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Der Klugscheißer
Der Klugscheißer
Du bist was Besonderes.
Seine Mutter sagte es ihm immer wieder - und er hielt daran fest.
An was sollte er denn sonst festhalten; er war anders, zu anders für diese Welt.
Das wusste er. Und wie er es wusste. Er war es nicht, der angefangen hatte, die Welt von sich abzustoßen, nein, vielmehr war es die Welt, die ihn von sich abgestoßen hatte.
Ein Klugscheißer zu viel in der Welt.
Er schuf sich seine eigene. Eine Welt voller Stacheln, die jedes Wort, die jedes Gefühl, die jede Tat, von sich abstoßen. Ein Mantel voller Antikörper.
Es war sein Territorium. Seine Welt und sie gehört ihm.
Bis jetzt hatte er noch nie jemandem Einlass gewährt. Selbst seiner Mutter, geschweige denn seinem Vater nicht.
Es war gefährlich, jemandem Einlass zu gebieten. Sie war so empfindlich wie ein entzündetes Gewebe, das bei jeder Berührung in sich zusammenzuckte.
Er ging mit gesenktem Blick den Weg nach Hause. Zählte jeden grauen Pflasterstein, aus dem vereinzelte Grashalme heraus sprossen.
Auch so zählte er alles. Es waren 651 Pflastersteine, über die er gehen musste, 418 Schritte nach Hause und schließlich noch 190 Atemzüge, die er auf dem Weg machte.
Er zählte sogar die Quersumme der Zahlen, von den Autonummernschildern, an denen er vorbeiging.
Das machte ihn zu etwas Besonderem, das wusste er.
Ohne ersichtlichen Grund hielt er an, atmete einmal tief durch und hoffte.
Hoffte auf Frieden.
Wenigstens heute.
Vergebens.
Er vernahm schon die eisigen Schritte, ungeordnet und falsch, die laut und penetrant zu ihm rüber klangen. Kalt. Erbarmungslos.
Er vernahm die grausamen Stimmen, belustigt und zynisch, die ihn ansprachen.
Er hasste sie.
Doch der Hass kam nicht aus reiner Boshaftigkeit, nicht aus Streitsucht, nicht mal aus Rache, wie man schwer annehmen konnte. Es war ein Hass, der sich wie ein schwarzer Turm aufbaute. Baustein für Baustein, bestehend aus Unwissenheit, aus Unverständlichkeit, aus Sinnlosigkeit.
Ihr Verhalten, ihre Gleichgültigkeit… er verstand das alles nicht.
Genauso wenig verstand er wie es alle ticken konnte, wie es funktionieren konnte.
Die Uhr.
Die große Uhr des Lebens.
Seine Mutter hatte ihm einmal erklärt, wie das Leben schlägt.
Und was für eine Rolle Menschen dabei spielten, was sie machten, wer sie sind und letztlich: was er ist.
Aus Zahnrädern sollen sie bestehen, die Menschen.
Er grinste.
Es gibt kleine, mittlere und große Zahnräder, matte und glänzende, rostige und rostfreie.
Und sie sagte ihm, dass er ein kleines, glänzendes und rostfreies Zahnrad ist.
Ein Unbedeutendes, wie er wusste.
Dazu ein kleines, zu schnell für die Welt. Er drehte sich schneller als andere, kam aber trotzdem nicht mit.
Er verstand es nicht.
Er verstand gar nichts.
Fest und unbarmherzig hielt eine Hand ihn am Traggurt seines Schulranzens und zog.
Sie lauerten ihm immer auf. Klassenkameraden, nannten seine Lehrer diese Menschen.
Klassenkameraden. Kameraden. Er wusste genau, was Kameraden sind. Kameraden sind
Gefährten, Genossen, aber nicht Feinde.
Seine Klassenkameraden, seine Eltern, seine Lehrer, alle waren sie Lügner.
Er verzog sich in seine Welt und versteckte sich. So wie eine Schildkröte sich in ihre Panzer verzog.
Panzerte sich.
Er grinste, schaute nach unten und schwenkte noch seinen Kopf.
Allmählich wurde das bei ihm schon zur zwanghaften Geste, wenn er nervös war. Eine Obsession.
„Hey, was glotzt du denn so blöd?“, fragte eine grausame Stimme hinter ihm. Sie kam von der Person, die ihn festhielt.
Verständnislos fing er an zu lachen. Die Wörter durchdrangen ihn, doch waren sie sinnlos.
Was war mit Glotzen gemeint, er verstand es nicht. Er hatte nicht geglotzt. Lediglich auf den Boden geschaut aber nicht geglotzt.
Es brauchte lange bis er sich die passenden Wörter zusammengefügt hatte. Er zuckte mit den Augen.
Schließlich fragte er: „Was möchtest du mir mitteilen?“
Eine zweite, höhnische Stimme, meinte:„Alter, höre dir den scheiß Klugscheißer mal an, der kann ja nicht mal normal reden. Ich glaub’ wir sollten den mal ordentlich ins Gras beißen lassen!“
Gras. Er drehte das Wort gedanklich um.
Gras. Sarg. Tod.
Es beunruhigte ihn.
Angewidert schüttelte er den Kopf.
Unsicher drehte er sich um.
Es waren die Zwei, die ihm immer auflauerten. Dennis und Tim.
Leider konnte er sich nie ihre Stimmen merken, zu gleich klangen sie. Nur wenn beide Jungen nebeneinander standen und redeten, konnte er sie unterscheiden. Ihre Stimmen klangen nach Hohn und Kälte.
Tim packte ihn an den Haaren und lachte.
„Hey Dennis, schau' dir diese Haare an. Na, lang nicht mehr gewaschen, oder?“
Unsanft schlug Tim ihm mit der flachen Hand gegen den Kopf.
Er verlor das Gleichgewicht.
Doch Dennis, der ihn immer am Schulranzengurt festhielt, zog ihn rechtzeitig hoch.
Beide Jungen lachten.
Menschen, die über andere lachen oder dich schlagen, haben Probleme mit sich selber und wollen es so verdrängen. Seine Mutter hatte ihm diesen Satz oft gesagt.
Er verstand nie, warum sie immer Tränen im Gesicht hatte, wenn sie diesen Satz sagte.
Deswegen starrte er seine Mutter immer mit überraschter Miene an. Es sah oft mit seinem blau geschlagenen Auge, grotesk aus.
Jetzt ließ Dennis ihn los und schlug ihn auch von sich.
Diesmal verlor er nicht das Gleichgewicht.
Er versuchte hart zu bleiben. Diesmal nicht vor Schmerz zu weinen, wenn sie ihn schlagen würden. Er würde keinen Schmerz zeigen. Nein, diesmal nicht.
Auch das war eine Lüge.
Er zählte.
Dennis nahm ihn mit seiner kräftigen Hand am Kiefer und zog ihn zu sich.
Er konnte ihm nicht in die Augen schauen, deswegen schaute er auf den Boden.
„Schau mir in die Augen, du Wichser! Ansonsten haste eine sitzen, das weißt du, oder?“
Er lachte erneut laut auf.
Dieses Lachen stach ihn. Durchdrang seine Welt. Er schnaubte und wurde rot im Gesicht.
Es kratzte.
Kein Laut konnte nun seine Kehle verlassen.
Er war bei 15.
Was bei 25 kommen würde, konnte er nur erahnen. Das letzte Mal kam es bei 30. Und es tat weh.
„Gut. Wie du willst. Ich hab dir was gesagt und du wolltest nicht hören.“, voller Aggressionen presste Dennis ihm die Worte zu. Seine Nasenflügel öffneten und schlossen sich wieder.
Sein Blick ruhte auf Dennis’ Mund. Er konnte ihm nicht in die Augen schauen.
Er verstand nicht warum. Zu anders war er dafür.
Du bist was Besonderes.
Distanziert nahm er noch Tims Anfeuerungsausrufe wahr: „Gib’ ihm eine. Auf die Fresse!“.
Und es war so.
Sein Mund füllte sich mit Blut; er grinste.
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er, wie Dennis Augen voller Hass, aus den Augenhöhlen hinauszufallen drohten.
„Du grinst? Du verdammter Bastard, haste wohl immer noch nicht gelernt“
Metallisch schmeckte das frische Blut, wie immer.
Höllisch war der Schmerz, der sich an seinem Kiefer ausbreitete.
Er wollte, aber er konnte nicht aufhören zu grinsen. Tränen kullerten aus seinen Augen.
Nun verstand er.
Wenn er jemanden leiden sah, grinste er. Wenn ihn was innerlich berührte, grinste er. Wenn was schmerzte, grinste er.
Er konnte seine Mimik nicht kontrollieren. Es war ihm nicht zu grinsen zumute. Er konnte nicht anders.
Es würde mehr Hiebe bedeuten, mehr Schmerz, mehr Leiden.
„Och, da flennt unser kleiner Klugscheißer“, gab Tim zynisch von sich.
Dennis stieß ihn von sich, er landete hart auf den Boden.
Tim und Dennis stellten sich wie hohe, dunkle Türme über ihn auf.
Dennis spuckte auf ihn.
Er kannte das schon. Ein sich immer wiederholender Kreislauf. Wie eine Uhr.
Er fand das so grotesk, dass er darüber lachen musste.
„Uhr des Lebens“, gab er von sich und prustete. Dickflüssig bahnte sich dunkelrotes Blut von den Lippen hinunter.
„Oh, unser kleiner Professor kann doch reden“.
Im Nachhinein kann er nicht mehr behaupten zu wissen, wer von den beiden Jungen das gesagt hatte.
Die Uhr tickte weiter.
120.
„Große Zahnräder…“, stöhnend vor Schmerz gab er diesen Kommentar von sich. "...langsam und dumm"
Tim hob sein Fuß hoch – und schlug.
Ihm wurde schwarz vor Augen.
Als er wieder einigermaßen gut sehen konnte, waren die beiden Jungen verschwunden.
Ihn hatten sie zurückgelassen.
Den Klugscheißer.
Den Anderen.
Stöhnend und weinend, lag er auf den Boden, während Blut seine Lippen kitzelte und salzige Tränen langsam seine Wangen hinunterliefen.
Er grinste.