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Der Klomann
Sechs Euro und zweiundvierzig Cent!
Peter schüttete das Geld von dem kleinen Teller in seine Jackentasche. Die Einnahme der letzten Stunde. Er schüttelte den Kopf; es hatte tatsächlich jemand ein Zwei-Cent-Stück auf den Teller gelegt. Der Geiz der Toilettenbesucher nahm stellenweise beängstigende Auswirkungen an.
Seit zwanzig Minuten war niemand mehr durch die Tür zum Restaurant gekommen. Peter warf einen Blick nach draußen. Das Licht über den Esstischen war erloschen. Nur noch Roland, der Cocktailmixer, stand hinter der Bar und polierte an einem Glas. Ein zusammengesunkener Gast saß vor dem Tresen und nippte den letzten Schluck von seinem Bier.
Peter begab sich zurück in sein Reich, griff nach dem Bodenwischer und dem Reinigungsspray. Endspurt! Er trat durch die Schwingtür in den Hygienebereich der Herren. Zehn weiße Türen der Einzelkabinen starrten ihn an. An der Seite lächelten noch einmal acht Pissoirs für Männer und zwei niedrigere für Kinder. Gegenüber der Kabinen befanden sich die Waschbecken; sechs an der Zahl.
Peter lehnte den Wischer an die Wand und fing mit dem ersten Pinkelbecken an. Das aufgesprühte Desinfektionsmittel hinterließ einen glänzenden Schein auf der Keramik. Weiter zum Zweiten. Hier musste Peter den Schwamm benutzen, denn der Rand war mit dunklem Scharmhaar geziert.
War bestimmt der Geizkragen mit den zwei Cent, dachte er missmutig. Die siffigsten Kerle waren gleichzeitig die Geizigsten. Sie schissen ihm die Toiletten voll, hinterließen schmierige Streifen und meist eine unglaubliche Anzahl herausgefallener Schamhaare. Häufig wuschen sie sich noch nicht einmal danach die Hände. Der Wasserhahn könnte ja mit Bakterien verseucht sein. Und anschließend gingen sie wortlos und mit gesenktem Kopf an Peter und seinem Geldteller vorbei.
Peter hatte die Reihe beendet und holte den Behälter mit den Klosteinen. Jedes Pissoir bekam drei; denn manches Mal roch der Urin der Gäste auch für drei, besonders nach dem herzhaften Genuss zarten Spargels.
Peter war stolz auf seine Arbeit; seine Toiletten stanken nie. Und wenn mal jemand den verdauten Rest eines guten Essens in seinem Bereich zurück ließ, dann kam Peter mit seiner Dose Duftspray Marke Flieder oder Lavendel, und schon konnte jeder weitere Besucher das Gefühl genießen, auf einer duftenden Frühlingswiese zu kacken.
Peter grinste zufrieden.
Jetzt kamen die Waschbecken und die Spiegel dran. Die Kabinen bewahrte er sich immer bis zum Schluss. Er wusste nicht warum, eigentlich gab es auch keinen Grund dafür; in den fünfundzwanzig Jahren, in denen er diesen Job nun ausführte, hatte er sich irgendwann einmal diese Reihenfolge zurecht gelegt.
Peter wischte gerade über den zweiten Spiegel, als er plötzlich stutzte.
Er sah neben seinem Spiegelbild die Reihe der Kabinen hinter seinem Rücken. Die Türen standen alle einen Spalt breit offen, bis auf die letzte. Peter drehte sich um. Das rote Schildchen unter der Türklinke war zu sehen. Besetzt!
Normalerweise bemerkte Peter so eine Nebensächlichkeit gar nicht. Die momentane Verblüffung war entstanden, weil er der festen Überzeugung gewesen war, dass seit zwanzig Minuten niemand mehr an ihm vorbei zu den Toiletten gegangen war. Und Peter hatte die ganze Zeit über seinen Tisch im Vorraum nicht verlassen. Also musste dieser Besucher schon weit länger als eine halbe Stunde dort verweilen.
Peter beugte seinen Oberkörper ein wenig herunter, so dass er unter den Spalt der Toilettentür gucken konnte. Er sah die Spitzen dunkler Lederschuhe. Es verrichtete tatsächlich noch jemand sein Geschäft hinter der Tür.
Wie dem auch sei, Peter würde mit seiner Arbeit fortfahren.
Er wischte über das dritte Becken. Immer wieder warf er dabei einen verstohlenen Blick in den Spiegel. Seltsam, dass Peter nichts riechen konnte. Auch kamen aus der Kabine nicht die geringsten Geräusche, die normalerweise bei bestimmten Geschäften zwangsläufig durch den Raum hallten, mal zischend wie das Geräusch einer Fahrradpumpe, mal knatternd wie eine in weiter Ferne abgefeuerte Maschinengewehrsalve, mal explosionsartig, dass Peter Angst um seine Kloschüssel hatte. Doch jetzt war es so still, wie bei einem nächtlichen Spaziergang auf einem einsamen Friedhof. Ob der Kerl eingeschlafen war?
Peter begann unauffällig vor sich hin zu pfeifen, räusperte sich zwischendurch und drehte den Wasserhahn auf. Normalerweise half so was immer, doch jetzt passierte nichts.
Noch einmal räusperte sich Peter, dann klopfte er vorsichtig an die Kabinentür.
„Hallo? Ähm … das Restaurant schließt gleich.“
Keine Antwort.
Peter beugte sich noch etwas weiter hinunter als zuvor. Die dunklen Lederschuhe endeten in einer ebenfalls fast schwarzen Hose. Wieder klopfte Peter. „Sind Sie okay?“
Nichts.
Peter stand auf, drehte sich um und verließ, sich immer wieder umblickend, den Raum. Er würde Roland Bescheid sagen. Vielleicht wusste der ja, welcher Gast noch fehlte.
Roland, ein breitschultriger Afrikaner, stand noch immer hinter dem Tresen, der zusammengesunkene Gast war verschwunden. Der wird’s also sein, dachte Peter.
„Peter, der Herrscher der Keramikwelten“, begrüßte ihn Roland.
Peter grinste. „Ich habe noch einen Gast.“
„Also, hier drin ist keiner mehr“, antwortete Roland und stellte das letzte Glas in das Regal.
„Was ist mit dem, der hier eben noch gesessen hat?“
Roland runzelte die Stirn. „Der ist vor fünf Minuten raus. Muss wohl jemand sein, der schon länger drin ist.“
„Ja“, murmelte Peter, „nur hab ich niemanden bemerkt, der zu mir rein ist. Und er antwortet nicht.“
„Wie meinst du das?“
„Na, wie ich’s sage. Er antwortet nicht.“
„So, so.“
Peter zögerte. „Vielleicht könntest du einmal mitkommen?“
„Wie lange machst du diesen Job jetzt schon, Klomann?“
Peter schmunzelte. „Nun, ich denke, da bist du noch mit den Affen durch den Dschungel gesprungen.“
„Weißer Mann, du spielst gerade mit deinem Leben.“ Roland ließ grinsend seine Muskeln spielen.
„Oh bitte, haben Sie noch einmal Erbarmen, großer Häuptling. Was ist jetzt, kannst du mal mitkommen?“
„Wenn es kein Trick ist, um sich an einen schwarzen, wehrlosen Mann heranzumachen.“ Roland verzog die Mundwinkel. „Nächstes Mal hole ich dich auch, wenn ich einen meiner Gäste nicht loswerde.“ Er trat hinter dem Tresen hervor.
„Irgendwann hat sich da schon mal einer eingeschlossen. Hat sich in aller Ruhe die Kehle durchgeschnitten. Und ich möchte diese Sauerei nicht noch mal wegmachen.“
„Das muss vor meiner Zeit gewesen sein.“ Roland ging an Peter vorbei in Richtung der Herrentoiletten. „Na was ist?“, rief er sich umdrehend. „Kommst du mit oder soll ich es allein tun?“
„Vielleicht sollte ich die Bullen rufen.“ Peter fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Normalerweise waren die Gäste dieses Etablissements nicht gerade gewalttätig, aber wer wusste das schon?
„Jetzt komm schon. Ich will nach Hause.“
Roland stieß die Schwingtür auf und sah sich um.
„Willst du mich verarschen, Klomann?“
Peter lugte vorsichtig um die Ecke.
„Wo soll denn dein Gast sein?“
„In der Letzten.“ Peter lies seinen Blick über die schweigenden Türen gleiten. Alle standen einen Spalt breit offen. Alle!
Roland blickte ihn an.
„Hast du getrunken, alter Mann?“
„Er muss inzwischen raus sein.“ Peters Stimme klang unsicher.
„Hast du irgendjemanden gesehen, der die Toilette verlassen hat?“
Peter schüttelte langsam den Kopf.
„Scheiße, Peter. Ich werde jetzt nach Hause gehen. Vergiss nicht abzuschließen.“
Die Tür schwang noch lange nach, während Peter wie hypnotisiert auf die vorhin verschlossene Kabinentür starrte.
Anscheinend hatte er Halluzinationen. Was musste Roland von ihm denken? Er konnte sich wahrlich das morgige Getuschel unter den Kollegen vorstellen. Peter rannte hinaus. „Roland!“, rief er, doch das Restaurant war leer.
Wieder entstand dieses seltsame Gefühl in Peters Magengegend. „Jetzt reiß dich zusammen!“
Die Schatten in dem großen, dunklen Raum, waren irgendwie beängstigend. Peter verzog gequält die Mundwinkel. Noch einmal ließ er seinen Blick schweifen. Vielleicht stand Roland ja doch noch irgendwo, doch nur die toten Lampen über den Tischen grinsten ihn an.
Er ging zurück, durchquerte die Schwingtür und erstarrte in seiner Bewegung. Sein Blick fiel auf die letzte Kabinentür. Peter spürte, wie sich ein dicker Kloß in seinem Hals ausbreitete. Langsam trat er einen Schritt vor, das monotone Quietschen der Tür hinter seinem Rücken verstummte. Er hatte auf einmal das unbändige Bedürfnis, seine Blase entleeren zu müssen.
Seine Augen starrten auf die Tür, auf die Tür mit dem roten Besetztzeichen unter der Türklinke.
„Scheiße!“
Vorsichtig griff er nach dem Bodenwischer, setzte leise einen Schritt vor den anderen. In der Mitte des Raumes verharrte er. Schweiß entstand auf seiner Stirn. Peter bewegte sich nicht, ließ die Tropfen langsam das Gesicht hinabgleiten.
Für einen Augenblick hielt er die Luft an, ging in die Hocke. Seine Hand berührte den Boden. Die Kälte der Fliesen durchfuhr seinen Körper. Peter sah den Spalt unter der Toilettentür – seine Augen brannten – und er sah die Schuhe.
Er atmete flach. Wo war der Kerl hergekommen? Peters Gedanken rasten. Es muss Roland sein! Ja, genau: Es war kein anderer als Roland, der ihm einen Streich spielte. Er erhob sich und ging auf die Tür zu.
„Hallo, unbekannter Barmixer“, rief er und schlug mit dem Stock des Wischers gegen die Tür. „Du kannst rauskommen. Du hast mich genug erschreckt.“
Die Tür schwieg ihn an. Peters Grinsen gefror langsam. Seine Finger zuckten nervös.
„Verdammte Scheiße, wer immer da drin ist, ich werde jetzt die Bullen rufen, wenn Sie nicht sofort da raus kommen! Das Restaurant ist geschlossen.“
Nichts geschah.
Peter trat näher an die Tür heran und lauschte. Er sah die Knöchel seiner Faust, die sich um den Stiel des Wischers gepresst hatten. Vorsichtig legte er ein Ohr an den Kabineneingang, doch so sehr er sich auch bemühte, das einzige, was er hören konnte, war sein rasender Herzschlag.
Peter lehnte den Stock gegen die Wand; er streckte die Arme hoch und griff den oberen Türrahmen. Wie lange war es her, dass er das letzte Mal Klimmzüge gemacht hatte? Seinem Keuchen nach zu urteilen eine Ewigkeit.
Peter zog sich weiter hoch. Er hatte den Rand fast erreicht; noch ein Stückchen, dann würde er hinüber sehen können.
Mit letzter Kraft hievte er seine Ellenbogen auf den Türrahmen, kämpfte seinen Körper hinauf. Die Tür gab ein ächzendes Geräusch von sich. Fehlte nur noch, dass jetzt alles zusammen bräche.
Peter blickte über den Rand. Er sah die glänzende Toilette mit dem hochgeklappten Deckel, die beigefarbenen Bodenfliesen. Peter spürte, wie seine Finger nass wurden und langsam vom Rand abrutschten. Das konnte doch nicht wahr sein! Was ging hier vor?
Zögernd ließ er sich wieder hinab gleiten, landete auf seinen Füßen. Seine Knie gaben nach, und er setzte sich vorsichtig auf den Boden. Er sah die verschlossene Toilettentür mit den Streifen, die seine Schuhe auf ihr hinterlassen hatten. Er sah jetzt wieder die dunklen Lederschuhe durch den Spalt zwischen Tür und Fliesen. Und Peter war sich sicher, dass er gerade begann, durchzudrehen.
Die Neonröhre über seinem Kopf begann zu flackern und verwandelte den Raum in ein ungleichmäßiges Hell und Dunkel. Peter glitt langsam zurück, die flackernde Tür nicht aus den Augen lassend. Er sah den Bodenwischer neben der Tür an der Wand lehnen; eine unerreichbare Waffe. Ein Druck entstand hinter Peters Schläfen, ein Druck, der schlagend anstieg, drohte, ihn jeden Augenblick wahnsinnig zu machen. Sein Keuchen war abgehackt, schnell, unkontrolliert. Er rutschte weiter, den würgenden Kloß in seinem Hals gar nicht bemerkend.
Etwas Hartes stieß gegen seinen Rücken, er wollte aufschreien, merkte, dass es lediglich die gegenüberliegende Wand war. Er stierte zur Seite. Schräg über ihm thronte ein Pinkelbecken; es wirkte riesig von hier unten. Peter presste sich weiter in die Ecke hinein, spürte nichts mehr, nicht einmal die Kälte der Fliesen, die seinen Körper umschlang, wie die Umarmung einer tiefgekühlten Leiche. Das Flackern der Neonröhren verstärkte sich, und Peters Augen brannten, wie sein Hals vom keuchenden Atmen, Speichel hatte sich einen Weg durch seinen Mundwinkel gebahnt. Ein Wimmern verließ seine Lippen.
Jetzt vernahm er ein leises Geräusch hinter der Kabinentür. Ein Rascheln. Dann das Rauschen der Toilettenspülung. Das Licht erlosch.
Gähnende Schwärze umhüllte Peters Körper. Eiskalter Schweiß hatte sich auf seiner Haut ausgebreitet.
Er hörte das Schließen eins Schlosses, das Quietschen einer sich öffnenden Tür. Peters Atmung wurde schneller, doch er bemühte sich, dabei nicht lauter zu werden. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und Schweiß brannte in seinen Augen.
Langsam näherten sich Schritte. Peter hörte ein gurgelndes Geräusch. Dann das Rauschen eines Wasserhahns irgendwo direkt über ihm.
Peters Lippen bebten. Ein warmer Tropfen fiel auf seinen Handrücken. Peter bewegte sich nicht.
Das Wasser wurde abgestellt, der Handtuchhalter betätigt.
Eine feuchte Hitze breitete sich zwischen seinen Beinen aus. Peter hatte sich in die Hosen gepinkelt.
Die Schritte entfernten sich. Peter hörte das Schwingen der Tür, dann das Klimpern von Geld auf Porzellan. Die Tür fiel ins Schloss.
Peter begann wieder zu wimmern; das Licht zu flackern. Sekunden später war es wieder hell.
Peter blickte auf seinen Handrücken und sah einen roten Fleck. Blut!
Sechs Euro und zweiundvierzig Cent lagen auf dem kleinen Porzellanteller in dem Vorraum zur Herrentoilette. Am nächsten Tag kündigte Peter seinen Job als Klomann. Er war der Meinung, die Zeit sei gekommen, seinen wohlverdienten Ruhestand anzutreten.