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Der Junge ohne Namen
Der Junge ohne Namen
Es war einmal ein kleiner Junge. Er lebte in einer großen Stadt ohne Namen; in einem großen Land ohne Namen.
Der Junge hatte weder Freunde noch Geschwister und seine Eltern mussten den ganzen Tag lang arbeiten. Er konnte nicht einmal genau sagen, wo und was sie arbeiteten; er wusste nur, dass sein Vater morgens, wenn er aufstand, um sich für die Schule fertig zu machen, schon unterwegs war, und seine Mutter zusammen mit ihm die Wohnung verließ. Seine Mutter trug immer einen weißen Kittel und eine alte, graue Strickjacke auf der Arbeit. Sein Vater musste immer eine Krawatte umtun und hatte seine Butterbrote immer in einem großen, schwarzen Lederkoffer. Nur der Teufel wusste, ob er darin sonst noch etwas hatte.
Der Junge sah seine Eltern nicht oft. Er vermutete, dass ihnen deshalb auch noch nicht aufgefallen war, dass er überhaupt keine Freunde hatte und ständig nur zu Hause herumsaß und sich fürchterlich langweilte. Wenn sie abends dann müde und kaputt im Wohnzimmer saßen und mal was von ihm wollten, sagten sie immer nur: „Na mein Junge, wie wars in der Schule“ oder „Erzähl mal, Jung, was hast du heute so gemacht“. Wenn er dann jedoch von seinem Tag berichtete hörten sie ihm kaum richtig zu.
Jeden Mittag, wenn die Schule vorbei war, ging der Junge allein nach Hause. Keiner seiner Klassenkameraden wohnte in seiner Straße, so dass niemand den Weg mit ihm teilte. Doch das war ihm auch ganz recht, er hätte eh` nicht gewusst, über was er hätte reden sollen.
Der Junge hatte einen eigenen Haustürschlüssel, den er immer an einer roten Kordel um den Hals trug. Darauf war er ein wenig stolz, denn nur wenige seiner Schulkollegen hatten eigene Schlüssel. Doch das war auch das Einzige, worauf er stolz war.
Zu Hause machte er sich dann ein Brot oder wärmte sich etwas zu Essen auf, das seine Mutter auf dem Herd stehengelassen hatte. Dann setzte er sich mit seinem Mahl in seinem Zimmer auf`s Bett und schaltete den kleinen Fernseher ein, den er von Tante Hilde auf Anraten seiner Eltern zum letzten Geburtstag bekommen hatte. Gewünscht hatte er sich ihn nicht.
Meistens sah er sich dann Talkshows an. Da waren immer so witzige Leute, die sich über irgendwelche Sachen stritten und sich manchmal sogar richtig anschrien. Oft waren da z.B. auch Frauen, die abnehmen wollten oder andere, die erzählten, wie sie ihren Busen größer gekriegt hatten und dass sie die Männer jetzt viel besser fänden als vorher. Und die Frauen mit den großen Busen wurden dann von den dicken Frauen, die abnehmen wollten, angeschrien und als „Flittchen“ oder so bezeichnet. Egal, zumindest ging es da immer ganz schön heiß her, in diesen Sendungen.
An einem Tag im September, Oktober oder November saß der Junge wieder mal alleine mit einem Teller Graupensuppe auf dem Bett und sah fern.
In der Flimmerkiste erklärte eine 12-jährige gerade ihren glücklichen Eltern, dass sie von ihrem Deutschlehrer schwanger sei, mit ihm nach Australien oder Afrika auswandern und ihn dort heiraten wolle. Natürlich erst, wenn dieser in 6 Jahren aus dem Gefängnis entlassen sein würde. Aber selbstverständlich beteuerte sie, dass sie auf ihn warten würde, auch wenn es ihr sicherlich schwer fallen würde, bis dahin auf den täglichen Sex zu verzichten.
In dem Moment, wo die Mutter der 12-jährigen ihrem Mann gerade gestehen wollte, dass auch sie eine Affäre mit dem Deutschlehrer ihrer Tochter hatte, und diese dann voller Wut ihr Bauchnabelpiercing nach ihrer Mutter warf , wurde der Bildschirm plötzlich schwarz.
Der Junge hatte es erst gar nicht so richtig mitbekommen; die seltsamen Menschen dort im Fernsehen hatten ihn schon lange nicht mehr wirklich interessiert; dafür war er viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.
Warum sitze ich hier so alleine?
Warum habe ich keine Freunde und warum muss ich mir ständig einen so blöden Mist im Fernsehen anschauen?
Und, verdammt noch mal, warum kann ich mich über nichts freuen, warum passiert in meinem Leben nie etwas Schönes, Interessantes ? Bin ich so wertlos? Ist mein Leben so wertlos ? Wenn doch mal endlich etwas richtig Außergewöhnliches mit mir passieren würde.
Er grübelte, wie schon tausendfach zuvor vor sich hin und natürlich wurde er dadurch nur noch trauriger und einsamer. Irgendwann ging jedoch ein Ruck durch seinen Körper, er sah zum Fernseher, bemerkte die Bildstörung, stand auf, klopfte ein paar Mal darauf herum und plötzlich waren wieder diese seltsamen Menschen auf dem Bildschirm zu sehen, wie sie dümmlich in die Kamera blickten.
Der Junge hockte sich wieder im Schneidersitz auf sein Bett, schluckte seinen altbekannten Kloß herunter und versuchte sich wieder auf den Quatsch in der Glotze zu konzentrieren.
Welt, lenke mich ab und lass mich bloß nicht mit mir alleine.
Gerade erklärte der Mann seiner Ehefrau, dass er bei der Hochzeit ja wohl völlig bekifft gewesen sein müsse, wenn er solch einem Hausdrachen das Ja-Wort gegeben hat. Die Frau konterte sofort profihaft lautstark erbost und schrie ihrem Mann zu, dass er eine Niete im Bet sei, wobei sich ihre sonnenbankverbrannten Hautfalten für einen kurzen Moment lang strafften, während Speicheltropfen auf den Kassengläsern ihres Noch-Gatten landeten.
Der Junge schaute gelangweilt zu. Die Tochter, die ein Kind von ihrem inhaftierten, überpädagogischen Deutschlehrer unter ihrem Herzen trug, schien sich irgendwie ähnlich zu fühlen, denn auch sie starrte ziemlich teilnahmslos durch die Gegend. Jetzt sah sie genau in die Kamera, es schien fast so, als würde sie den Jungen geradewegs anstarren.
„Hallo“.
Der Junge erschrak.
Das Gekeife der Zetermonster dröhnte noch immer klirrend verzerrt aus den billigen Lautsprecherboxen des TV-Gerätes.
„Hallo, hab ich gesagt. Sprichst auch nicht mit jedem, was?“
Jetzt erkannte der Junge die Stimme und jetzt sah er auch ihre Besitzerin.
Es war die schwangere Tochter der zwei Streithähne, die nun kurz davor waren, sich gegenseitig mit bloßen Händen die Hälse aufzureißen.
Sie starrte ihn noch immer durch die Kamera hindurch an. Ihre Stimme war klar und verständlich gewesen. Sie hatte grüne Augen.
Der Junge kam sich ein wenig dämlich vor, als er leise „Hallo?“ murmelte.
„Blöde Show, was?“
Der Junge war noch immer sehr verunsichert. Sprach dieses Mädchen wirklich mit ihm? Sein Herz schlug ein wenig heftiger.
„Ja, ziemlich“.
„Und warum siehst du dir das dann an, wenn du es so blöd findest?“
„Hab` nichts anderes zu tun.“
Der Junge konnte sich dieses Gespräch zwar nicht erklären, dachte aber keine Sekunde daran, es abzubrechen. Das ganze war schon irgendwie spannend und aufregend und wahrlich eine willkommene Abwechslung für ihn. Er setzte sich gerade hin und sah dem sonderbaren Mädchen im Fernsehen direkt ins Gesicht. Sie sah plötzlich richtig nett aus. In ihren Augen lag ein freundlicher Glanz.
„Warum hast du nichts anderes zu tun ? Hast du keine Freunde, mit denen du spielen kannst ?“
„Nein, die finden mich alle blöd und langweilig und wollen mit mir nichts zu tun haben“.
„Ha, da geht`s dir ja wie mir. Ich häng auch immer nur alleine rum.“
„Na ja, aber du hast ja zumindest deinen Deutschlehrer, mit dem du nach Australien gehen möchtest.“
Das Mädchen schüttelte sich vor Lachen und warf ihren Kopf in den Nacken. Neben ihr gab ihre Mutter ihrem Vater gerade einen saftigen Fausthieb, so dass dieser seitlich von der Couch kippte. Das Publikum grölte begeistert und bettelte sabbernd nach einer Zugabe.
„Das hast du geglaubt, schön blöd von dir. Es war nämlich gar nicht mein Deutsch-, sondern mein Mathelehrer....nee Quatsch. Ich bin weder schwanger, noch habe ich was mit irgend so nem dummen Pauker. Ich glaube, ich wollte meine Eltern mit diesen ganzen Lügen einfach nur mal richtig schocken."
„Warum?“ fragte der Junge neugierig.
„Warum? Na, damit sie mich mal beachten. Die behandeln mich ständig so, als wäre ich Luft. Die interessieren sich einen Scheiß für meine Probleme. Wahrscheinlich würden sie nicht mal merken, wenn ich plötzlich gar nicht mehr da wäre.“
Der Junge kannte diese Gefühle. Er wusste, wie es war, wenn man kaum beachtet wurde. Er wusste, wie leer man ist, wenn man mit niemandem über seine Probleme reden konnte.
Was ist ein Mensch wert, der keine Freunde hat? Lebt man überhaupt, wenn sich niemand für einen interessiert? Lebt man überhaupt, wenn man sich selbst nicht für sich interessiert?
„Hast du denn mal versucht, mit ihnen zu sprechen?“
Das Mädchen lächelte erneut und sah zu ihren mittlerweile stark ineinander verkeilten Eltern herüber. Der Moderator versuchte mit einer hohen Piepsstimme, die beiden auseinander zu bringen. Er stand anscheinend kurz vor einem Herzinfarkt. Im Publikum war eine Massenschlägerei ausgebrochen. Anscheinend hatte sich zwei parteiische Lager gebildet, die sich nun lauthals bekriegten.
„Hast du sie dir mal genauer angesehen. Mit denen reden? Dass ich nicht lache. Nee, dann mache ich die Sachen lieber mit mir selbst aus. Und ich muss sagen, ich bin ziemlich zufrieden damit. Ich habe nämlich irgendwie Frieden mit mir selbst geschlossen. Wie ist`s mit dir, magst du dich?“
„Nein“, sagte der Junge, „irgendwie nicht. Ist aber auch egal.“
„Ist nicht egal. Es ist nicht gut, wenn man sich selbst nicht ausstehen kann. Kannst mir glauben, ich sprech` aus Erfahrung. Dann zieht das Leben nämlich an einem vorbei und ist im Nu zu Ende, ohne dass man überhaupt gelebt hat.“
„Na und, dann ist es wenigstens bald ausgestanden.“
Das Mädchen blickte nun plötzlich sehr traurig.
„Ist das wirklich deine Meinung?“
„Klar“ die Worte des Jungen klangen trotzig. „meine Eltern kümmern sich nur um ihre Scheiß Arbeit, in der Klasse spricht keine Sau mit mir und eine Freundin hatte ich auch noch nie. Wahrscheinlich werde ich auch nie eine haben.“
„Hm,“ das Mädchen sah sehr nachdenklich aus.
„Ich glaube, dir muss ein wenig geholfen werden.“
„Aha, und wie willst du das anstellen?“ Wenn der Junge eines nicht haben konnte, waren es Leute, die ihn nicht kannten, ihm aber helfen wollten. Zuletzt hatte sich der Schulpsychologe mit ihm unterhalten wollen, nur weil er in der Pause immer alleine auf dem Schulhof stand.
„Keine Angst“, sagte das Mädchen, „ich bin nicht wie dieser bekloppte Psychoheini aus deiner Penne. Ich will dir wirklich helfen“.
Der Junge erstarrte. Es war schon seltsam genug, dass er sich hier mit einem Mädchen unterhielt, das in irgendeinem Fernsehstudio in irgendeine Kamera blickte, während um sie herum gerade der dritte Weltkrieg ausbrach. Nun wusste sie auch noch über sein Leben Bescheid. Oder konnte sie vielleicht sogar Gedanken lesen?
„Woher....?“ stammelte er verwirrt, doch sie lächelte ihn nur freundlich an.
„Mach dir keine Gedanken darüber. Sagen wir einfach, ich bin dein Engel, dem es überhaupt nicht gefällt, dass es dir nicht gut geht und dass du dich selbst nicht magst. Nun gut; du lässt dir also nicht gerne helfen. Kann ich nachvollziehen. Hättest du denn etwas dagegen, dir selbst zu helfen?“
„Und wie soll das funktionieren? Soll ich meine Eltern oder die Jungen in der Schule vielleicht dazu zwingen, etwas mit mir zu unternehmen? Oder soll ich mir1000mal am Tag einreden, dass ich ein toller Hecht bin, bis ich es schließlich irgendwann selbst glaube und permanent selbstverliebt und gluckend mit eingezogenem Bauch und stolzgeschwellter Brust auf irgendwelchen 10-Meter-Brettern im Freibad stehe, um der Frauenwelt zu imponieren?“
„Mann, Mann, du bist aber schwierig....sag mal...hast du einen Computer?“
„Ja“, der Junge wusste nicht, worauf das Mädchen hinauswollte.
„Und einen Drucker?“
„Klar, aber...“
„Dann mach ihn an“.
„Warum...“
„Mach ihn einfach an und vertrau mir“.
Der Junge war sehr verwirrt. Dennoch ging er langsam zu seinem Drucker und schaltete ihn ein. Sofort zog dieser ein Blatt Papier und begann zu drucken. Wenige Augenblicke später war er fertig. Der Junge nahm den Zettel in die Hand und begann zu lesen. Viel stand dort nicht.....doch er las den Text immer und immer wieder, bis er ihn verstanden hatte.
Ein Geräusch ließ ihn aufhorchen.
Der Junge drehte sich wieder zu seinem Fernseher hin und erschrak. Der Bildschirm war wieder schwarz geworden. Rasch schritt er durch den Raum und klopfte auf dem Gerät herum. Da...das Bild kam zurück. Im Studio wurde gerade der Moderator der Sendung auf einer Trage abtransportiert. Er trug ein Sauerstoffgerät und piepste noch immer wie verrückt. Sein Jackett war blutdurchtränkt. Auf dem Sofa hielten sich die beiden Eheleute schluchzend in den Armen und bedeckten ihre tränennassen Gesichter mit leidenschaftlichen, hemmungslosen Küssen. Dabei riefen sie immer wieder „Verzeih mir, verzeih mir“. Die Zuschauer betupften sich ihre zerschlagenen Augen mit Taschentüchern und stampften gerührt mit den Hufen wie eine wildgewordene Bisonherde. Nur das Mädchen mit den grünen Augen saß ruhig auf der Couch und lächelte glücklich in die Kamera, wobei sie liebevoll mit den Händen ihren Bauch streichelte. Dann stand sie langsam auf und schwebte beinahe schwerelos auf den Kameramann zu; die Hände immer an ihren leicht gewölbten Baby-Bauch gedrückt.
„Ist der Ton noch an.....hört man mich da draußen?“ Das Mädchen sah sich suchend um.
Irgendwer im Studio schien die Frage bejaht zu haben, denn sie wandt sich wieder der Kamera zu.
„Noch einmal aufgepasst Leute, ich spreche jeden einzelnen von Euch direkt an.“
Der Bildschirm wurde von ihrem Gesicht vollständig ausgefüllt als sie sagte:
„Das wahre Leben und das, was es ausmacht, kommt direkt aus dir selbst heraus. Es schlummert schon lange in Dir und wird Dich, so lange Du lebst, begleiten. Glaube mir.“
Wie gebannt sah der Junge auf den Bildschirm und als das Mädchen ihm fröhlich zuzwinkerte, zauberte sich ein leichtes Lächeln in sein Gesicht. Das erste seit langer, langer Zeit. Und er war sich in diesem Augenblick sicher, dass es nicht das letzte gewesen sein sollte.
Ende
(Artsneurosia, Swen Artmann, 1999)