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Der Künstler
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Der Künstler
Julio war ein hagerer Mann mitte vierzig. Schütteres langes Haar fiel auf seine Schultern, ungepflegt, ungewaschen. Genauso ungepflegt und ungewaschen wie der Rest an und von ihm. Dreitagebart, mit Ölfarbe beschmutzte Kleidung und Schuhe die schon vor Monaten besser in den Müll gewandert wären.
Früher mal war Julio ein gut aussehender Mann gewesen. Gut aussehend und erfolgreich, ein angesehener Künstler der venezianischen Künstlerszene. Heute hingegen war Julio gezeichnet. Sein Gesicht war überzogen mit tiefen Falten die von Schlaflosigkeit und Überanstrengung erzählten. Seine Erfolg war verflogen.
Vor zwei, drei Jahren, zur Blütezeit seines kreativen Schaffens, hatte ihn die ganze Stadt bejubelt wenn ein neues Gemälde präsentiert worden war. Die Frauen hatten ihm zu Füßen gelegen, auf jedem Fest war er der Ehrengast gewesen und stets im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Heute gab es keine Ausstellungen mehr. Julio stellte keine Bilder mehr aus. Seine Kunst, oder Julio selbst, interessierte niemanden mehr. Im Laufe der Zeit waren mehr und mehr Leute seinen Ausstellungen fern geblieben. Am Anfang hatte er noch Groll gegen die rasch abnehmenden, so genannten Kunstliebhaber gehegt, doch irgendwann, leider erst viel zu spät, hatte er erkannt dass sie Recht hatten. Er hatte sein Talent verloren.
Später war es so weit gekommen dass nur noch seine Frau oder seine Tochter kamen um seine Bilder zu betrachten, aber selbst deren Interesse war mit der Zeit weniger geworden und war eines Tages ganz erloschen.
Vielleicht hätte er sich mehr um seine Frau und seine Tochter kümmern sollen.
Sie waren die einzigen die ihm noch geblieben waren. Doch hatte er sich im Laufe der Jahre soweit von ihnen entfernt dass er eines Tages mit Erschrecken festgestellt hatte, wie wenig er seine Frau Luisa und seine Tochter Emilia noch kannte.
Emilia war inzwischen 18 Jahre alt, eine junge und durchause hübsche Frau. Das letzte mal als er sich wirklich mit ihr beschäftigt hatte war sie vielleicht 9 oder 10 Jahre alt gewesen. Ein Kind. Sein Kind.
Er liebte Luisa und Emilia nach wie vor, doch auf eine andere Weise als sie es brauchten. Julio hatte ihnen nie das geben können was sie gebraucht hatten. Er konnte es nicht ertragen ständig in ihrer Nähe zu sein, er musste sich seiner Kunst widmen, musste neues erschaffen und kreieren.
So kam es dass Emilia den Großteil ihrer Kindheit quasi ohne Vater verbracht hatte und seine Frau Luisa ohne ihren Mann. Sie hatte Abend für Abend allein zu Hause gesessen, während er sich in den Betten anderer Frauen vergnügt, in seinem Atelier gemalt oder auf Festen im Rausch seines Egos profiliert hatte.
Tag für Tag, Stunde für Stunde verbrachte Julio in seinem Atelier und suchte den Ausweg seines Maleurs im Wein. Durch den Rausch versuchte er seinen Geist zu befreien aber die Fesseln der Ideenlosigkeit saßen zu straff. Der Knoten war zu fest geschnürt und er fand keinen Weg ihn zu öffnen.
Eines Abends stand Julio in seinem Atelier. Die Leinwand vor ihm war bemalt mit dem grässlichen Bildnis einer eigentlich sehr hübschen jungen Frau, die Julio auf der Straße beobachtet hatte. Doch je weiter er sich in Details gewagt hatte, desto schlechter war das Gemälde geworden.
Gedankenverloren betrachtete er mit wütendem Blick sein Werk als auf einmal eine Stimme, tief und wohlig klingend, hinter ihm erklang.
„Was seid ihr so trübselig, Künstler?“
Julio drehte sich erschrocken und etwas zu hastig um. Beinahe wäre er über eines seiner zahllos umherliegenden Bilder gestolpert.
„Wer spricht da? Zeigt euch!“ sagte er.
Ein dunkelhaariger Mann, schätzungsweise Anfang dreißig, mit gepflegtem Äußeren und gehüllt in einen eleganten dunklen Mantel lehnte lässig im Türrahmen. Leichten Schrittes kam er auf Julio zugeschlendert.
„Ihr kennt mich nicht. Aber seid unbesorgt. Ich bin ein Bewunderer eurer Kunst.“
Interessiert betrachtete er das Gemälde vor dem Julio stand.
Julio blickte verlegen zur Seite, sein Gesicht nahm einen rötlichen Farbton an.
„Ihr habt eure Kunst verlernt, Künstler“ sagte der Fremde in ernstem Tonfall.
Julio sah den Fremden verächtlich an und antwortete in scharfem Ton:
„Was wollt ihr von mir? Euren Spott könnt ihr euch sparen. Es ist nur zu offensichtlich was ihr da sagt. Reicht euch dies nicht?“
Der Fremde wandte sich mit ruhiger Stimme an ihn:
„Habt ihr Angst davor der Wahrheit ins Gesicht zu blicken? Die Dinge beim Namen zu nennen?“
Julio versuchte in scharfem Tonfall fortzufahren, aber irgendwie gelang es ihm nicht. Stattdessen kamen seine Worte nur stockend über seine Lippen:
„Was... was wollt ihr von mir? Ihr seid gewiss nicht gekommen um mir mitzuteilen dass meine Kunst schon bessere Tage erlebt hat. Sagt mir was ihr wirklich wollt.“
Der Fremde zeigte ein spöttisches Grinsen und musterte Julio nun sehr genau. Einen kurzen, und doch unendlich lang wirkenden Moment später begann er zu sprechen. Seine Stimme war noch immer ruhig und sanft.
„Ich bin sehr wohl zu euch gekommen um euch die Schlechtheit eurer Kunst zu offenbaren. Aber...“ er räusperte sich und blickte Julio eindringlich in die Augen. „...auch bin ich gekommen um euch Hilfe anzubieten. Hilfe die ihr dringend brauchen könnt, wollt ihr nicht auf ewig in diesem staubigen Atelier eure Zeit verschwenden.“
Wieder ließ er sich einen Moment Zeit, seine dunklen Augen verweilten dabei auf Julio. Er genoss die zunehmende Verunsicherung die nun allzu deutlich auf den Zügen seines Gegenübers zu sehen waren. Julio blickte den Fremden erwartungsvoll an. Als die Spannung langsam unangenehm wurde sprach der Fremde weiter.
„Ich möchte euch helfen eure alte Gabe wieder zurück zu erlangen, euch helfen wieder zu Ruhm zu kommen. Größeren Ruhm als ihr ihn jemals hattet.“
Julio blickte zu Boden. Hektisch begann er an seinen Kittel zu richten.
In seinem Kopf begann es zu sirren, er versuchte krampfhaft einen klaren Gedanken zu fassen, war aber nicht fähig dazu. Das alles ergab keinen Sinn.
Wieder erklang die wohlige Stimme des Fremden und riss ihn aus seiner Lethargie.
„Ihr habt mich gehört, Künstler. Ich meine was ich sage. Denkt darüber nach. Es wird natürlich seinen Preis haben, aber hat nicht alles im Leben seinen Preis?“
Julios Kehle war wie zugeschnürt. Was sollte all dies bedeuten? Was wollte der Fremde wirklich von ihm?
Er begann eine Antwort zu stammeln: „Ich...“ und blickte auf, aber der Fremde war schon an der Tür.
„Ich werden morgen wiederkommen. Dann reden wir weiter. Denkt über mein Angebot nach!“
Im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Der nächste Tag ging für Julio nur sehr schleichend vorüber. Er war früh aufgestanden, da er die ganze Nacht von seltsamen Träumen geplagt worden war. In einem Traum hatte er eine Ausstellung seines neusten Gemäldes gesehen. Alle hatten ihn bejubelt. Er war zu seiner alten Größe zurückgekehrt.
In einem anderen Traum hatte er sich selbst auf der Straße sitzen sehen. In heruntergekommener Kleidung hatte er betrunken und bettelnd am Straßenrand gesessen, während Passanten ihn mit argwöhnischen Blicken bedachten oder angewidert die Straßenseite wechselten.
Im nächsten Traum hatte er sich umgeben von jungen Schönheiten, halbnackt in einer Villa gesehen. Er hatte Erdbeeren gekostet und Wein getrunken während die jungen Frauen ihn liebkost hatten.
Verwirrt und schlaftrunken war er irgendwann aufgestanden und hatte sich ein ausgiebiges Bad gegönnt. Danach rasierte er sich und kämmte sein Haar. Das erste mal seit Wochen. Unbewusst suchte er sich elegante Kleidung aus dem Schrank und machte sich zurecht wie zu einer Verabredung eines jungen Verliebten mit seiner Angebeteten. Den ganzen Tag hing er seinen Gedanken über den kommenden Abend nach. Später am Tag begann er sein Atelier aufzuräumen. Er sortierte die Farben und Leinwände, ordnete seine letzten Werke, kehrte das ganze Atelier durch und lüftete. Kalter Herbstwind fegte durch sein Haar. Er bekam eine Gänsehaut.
Um acht Uhr saß Julio in seinem Atelier. Bei einem Glas Rotwein schaute er sich zweifelnd um. Was, wenn der Fremde garnicht käme? Was, wenn dies alles nur ein schlechter Scherz gewesen ist? Verbitterung keimte erneut in ihm auf. Der Alkohol trug seinen Teil dazu bei.
Um Mitternacht, als die vierte Flasche Wein geleert war, wollte Julio aufstehen und zu Bett gehen. Der Fremde war nicht erschienen. Julio führte lallend Selbstgespräche als er zur Tür schlurfte. „Wie kann ich nur so töricht sein... Zum Teufel mit dem Kerl!“
Plötzliche hörte er ein Geräusch hinter sich. Ein Geräusch wehenden Stoffs im Wind. Ein kalter Windhauch berührte seinen Nacken. Erschrocken fuhr er herum. Fast wäre er gestolpert. Der Rotwein forderte langsam seinen Tribut.
Das Giebelfenster war weit geöffnet. Der Wind ließ die Vorhänge flattern. Darunter stand eine dunkel gekleidete Gestalt. Der Fremde.
„Habt ihr über mein Angebot nachgedacht?“ fragte er.
Verdutzt über das plötzliche Auftauchen des Fremden zuckte Julio unsicher mit den Achseln. Nach einem kurzen Moment aber begann er zu nicken. Zögerlich antwortete er: „Ja... ja, ich habe darüber nachgedacht“. Seine Zunge war ein wenig schwer geworden. Er sammelte sich einen Moment ehe er erneut zu sprechen begann.
„Mir ist zwar nicht klar wie ihr es bewerkstelligen wollt, aber...“ wieder ließ er sich einen Moment lang Zeit. „...wenn es in eurer Macht steht so etwas zu wirken, dann nehme ich euer Angebot an.“ Er atmete tief durch, dann setzte er nach. „Vorausgesetzt der Preis stimmt!“
Der Fremde lächelte ihn gutmütig an. Dann antwortete er in gutmütigem Ton.
„Der Preis den ihr zahlen müsst, ist nicht zu hoch für das was ich euch geben werde. Euer Ruhm wird euch in ganz Venedig und weit darüber hinaus in kürzester Zeit berühmt machen. Darauf gebe ich euch mein Wort. Und meine Versprechen halte ich.“
Der Fremde sah zu Julio hinüber. Julio wusste dass der Fremde zu seinem Wort stand, wusste, oder spürte dass der Fremde alles was er sagte ernst meinte. Seine Antwort auf das Angebot war ihm jetzt schon klar, war ihm die ganze Zeit schon klar gewesen.
Der Fremde begann bedächtig durch den Raum zu schlendern. Er ließ die Augen über all die sorgsam sortierten Farben und Rahmen gleiten. Als er direkt vor Julio stand begann er wieder zu sprechen:
„Als Gegenleistung verlange ich nur, dass ihr ein Gemälde malt. Ein lebensgroßes Gemälde von mir, so wie ich hier vor euch stehe. Dadurch werdet ihr sehen dass ich meinen Teil der Vereinbarung halte. Ich verlange nicht mehr und nicht weniger als ein Meisterwerk. Und ich weiß dass ihr zu so etwas fähig seid!“
Mit einem Handschlag besiegelten Julio und der Fremde das Geschäft.
In stiller Übereinkunft, als wären ihre Seelen miteinander verbunden begann das Theater. Julio suchte die feinste Leinwand die er finden konnte, holte die teuersten Farben und begann sein Werkzeug aufzubauen. Der Fremde zog seinen Mantel aus und ging zielstrebig auf eine Wand unter einem runden Giebelfenster zu. Das Licht des Vollmondes schien durch dieses Fenster und beleuchtete den Fremden. Ein perfektes Arrangement von Lichtern, Schatten und Formen offenbarte sich vor Julios Augen.
Julio begann. Er mischte Farben wie von selbst und skizzierte erst grob die Szenerie. Wie im Rausch malte er Formen und Farben, Schattierungen und Lichter. Der Fremde stand stundenlang regungslos an der selben Stelle und wartete ab. Julios Rausch dauerte an, er malte bis in die Morgenstunden. Als er aufblickte war der Fremde fort. Nicht einmal dies verwunderte ihn. Dann besah er sein Werk. Ein Meisterwerk. Perfektion in Reinform. Niemals zuvor hatte er ein solch kraftvolles Gemälde geschaffen. Jedes Detail war in solcher Perfektion dargestellt dass er selbst vor sich erschrak. Die Atmosphäre des Bildes hielt ihn einen kurzen Moment gefangen, sie war so dicht dass man sie fast anfassen konnte. Anfassen wollte.
Völlig übermüdet ging Julio zu Bett. Er schlief den ganzen Tag durch und stand erst zur Dämmerung wieder auf. Eilig kleidete er sich an und ging schlaftrunken sofort ins Atelier. Erleichterung und eine erneutes Hochgefühl machte sich in ihm breit als er sah dass er nicht geträumt hatte. Sein Meisterwerk der gestrigen Nacht stand so an seinem Platz wie er es verlassen hatte. Er betrachtete es nun noch einmal, eingehend, prüfend und war mit sich zufrieden. Er hatte etwas geschaffen wozu er nicht einmal in seinen besten Zeiten fähig gewesen wäre.
Er erwachte erst nach einer Weile wieder aus seiner Betrachtung. Kein Geräusch hatte ihn aufgeschreckt, eher das Gefühl beobachtet zu werden. Die Präsenz etwas Fremden lag in der Luft. Er drehte sich um. Es war inzwischen Nacht geworden. Der Fremde stand dicht hinter ihm, sah ihm über die Schulter und betrachtete ebenfalls das Gemälde.
Julio machte ihm erschrocken Platz. Der Fremde nahm von ihm keinerlei Notiz sonden studierte minutenlang eingehend das Werk. Julio begann von einem Bein auf das andere zu wechseln, er fühlte sich unbehaglich. Endlich, nach einer halben Ewigkeit wie es Julio schein, wandte sich der Fremde an Julio.
„Ihr habt meine Erwartungen übertroffen, Künstler. Nie habe ich etwas von solcher Reinheit erblickt. Euren Teil der Vereinbarung habt ihr erfüllt. Dadurch wisst ihr dass auch ich den meinen Teil größtenteils erfüllt habe. Was nun noch bleibt ist mein Versprechen euch zu Ruhm zu verhelfen.“
Er trat langsam auf Julio zu, bis sie sich auf Armlänge gegenüberstanden. Der Fremde nahm Julios Hände in die seinen und blickte ihm tief in die Augen. Julio bekam eine Gänsehaut. Er versuchte den Blick abzuwenden, was ihm allerdings nicht gelang. Sein ganzer Körper schien ihm nicht mehr zu gehorchen. Plötzlich durchzuckte ein schrecklicher Schmerz Julios Stirn. Bewusstlos sank er zu Boden.
Julio erwachte mitten in der Nacht. Hektisch blickte er sich um. Suchend. Der Fremde war nicht zu entdecken. Er war fort. Ein dumpfes Pochen in seinem Kopf erinnerte ihn daran dass er wohl bewusstlos gewesen sein musste. Er blickte an die Stelle an der er das Portrait gemalt hatte. Das Bildnis des Fremden war fort.
Julio stand auf und schritt durch den Raum. Wie von selbst ging er zu den leeren Leinwänden und suchte sich beinahe unbewusst eine aus. Etwas kleiner als die Leinwand die er für das Portrait des Fremden genommen hatte. Julio baute die Leinwand vor sich auf, dann ging er durch den Raum, nahm seine Farben und begann seine neuen Fähigkeiten zu erforschen.
Wie in der Nacht zuvor malte er wie im Rausch. Diesmal ging ihm alles fast noch leichter von der Hand. Er mischte Farben obwohl er nicht wusste was er malte. Er malte Linien und Formen die sich nach und nach wie ein Puzzle aneinander fügten ohne dass ihm der Sinn seiner Komposition bewusst wurde. Instinktiv malte er hier einen Punkt, da einen Strich. Rottöne dominierten. Stunden führte er den Pinsel und erschuf etwas aus seinen Geist. Er befand sich auf einer Reise dessen Ziel ihm vollkommen unbekannt war.
Erst als er Schritte hinter sich hörte senkte er den Pinsel und drehte sich um.
Vier Männer, bewaffnet mit Schwertern betraten den Raum. Sie blickten sich im Dämmerigen Lich um. Als sie ihn vor der Leinwand sahen erhoben sie ihre Waffen und stürmten auf ihn zu. Wortlos drängten sie ihn von der Leinwand weg und umringten ihn. Einer dem Männer packte ihn am Arm und drückte ihm ein Schwert an die Kehle. Wütend schrie Julio auf. Die Männer unterhielten sich, riefen sich etwas zu. Zwei von ihnen liefen an ihm vorbei, hinter seinem Rücken blieben sie stehen. Er hörte wütende Stimmen hinter sich. Langsam, ganz langsam drangen ihre Stimmen zu ihm durch, sickerten durch seinen Rausch und trafen auf sein Bewusstsein.
„Seht euch das an. Dieses kranke Schwein. Diese Schandtat auch noch festzuhalten. Das wird ihn seinen Kopf kosten.“
Julio versuchte den Blicken der Männer zu folgen. Sie blickten auf die Leinwand hinter ihm. Entsetzen war auf ihren Zügen zu lesen. Langsam versuchte er sich umzudrehen. Sein Bewacher ließ ihn gewähren, war aber äußerst darauf bedacht das Schwert nicht von seiner Kehle zu lösen. Als Julio die Leinwand erblickte auf der er soeben noch den letzten Pinselstrich getan hatte, erschrak er. Was er sah raubte ihm den Atem. Er starrte das Gemälde an, dann verschloss er die Augen. Doch als er sie wieder öffnete hatte sich nichts verändert. Das Bild vor seinen Augen war dasselbe geblieben. Julios Herz schlug auf einmal sehr unregelmässig und viel zu schnell. Ihm war übel Er musste sich übergeben. Panik machte sich in ihm breit.
War das sein Werk? War das das Gemälde an dem er stundenlang gemalt hatte?
Julio Pazzolini verstand nichts mehr...
Zwei Hände falteten eine zusammengerollte Zeitung auseinander. Dunkle Augen überflogen die Überschriften auf der Titelseite. Bei dem größten Artikel in der Mitte der Seite verharrten sie einen Moment. Kurz darauf begannen sie Zeile für Zeile abwärts zu wandern.
Leise begann eine wohlig klingende Stimme zu sprechen:
„Todesurteil für exzentrischen Künstler.
Gestern wurde der Künstler Julio Pazzolini festgenommen.
Die Polizei fand in der Villa des einst berühmten Künstlers, der vor ein paar Jahren noch fester Bestandteil der venezianischen Künstlerszene gewesen ist, die grässlich verstümmelten Leichen seiner Frau Luisa und seiner Tochter Emilia.
Als erdrückenden Beweis für die Schuld Pazzolinis dient ein Ölgemälde aus dem Atelier des Künstlers, im Dachgeschoss seiner Villa.
Dort trafen die Polizisten den Künstler an. Als die Polizisten das Atelier betraten sahen sie Pazzolini wie er eine lebensgroßes Ölgemälde seiner schrecklichen Tat fertigstellte. Offenbar hatte er nach der bestialischen Tat die ganze Nacht hindurch an dem schrecklichen Gemälde gearbeitet. Der Künstler wirkte äußerst verwirrt und versuchte sich zu befrein während er aus voller Kehle schrie. Der Wahnsinn starrte aus seinen Augen heraus, berichteten die Polizisten.
Nachbarn des Künstlers hatten in den Morgenstunden die offen stehende Tür entdeckt, und die Wohnung der Familie betreten. In der Küche entdeckten sie die Leichen und alarmierten daraufhin sofort die hiesige Polizei.
Der in zweifelhaftem Ruhm stehende Künstler war bekannt als Trinker und Egozentriker der oftmals Stunden in der Einsamkeit seines Ateliers verbrachte. Seine Frau und seine Tochter waren nahezu auf sich allen gestellt.
Das Gericht von Venedig verurteilte den Täter aufgrund der schrecklichen Ereignisse und der erdrückenden Beweislage zur Todesstrafe. Die Vollstreckung wird morgen Abend gegen achtzehn Uhr erfolgen.“
Die Zeitung sank herunter. Eine Hand legte sie auf einen Stapel anderer Zeitungen, die auf einem Tisch gesammelt lagen. Der Fremde sah zufrieden auf und betrachtete mit Genugtuung das neue Gemälde neben seinem Kamin.