Zeitung nehme ich mit in die Küche und lege sie auf den Küchentisch. Dann öffne ich den Kühlschrank. Es befindet sich nur ein einziger Joghurt darinnen. Warum?
Ich zucke zusammen. Mir sind gerade unbewusst die selben Gedanken durch den Kopf gegangen, die in der Zeitung standen. Mit schreckgeweiteten Augen sehe ich auf den Joghurtdeckel. Himbeergeschmack. War ja klar. Ich Depp. Ich habe vergessen, meiner Haushälterin zu sagen, dass ich Joghurt mit Himbeergeschmack nicht ausstehen kann, nun sehe ich, was ich davon habe.
Eine bittere Erkenntnis bahnt sich den Weg in meinen Kopf: Der Mann aus dem Zug kennt mich. Er weiß alles über mein Leben. Ich bin nirgends vor ihm sicher. Die einzige Frage, die bleibt, ist, ob er mein Freund oder mein Feind ist. Ich hoffe ersteres, doch befürchte letzteres. Sein Blick war mir nicht sehr wohlgesonnen. Woher kann ich das wissen, er hat doch seinen Blick vor mir durch die Zeitung verborgen? Merkwürdig. Schon der zweite Beweis heute für meine Präkognition.
Ich sitze am Computer und gehe auf www.gugel.de, die ja die beste Suchmaschine sein soll.
Ich gebe „„Joghurtbecher“ „Himbeere“ „Zeitung“ Todesanzeige“ „Mann““ ein und drücke die Entertaste. Es dauert einige Zeit, bis mir angezeigt wird, dass es einen Treffer gab. Ich klicke ihn an. Es öffnet sich ein neues Fenster. Ich fange an, zu lesen:
„Ich sitze im Zug. Andernfalls wäre ich auch ziemlich blöd gewesen, als ich mir ein Zugticket gekauft habe. Ich sitze in einem Abteil, das sechs Leuten je einen Sitzplatz zu bieten hat. Beleidigenderweise ist es nur zu zwei Dritteln belegt.
Ich habe einen Fensterplatz und sitze in Fahrtrichtung. Mir gegenüber sitzt ein Mann, der Zeitung liest und sich durch diese Tarnung meinen abschätzenden Blicken entziehen kann. Links von mir befindet sich eine dickliche Frau, die seit drei Stationen ununterbrochen isst. Ihr gegenüber sitzt ein alter Mann, der wahrscheinlich schon taub ist und auch nicht mehr so gut sehen kann.
Das Rattern des Zuges wirkt einschläfernd auf mich. Ich lehne meinen Kopf gegen das Fenster und schaue hinaus, ohne die vorbeiziehende Landschaft wirklich wahrzunehmen.
Bäume, Häuser, Straßen und Tiere wechseln sich ab im Erscheinen. Woher weiß ich das, wenn ich die Landschaft doch gar nicht wahrnehme? Merkwürdig.
Ich bin gerade am Eindösen, als mir eine Geschichte aus meiner Kindheit einfällt: Emil und die Detektive. Schlagartig bin ich wieder wach. Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass der Mann sich vor mir verbirgt: Er ist Herr Grundeis. Es kann keine andere Erklärung geben.
Ich kämpfe gegen den Schlaf an, aber vergebens. Nach wenigen Minuten erliege ich dem Bedürfnis.
Ich bin wieder aufgewacht. Niemand ist mehr in meinem Abteil. War ja klar. Ich Depp. Warum bin ich eingeschlafen, obwohl ich doch genau wusste, dass der Mann mir mein Geld stehlen würde? Ich greife in meine Manteltasche und fühle wie erwartet – Moment, das Geld ist noch da... Ich Depp. Bin mal wieder nur vom schlechten im Menschen ausgegangen. Der Mann hat mir nichts geklaut, im Gegenteil, er hat mir etwas dagelassen: Die Zeitung liegt noch auf seinem Platz. Frech wie ich bin, nehme ich sie mir. Selber Schuld, der Volltrottel, was lässt er sie auch hier liegen? Wenn ich sie nicht nehmen würde, täte es ein anderer. Also kann ich es genauso gut tun. Bei mir ist sie jedenfalls in guten Händen.
Ich schlage die Zeitung auf, den Sportteil. Ich hab’s gewusst: Werder hat schon wieder verloren!
Die Fahrt zieht sich hin. Ich habe den Sportteil schon so gut wie auswendig gelernt. Es gibt keine andere Beschäftigung, um die lange Weile zu verkürzen. Doch da fällt mir etwas ein und froh mache ich mich daran, den Rest der Zeitung zu lesen.
Ich komme zu den Todesanzeigen. Selbst sie können mich aus der Lethargie hier befreien. Eine fällt mir sofort ins Auge. Sie ist mittig platziert, was sowohl Höhe als auch Breite der Zeitung angeht. Es handelt sich nur um drei Zeilen, aber wären diese von, sagen wir mal, Franz Kafka, würden sie von den Kritikern hochgejubelt werden. Da sie aber nicht von Kafka und auch sonst keinem berühmten Literat sind, wird die Masse sie wahrscheinlich auslachen.
Drinnen ein Joghurtbecher.
Warum?
Jemand hat handschriftlich etwas dazunotiert. Nur ein Wort: Himbeere.
Vielleicht der Mann, der diese Zeitung gelesen hat? Ich weiß es nicht. Ich Depp. Ich musste ja unbedingt schlafen und das Beste wieder versäumen!
Hat der Mann seine Zeitung hier vergessen? Ist er nur auf die Toilette gegangen? Nein, das kann nicht sein, sein Gepäck ist nicht mehr da. Hat er sie vergessen oder hat er sie mir absichtlich dagelassen, dass ich sie lese? Wollte er mir einen versteckten Hinweis geben?
Der Zug hält an der Endstation. Ich muss aussteigen. Und das nicht nur, weil hier die Endstation ist, sondern auch, weil ich hier in der Nähe wohne und weil ich frische Luft brauche.
Ich nehme mein Gepäck und steige aus. Mit mir verlassen nur sehr wenige Leute den Zug. Hier draußen wohnt fast niemand. Und trotzdem gibt es eine Zugverbindung? Ich wundere mich jedes Mal darüber. Die Zeitung befindet sich nun in meinem Handgepäck. Ich gehe nach Hause.
Ich schließe die Haustür hinter mir und lege ab. Die Zeitung nehme ich mit in die Küche und lege sie auf den Küchentisch. Dann öffne ich den Kühlschrank. Es befindet sich nur ein einziger Joghurt darinnen. Warum?
Ich zucke zusammen. Mir sind gerade unbewusst die selben Gedanken durch den Kopf gegangen, die in der Zeitung standen. Mit schreckgeweiteten Augen sehe ich auf den Joghurtdeckel. Himbeergeschmack. War ja klar. Ich Depp. Ich habe vergessen, meiner Haushälterin zu sagen, dass ich Joghurt mit Himbeergeschmack nicht ausstehen kann, nun sehe ich, was ich davon habe.
Eine bittere Erkenntnis bahnt sich den Weg in meinen Kopf: Der Mann aus dem Zug kennt mich. Er weiß alles über mein Leben. Ich bin nirgends vor ihm sicher. Die einzige Frage, die bleibt, ist, ob er mein Freund oder mein Feind ist. Ich hoffe ersteres, doch befürchte letzteres. Sein Blick war mir nicht sehr wohlgesonnen. Woher kann ich das wissen, er hat doch seinen Blick vor mir durch die Zeitung verborgen? Merkwürdig. Schon der zweite Beweis heute für meine Präkognition.
Ich sitze am Computer und gehe auf www.gugel.de, die ja die beste Suchmaschine sein soll.
Ich gebe „„Joghurtbecher“ „Himbeere“ „Zeitung“ Todesanzeige“ „Mann““ ein und drücke die Entertaste. Es dauert einige Zeit, bis mir angezeigt wird, dass es einen Treffer gab. Ich klicke ihn an. Es öffnet sich ein neues Fenster. Ich fange an, zu lesen:“
Jetzt komme ich mir verarscht vor. Ich habe alles noch mal durchgelesen, in der Hoffnung, eine Veränderung gegenüber den wahren Ereignissen zu finden. Aber nichts dergleichen war vorhanden!
Ich schalte den Computer aus. Wenn es eine Sache gibt, die ich hasse, die ich nicht leiden kann, die mir dermaßen gegen den Strich geht, dass ich ins Bett kotzen könnte (ich mache es natürlich nicht, denn das würde ich ja nie wieder herausbekommen), ist die Einfallslosigkeit eines Autors, der sich in schlechte, nicht durchdachte Enden rettet, die nicht zur gut aufgebauten Geschichte passen.
Aus lauter Wut esse ich den Joghurt. Dabei hasse ich doch Joghurt mit Himbeergeschmack. Ich Depp.