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Der kleine Tod
Er erschrak, als sie ihn ansprach. Er hatte wieder an seine Schulden gedacht und an seine Herzkrankheit und an die unheilvolle Kombination dieser beiden Übel für einen Mann, dessen beste Jahre nun bald vorbei sein würden.
"Eine interessante Ausstellung haben Sie da zusammengestellt", sagte sie. Er erschrak ein zweites Mal, als er sah, wie schön die junge Frau war. Sie musste so um die 25 Jahre alt sein. Sie war groß, aber nicht beängstigend groß für einen Mann, der seine Größe stets mit 1,80 Meter angab und sich dabei zwei Zentimeter erschwindelte. Sie hatte schulterlanges blondes Haar und dunkelbraune Augen. Die Haare sind wahrscheinlich gefärbt, dachte er, aber es wirkte überhaupt nicht künstlich. Sie hatte ein schönes Gesicht - wie das einer klassischen Statue. Doch da war diese etwas zu groß geratene Nase, die verhinderte, dass sie zu perfekt wirkte. Auch ihr ironisches Lächeln, frech und ein klein wenig anmaßend, ließ ihn den Gedanken an eine Statue schnell vergessen. Sie trug ein schlichtes schwarzes Baumwollkleid, das ihre langen Beine ebenso zur Geltung brachte wie ihre schlanke und dabei wohlproportionierte Figur.
"Herr Hansen? Ich habe gerade Ihre Ausstellung gelobt." Matthias Hansen erkannte, dass er die junge Frau wie ein Idiot angestarrt hatte oder wie ein alternder Lüstling, was wohl auf dasselbe rauskam. Er versuchte, seine Fassung zurückzugewinnen und sagte betont lässig: "Vielen Dank, doch es ist eine lausige Ausstellung. Zusammengestoppelt und willkürlich. Aber ich brauche das Geld."
Das sollte kokett klingen, aber er wusste, daß es stimmte. Hansen, im Hauptberuf leidlich erfolgreicher Anwalt, hatte sein bescheidenes Vermögen schon mehrfach durch seine Leidenschaft für die Malerei gefährdet. Er bezeichnete sich als Kunsthändler, doch wusste er nur zu gut, dass dies Unsinn war. Er kaufte ein ohne System und ohne den Markt richtig zu kennen, konnte nur selten ein Stück wieder verkaufen; und noch viel seltener verkaufte er etwas mit Gewinn. Da ihm seine Gläubiger in den vergangenen Wochen mehr als sonst zugesetzt hatten, entschied er sich zu einem Versuch, ein paar seiner besseren Stücke zu verkaufen. So packte er einige signierte Warhol-Drucke, seine beiden Pencks und den Beuys zusammen mit ein paar Stücken seines Freundes Mahlmann, dessen Bilder bei etwas Glück auch schon mal um die 3000 Euro bringen konnten, und mietete sich für eine zweiwöchige Ausstellung in einer Galerie ein. Heute war Eröffnung, doch nach drei Stunden angestrengten Lächelns und Palaverns hatte er immer noch kein Bild verkauft.
"Die Ausstellung ist nicht lausig. Zusammengestoppelt vielleicht, aber das macht nichts. Man merkt eben, dass Sie ein Mensch sind, der seine Liebe zur Kunst zu spät entdeckt hat und jetzt keine Zeit mehr hat für eine grundlegende Ausbildung. Sie kaufen leidenschaftlich und je nach Laune. Von System keine Spur. Ich mag das."
Er war perplex. "Sind Sie Hellseherin? Was machen Sie eigentlich hier? Sie scheinen sich für die Bilder nicht sehr zu interessieren."
"Doch, die Bilder gefallen mir. Übrigens auch die Hansens, die Sie dort hinten in der Ecke versteckt haben. Ihre Technik ist miserabel, doch man sieht die Leidenschaft, mit der Sie malen. Aber es stimmt, ich bin nicht wegen der Bilder hierher gekommen. Ich interessiere mich für den Mann, der die Ausstellung organisiert hat."
Hansen wurde mulmig zumute. Warum sollte sich so eine zauberhafte unbekannte Frau für ihn interessieren? Er war 47 Jahre alt, sah durchschnittlich aus, hatte ein durchschnittliches Vermögen (nein, im Moment war es eindeutig unterdurchschnittlich) und kleidete sich nachlässig (schlampig, wie seine Exfrau meinte).
"Sie sind meinetwegen gekommen? Aber Sie kennen mich doch gar nicht. Wahrscheinlich verwechseln Sie mich mit Mel Gibson, das passiert mir immer wieder", scherzte er.
"Ich würde wegen Mel Gibson nicht mal ins Kino gehen, geschweige denn von München nach Düsseldorf fahren. Aber sie irren sich: Ich kenne Sie schon sehr lange, doch das ist eine andere Geschichte, über die wir später vielleicht noch reden können. Jetzt bin ich hier, weil mir Ihr Sohn viel von Ihnen erzählt hat. Wir studieren zusammen in München. Ich wollte unbedingt den Mann kennenlernen, der einen Rubens auf seinem Bett liegen hat."
Hansen musste lachen. Dieser verdammte Rubens, einer der Hauptgründe für seine finanzielle Misere, war zumindest für seinen Sohn Michael von Nutzen: Er konnte damit den Mädchen imponieren. "Ja, es stimmt. Bei mir zu Hause liegt ein Rubens auf einer Seite meines Doppelbetts. Und das schon seit zwei Jahren. Ich versichere Ihnen, es ginge mir wesentlich besser, wenn er nicht mehr dort läge." Es ginge mir noch viel besser, wenn statt dessen Sie dort lägen, dachte er, doch dann bekam er Gewissensbisse. "Sind Sie mit meinem Sohn eng befreundet?" fragte er.
"Wir sind eng befreundet - aber wir schlafen nicht miteinander. Das war es ja wohl, was Sie wissen wollten."
Hansen fühlte sich ertappt. Dennoch war er sehr froh, dass die junge Frau nichts "mit seinem Sohn hatte". Er versuchte, das Gespräch auf weniger gefährliche Gleise zu bringen: "Studieren Sie Jura wie Michael?"
"Nein, ich studiere Kunstgeschichte. Aber wir leben in der gleichen Wohngemeinschaft. Und manchmal stehe ich ihm Modell für seine Aktfotos. Sie wissen ja sicher, daß Michael ein begabter Fotograf ist?"
Nun, Matthias Hansen wußte nur, dass die Fotoleidenschaft seines Sohnes sein Studium schon über Gebühr verlängert hatte - und damit auch die monatliche Zahlung der väterlichen Schecks. Doch bisher hatte Michael ihm immer nur Landschaftsaufnahmen gezeigt. Da fotografiert er also diese wunderschöne junge Frau - noch dazu nackt - und schläft nicht mit ihr? Mein Sohn muss verrückt oder schwul sein, dachte Hansen. Doch er wusste, dass beides nicht stimmte. Die junge Frau schien sich einfach mehr für ältere Männer zu interessieren. Er überwand seine - sowieso kaum vorhandenen - Skrupel und sagte: "Hier ist jetzt nichts mehr los. Hätten Sie nicht Lust, mit mir bei einem hervorragenden Italiener zu essen? Wir können dann auch über Michael sprechen, oder, wenn Sie wollen, auch über den Rubens."
"Sehr gern, aber nur, wenn ich den Rubens später auch sehen darf." Der Gedanke, diese zauberhafte junge Frau in sein Schlafzimmer zu führen - und sei es nur, um ihr ein leicht modrig riechendes, rund 370 Jahre altes Bild zu zeigen - erregte ihn und machte ihn gleichzeitig nervös. "Lassen Sie uns austrinken und zum Essen gehen."
"Wird gemacht. Übrigens, warum trinken Sie zur Eröffnung Ihrer eigenen Ausstellung nur diesen billigen Orangensaft? Der Champagner ist ausgezeichnet."
"Ich mache mir nichts aus Schampus, bin ein typischer Biertrinker", sagte Hansen. Das stimmte, war jedoch nur die halbe Wahrheit. Aber er hatte keine Lust, diesem begehrenswerten Mädchen zu erklären, dass Alkohol sich schlecht mit seinen Herztabletten verträgt.
"Lassen Sie uns noch einen Espresso trinken." Kaffee war Gift für sein krankes Herz, doch es war nicht die erste Sünde gegen seine Gesundheit, die er an diesem Abend beging - und er hatte sie alle genossen: die Bandnudeln in der fetten Gorgonzolasauce, die sechs oder sieben Glas Altbier, die Zigarette, die sie ihm nach dem Essen angeboten hatte. Er genoss das Gespräch mit der jungen Frau, die - wie er bald feststellte - nicht nur schön, sondern auch intelligent und vor allem sehr charmant war. Sie sprachen über die Malerei, über die Aktfotografie und seinen Sohn und über die Schicki-Mickis in Düsseldorf und die in München. Der Alkohol und die Unterhaltung hatten beide erhitzt. Er hatte gedacht, dass eine Frau, die aussah wie ein Fotomodell, sich auch so ernähren würde: Mineralwasser und Salat. Doch sie hatte ein Menü aus Weinbergschnecken, Tortellini in Sahnesauce und Tiramisu restlos verdrückt und mit einem halben Liter schweren Rotweins runtergespült. Außerdem hatte sie unablässig mit ihm geflirtet - nicht plump, aber doch sehr direkt.
Er fragte sich einmal mehr, was die junge Frau wohl an ihm finden könnte, als ihm wieder einfiel, was sie in der Galerie gesagt hatte. "Sie haben behauptet, mich schon lange zu kennen. Aber das kann unmöglich sein. Wenn ich Sie schon einmal getroffen hätte, könnte ich mich bestimmt daran erinnern." Er merkte, dass es wie ein plumpes Kompliment klang, obwohl er es ganz ernst gemeint hatte.
Sie lächelte. "Als wir uns das erste Mal sahen, wog ich 15 Pfund mehr und hatte das Gesicht voller Pickel. Vielleicht haben Sie mich deshalb nicht gleich wiedererkannt." Hansen konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, und sein Gesichtsausdruck verriet dies deutlich.
"Nun, ich werde Sie nicht weiter quälen. Ich heiße Jennifer Erdmann. Mein Vater ist Klaus Erdmann. An den werden Sie sich ja wohl erinnern. Sie haben ihm einmal eine Bronzestatue verkauft, einen römischen Fußsoldaten, und ihn dabei mächtig übers Ohr gehauen."
Was soll das, fragte er sich. Ist sie jetzt gekommen, um ihren Vater zu rächen? "Fragt sich nur, wer wen übers Ohr gehauen hat. Ich war in einer finanziellen Notlage. Ihr Vater wusste das und hat den Preis gedrückt."
"Aber es war eine Fälschung, und Sie haben das gewusst. Doch vergessen wir es. Mein Vater hat es bis heute nicht gemerkt, und ich bin Ihnen nicht böse. Wissen Sie, ich liebe meinen Vater sehr. Aber in Geschäftsdingen spielt er selbst unfair, und deshalb geschieht es ihm ganz recht, wenn er auch mal reingelegt wird."
Hansen, dessen Herz wild zu klopfen begonnen hatte, beruhigte sich wieder. Erdmann war ein harter Hund und vor allem ein schlechter Verlierer. Doch das Interesse seiner Tochter an Hansen schien tatsächlich ganz andere Gründe zu haben, als den Betrug an ihrem Vater zu rächen.
"Ich habe mich, als Sie wegen des Geschäfts mit der Statue mehrmals bei uns waren, unsterblich in Sie verknallt", erklärte die junge Frau lachend. "Freilich war ich damals erst 15. Ich gebe zu, dass ich Sie in der Zwischenzeit ein wenig aus den Augen verloren hatte und Ihnen nicht immer treu war. Aber die Gespräche mit Michael haben mich erneut auf Sie aufmerksam gemacht, und deshalb bin ich jetzt hier."
Hansen spürte, worauf dies hinauslaufen sollte. Er merkte, daß er noch nie eine Frau so begehrt hatte wie dieses Mädchen, das doch viel besser zu seinem Sohn gepasst hätte. Doch er hatte nur sehr wenige - und reichlich angestaubte - Erfahrungen in der Rolle des Verführers. Deshalb spielte er weiter den Ahnungslosen. "Es ist schon spät. Kann ich Sie irgendwohin fahren? Wo wohnen Sie eigentlich? Sie werden ja kaum mit dem Nachtzug nach München zurückfahren?"
"Darüber mache ich mir später Gedanken. Erst müssen Sie ihr Versprechen einlösen und mir den ominösen Rubens auf Ihrem Bett zeigen."
Das war genau das, was Hansen hören wollte. Dennoch machte ihn der Gedanke nervös, in einer halben Stunde allein mit dem Mädchen in seinem Haus zu sein. Er spürte ein leichtes Herzstechen, und sein Magen verkrampfte sich. Das ist die besondere Situation und noch keine Folge der Ernährungssünden, beruhigte er sich. Es war doch wohl verständlich, wenn ein Mann in seiner Lage ein bisschen nervöses Herzflimmern bekam. Dennoch dachte er kurz daran, eine Herztablette zu nehmen. Zur Sicherheit. Doch dafür hatte er schon zuviel Bier getrunken - zusammen mit dem Alkohol könnte das Medikament für unangenehme Kapriolen sorgen. Zumindest würde er sehr müde werden, und das konnte er im Moment fast noch weniger gebrauchen als einen Herzanfall. Er sagte: "Sie haben gewonnen. Ihr Interesse für alles Alte und Abgelegte scheint ja immens zu sein. Ich zeige Ihnen diesen vermaledeiten Rubens."
Sie lächelte ihn frech an. "Vielen Dank. Übrigens interessiere ich mich nicht generell für alles Alte, nur für alte Meister."
"Es stimmt tatsächlich. Dieses sündhaft teure Bild liegt auf Ihrem Bett, eingeschlagen in eine alte Decke. Es ist sicherlich keines von Rubens' Hauptwerken, aber dennoch ein sehr schönes Porträt auf Holz. Es muss doch mindestens eine viertel Million wert sein. Was machen Sie überhaupt mit diesem Bild, sie sammeln doch sonst nur moderne Maler?"
Hansen hatte seine Bedenken schon längst über Bord geworfen und vertraute der jungen Frau. Also entschloss er sich, ihr einfach die Wahrheit zu sagen: "Das Kuriose ist, daß ich mich bei diesem Bild zum ersten Mal wie ein richtiger Kunsthändler verhalten habe. Und das hat mich in ziemlilch große finanzielle Schwierigkeiten gebracht. Ich wußte, dass das Bild für 300.000 Euro zu haben ist und hatte einen Käufer, der mir 350.000 Euro dafür bot. Kein schlechter Schnitt, oder? Also borgte ich mir zwei Drittel der Kaufsumme von zwei Freunden, zumindest waren es damals noch Freunde, und zahlte das fehlende Drittel selbst. Doch als ich den potenziellen Käufer anrief, meldete sich seine Witwe. Er war eine Woche zuvor gestorben und hatte ihr mehr Schulden als Vermögen hinterlassen. Kein Wunder, dass die Frau absolut kein Interesse an dem Rubens hatte. Das war vor zwei Jahren. Seitdem versuche ich, dieses Bild zu verkaufen. Ich hätte es auch für 200.000 Euro abgegeben, um zumindest meine beiden Partner auszuzahlen, doch es geht gar nichts. Im Moment könnte ich das Bild wohl nur verschenken."
"Das tut mir leid. Bei Michael klang die Geschichte noch viel lustiger. Aber sagen Sie, eines verstehe ich immer noch nicht. Warum liegt das Bild hier auf Ihrem Bett?"
"Nun, ich fürchte, es ist Aberglaube. Aber Sie müssen wissen, dass dieses Gemälde nicht versichert ist. Keines meiner Bilder ist versichert. Als ich anfing zu sammeln, habe ich einfach nicht dran gedacht. Und mittlerweile ist es zu spät - ich könnte die Prämien für die Bilder und vor allem für diesen Rubens gar nicht bezahlen. Natürlich fürchte ich mich jetzt vor Einbrechern. Die meisten Bilder wären ersetzbar, doch wenn der Rubens gestohlen wird, könnte ich mir auch gleich die Kugel geben. Dann wäre ich finanziell völlig erledigt. Deshalb liegt es hier. Ich hoffe, dass ein Einbrecher sich auf die Bilder an den Wänden konzentrieren würde und nicht auf dem Bett nachschaut. Das ist ein bisschen so wie in der Geschichte Der gestohlene Brief von Edgar Allan Poe. Kennen Sie die?"
Sie nickte und wirkte ehrlich betrübt. Jetzt bereute er, dass er die Stimmung mit der Geschichte seiner traurigen Finanzlage verdorben hatte. "Wollen Sie noch die anderen Räume sehen, oder bleiben wir gleich hier", hätte er gern gefragt. Doch ihm fehlte der Mut. Er wartete ein paar Sekunden, ob sie nicht vielleicht die Initiative ergreifen wollte, und sagte dann: "Sie möchten sicher auch noch die anderen Bilder sehen. Ich fürchte, Michael hat mächtig angegeben."
"Er hat erzählt, dass Sie ein manischer Sammler sind und dass Ihr Haus mittlerweile fast unbewohnbar ist, weil alles vollsteht mit Bildern und Skulpturen. Er hat auch erzählt, dass ihm bei seinem letzten Besuch eine afrikanische Totenmaske vor die Füße fiel, als er nachts zur Toilette mußte."
Hansen lachte - wenn auch etwas gequält. Das war ihm auch schon passiert und hatte für eine leichte Herzattacke gesorgt. Er sollte diese verdammten Masken im Flur einfach besser befestigen. "Schuldig im Sinne der Anklage. Michael hat in allem Recht. Aber wenn Sie wollen, können Sie sich selbst ein Bild machen."
Es war ihm etwas peinlich, das Mädchen durch sein Haus zu führen. Dies war einmal ein sehr gepflegtes Heim gewesen. Seine Frau hatte stets dafür gesorgt, dass die zahllosen Bilder und Skulpturen, die er anschleppte, sich harmonisch in die Wohnräume einpassten. Doch seitdem sie ihn, nicht zuletzt wegen seiner Sammelwut, verlassen hatte, war das Haus mehr und mehr heruntergekommen. Der Hausherr auch, gestand sich Hansen ein.
Doch die junge Frau schien das alles nicht zu stören. Sie ließ sich weder von den schon mehrere Tage alten Speiseresten in der Küche noch von dem allgegegenwärtigen Staub und dem modrigen Geruch der überall herumstehenen Bilder beeindrucken. "Wissen Sie was? Ich liebe dieses Haus. Wohnen kann man hier nicht, aber es ist voller Leben. Und ich liebe auch den Mann, der dieses chaotische Gesamtkunstwerk geschaffen hat."
Das war das Signal, auf das Hansen gewartet hatte. Er wusste, dass nun er an der Reihe war. Sein Puls klopfte heftig am Hals. Du musst sie jetzt küssen, wusste er, und vorsichtig näherte er sich ihrem Mund. Sie machte es ihm leicht. Mit offenen Lippen kam sie ihm entgegen. Sie küssten sich, und Jennifer wehrte sich auch nicht gegen Hansens etwas ungeschickte und zu heftige Umarmung. Sie löste ihre Lippen von seinen und lächelte ihn an. "Eigentlich wäre es ja Deine Aufgabe gewesen, aber bevor wir weitermachen, sollten wir eines klarstellen: Ab jetzt sind wir per Du." Hansen war so verwirrt, daß er idiotischerweise sagte: "Okay, ich heiße Matthias." Jennifer lachte und nahm ihn wie ein kleines Kind an die Hand. "Ich finde, wir sollten ins Bett gehen. Auf dem Teppich hier ist ja sowieso kein Platz; da rammen wir uns noch irgendeine Römer-Skulptur ins Kreuz."
Was soll das jetzt wieder mit dieser blöden Römer-Skulptur, fragte sich Hansen. Doch sie waren schon im Schlafzimmer angelangt, und Jennifer hatte sich innerhalb von Sekunden ausgezogen. Hansen entledigte sich umständlich seiner Kleider, zog den kleinen, aber doch nicht mehr zu übersehenden Bauch ein und stieg zu ihr ins Bett.
Sie machte es ihm auch hier leicht. Sie verlangte keine Akrobatik von ihm und passte sich perfekt seinen ungestümen Bewegungen an. Sein Herz schlug schnell und heftig, und seine Brust begann zu brennen. Wie damals bei der Herzattacke. Doch an Aufhören war jetzt nicht mehr zu denken. Verdammt, das bringe ich zu Ende, und wenn es das Letzte ist, was ich mache, dachte Hansen. Wünscht sich nicht jeder so einen Tod - wenn auch lieber 25 Jahre später? Matthias Hansen keuchte. Er spürte, wie der Orgasmus näher kam. Er bekam keine Luft mehr, und ihm wurde schwarz vor Augen, als es soweit war.
Doch es dauerte nur wenige Sekunden. Die Atmung kam zurück, er konnte wieder sehen und blickte die wunderschöne Frau an, die ihm gerade die aufregendsten Minuten seines Lebens geschenkt hatte. "Jennifer, ich liebe Dich", sagte er mit zittriger Stimme. Sie lächelte ihn an. "Das wird sich zeigen. Fest steht jedenfalls, dass ich Dich liebe." Hansen war sicher, noch nie in seinem Leben so glücklich gewesen zu sein. Er küsste sie auf ihre ein wenig zu groß geratene Nase und rollte sich übermütig wie ein kleiner Junge auf die Seite. Gib mir fünf Minuten Pause bis zum zweiten Akt, wollte er gerade sagen, als er hörte, wie das 370 Jahre alte Holzbild unter seinem fröhlich herübergeschwungenen Hintern mit einem trockenen Knacken zerbrach.