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Der Konvertit

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30.08.2001
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Der Konvertit

So also war das mit Gott! Nichts war das mit Gott! Vierzig trübe Jahre lang war Patrick auf den Knien herumgerutscht, die gefalteten Hände zum Himmel emporgereckt; ein nach Aufmerksamkeit und Trost heischender Betbruder war er gewesen, nichts weiter.
Sein Vater hatte Patrick zum rechten Glauben geführt.
„Der Jung’ hat schon gebetet, da konnt’ er noch nicht richtig laufen“, hatte dieser im Kreise der Familie zu prahlen gepflegt. Und die Schafe unter ihnen, die, die auf Gottes Weide grasten (kurz gesagt: Vaters ganze Sippe), nein, was hatten sie es nicht stets beäugt, das Lämmchen mit dem Seitenscheitel, das bei Tisch so hinreißend kindliche Dankesgebete für Speis und Trank aufsagen konnte, dass es schier zum Entzücken war. Allen voran Opa Toni, der Pontifex Maximus der Mischpoche, unfehlbar bis in die gichtgekrümmten Finger hinein: geheiligt wurde sein Name, sein Wille geschah. Nach Oma Hildes Tod (sie starb kurz vor Patricks Geburt, wäre aber, wie man ihm gebetsmühlenartig zu versichern wusste, gewiss stolz auf ihn gewesen) gab es in Opa Tonis Leben kein irdisches Korrektiv mehr; unter dem Banner der Liebe Gottes führte er die Familie fortan einen vom Herrn vorgezeichneten Weg, der sich auffallend häufig mit seinem eigenem deckte.
Allzu gut erinnerte Patrick sich auch an Tante Gertrud und Onkel Bernd, die sich in einem wahren Furor der Barmherzigkeit gegenseitig zu übertreffen suchten und den Bedürftigen gaben, wo sie nur konnten, selbst dann noch, als sie es nicht mehr konnten – am Ende kam ihr Haus unter den Hammer, die Sparbücher schrumpften auf einen mickrigen Saldo zusammen, im Klingelbeutel wurde für sie gesammelt, und doch hätte alles noch ein erträgliches Ende nehmen können, wenn nicht Onkel Bernd in äußerster Not auch noch seinen geliebten Opel Admiral hätte verkaufen müssen. Da geriet der Motor seiner Nächstenliebe gewaltig ins Stottern. Er nahm Opa Tonis Geschenk zu seinem einundzwanzigsten Geburtstag – eine P. 08, Standardpistole der Deutschen Wehrmacht, Kaliber 9 mm – und verteilte Tante Gertruds Samariterhirn auf dem geblümten Kopfkissen, bevor er sich selbst mit einem Gaumenschuss Richtung Seligkeit davonmachte.
All diese Pantoffelkleriker, du liebe Zeit.
Aber damals hatte es Patrick mit Stolz erfüllt. Er war stolz darauf gewesen, Mitglied dieser Gemeinde zu sein, einer Gemeinde, die ihren Kaffee schlürfte, als wäre er mit dem Blute Jesu aufgebrüht, und die sich den Kuchen in die Schlünder stopfte, wie wenn sie vom Leibe Christi naschte – einem Leib, so sahnesüß, garniert mit kandierten Kirschen.
Das Beten. Darauf hatte Vater ein Auge gehabt. Nach dem Aufstehen: beten. Vor dem Zubettgehen: beten. Kein Frühstück, kein Mittag- oder Abendessen, ohne die Hände zu falten und ein Dankeswort an die Zimmerdecke zu brabbeln. Lieber Gott, wir danken dir. Für den Braten. Für die Fanta. Und für’s Gutgehen. Sei unser Gast, hier, jetzt und immerdar. Amen.
Beten, das war für Patrick eine Art geistiges Atmen. Kaum hatte er sich einer Verfehlung schuldig gemacht, schon betete er: „Lieber Gott, es tut mir leid, dass ich Papa Widerworte gegeben habe. Ich verspreche ganz, ganz fest, dass das nicht mehr vorkommt.“ Und erst die Wünsche. Vater hatte ihm erklärt, Gott sehe und höre alles, dass er jedes noch so kleine Gebetsfitzelchen (Lieber Herr, mach, dass Frau Otten krank wird, ich kann die Vokabeln nicht) in einem speziellen Buch notiere. Ginge es danach, mussten Patricks Wünsche im Himmel mittlerweile eine komplette Bibliothek füllen.
Einmal – da war er sieben oder acht Jahre alt – ging Patrick zu seinem Vater ins Wohnzimmer.
„Papa, ich hab jetzt schon so viel zu Gott gebetet, weil Mama immer so schlimmen Husten hat. Kann Gott mich nicht hören?“
Vater sprang auf und verpasste ihm ein paar saftige Maulschellen, wie es ihn die Bibel in Sprüche 13,24 gelehrt hatte: Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn beizeiten. Vaters Liebesbeweis machte es Patrick eine Woche lang unmöglich, in die Schule zu gehen.
„Was sagst du da, Bengel?“, hatte Vater noch geschrien. „Hab ich dir das etwa beigebracht, he? Gott hört alles. Seine Wege sind unergründlich, kapiert? Un-er-gründ-lich! Zweifle nicht. Zweifler kommen nicht in den Himmel. Bete weiter für die Mama, dann wird Gott ihr schon helfen.“
Ein Jahr später warf Patrick eine rote Rose auf den Sarg seiner Mutter hinab. Lungenkrebs, unheilbar. Gott hatte geholfen und sie erlöst.
„Das hat alles seinen Sinn“, versuchte Vater ihm mit bleichem Gesicht zu erklären. „Auch wenn wir es nicht verstehen, vor Gott hat alles seinen Sinn.“
Und weil das so war, betete Patrick sich weiter durchs Leben. Ungehört, unbeachtet, aber er blieb dran. Als Vater kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, da betete Patrick für ihn. Als Andrea plötzlich die fixe Idee hatte, sie hätten sich auseinandergelebt, da betete Patrick gleich im Minutentakt – er bat nicht um Vergebung für das Sakrileg der vorehelichen Vögelei (wer so vögeln konnte wie Andrea, der war nicht Sünde, der war sicheres Geleit ins Paradies), er bat Gott inständig, ja, er bettelte geradezu, Andrea möge zu ihm zurückkommen. Vergebens. Als er seine Ausbildung schmiss, flehte er um einen Fingerzeig für sein weiteres Leben ... Gott rührte sich nicht. Lottogewinne, Genesungswünsche, Liebe, Frieden, Glück, mit dem Rauchen aufhören, vielleicht doch noch einmal mit Andrea: immer wieder hing er dem Herrn mit seinem Gebetssammelsurium in den Ohren, aber der machte keinen Finger krumm.
Vierzig Jahre waren darüber vergangen, vierzig Jahre, in denen er mit allen Kräften ein gottgefälliges Leben zu führen gesucht hatte, ausgenommen die Bettgeschichten, aber da hatte er stets danach gebetet, da konnte ihm keiner was. Und, so dachte er weiter, wofür hatte Gott ihm denn diesen Prachtschwanz geschenkt, wenn nicht zum Gebrauch?
Aber das jetzt, nein, das war nicht fair. Er war wegen der vermeintlichen Grippe zum Arzt gegangen und als Mann zurückgekehrt, der sich besser sofort daran begab, alles ins Reine zu bringen. Höchstens ein Jahr gab Doktor Wagenknecht ihm noch. Lungenkrebs, unheilbar.
„Sind das die Gene?“, fragte er Wagenknecht, vor Angst ganz schwach. Wer würde ihm eine Rose ins Grab werfen? Die waren alle schon beim Herrn.
„Nein, es sind die Zigaretten. Ihre Mutter hat auch geraucht?“
„Wie ein Schlot.“
Wagenknecht verdrehte die Augen. „Und da nennt man den Mensch ein vernunftbegabtes Wesen.“
Also Lungenkrebs. Er kündigte seinen lausigen Nachtwächterjob, hängte die Raucherei an den Nagel und ... betete. Am Morgen, am Tage, in der Nacht in seinen Träumen. Auf dem Scheißhaus kam’s ihm gleich oben und unten raus. Wagenknecht wollte ihn zu einer Therapie drängen. Dieser Witzbold! Wie war das noch gewesen? Unheilbar, so war das gewesen.
Also Jahwe statt Chemo. Ein Wunder, um Gottes willen, er wollte doch bloß ein Wunder. Der Lahme, der Blinde, die Speisung der Fünftausend; Jesu war über Wasser geschritten und hatte Lazarus wieder flottgemacht, da konnte doch so eine Wunderheilung keine große Sache sein.
Aber Patrick war und blieb von Gott verlassen. Es half ihm kein bisschen, was Vater ihm unaufhörlich eingebleut hatte: Vor Gott hat alles seinen Sinn. Gesetzt den Fall, Vater hätte recht damit gehabt: was, zum Teufel, hatte er, Patrick, davon?
Und jetzt, da der Name des Verführers einmal heraus war, wandte er sich ab von Gott. Er kniete neben dem Fernseher nieder, faltete die Hände, besann sich jedoch, riss die Hände wieder auseinander und ersuchte den Herrn des Ungeziefers um Rat und Tat.
Und der ließ sich nicht lange bitten.

Kaum hatte Patrick den Kanon seiner Wünsche über die Lippen gebracht, da klopfte es an der Tür. Sein Herz pochte ihm hinauf bis in den Hals. Er warf einen Blick auf die Digitalanzeige des DVD-Players: kurz vor Mitternacht. War es möglich? Genügte denn schon ein einziges Bitten, um die Hölle herbeizurufen?
Wieder klopfte es, diesmal nachdrücklicher. Patrick dachte voll Unbehagen an die Nachbarn. Wenn die mitbekamen, dass er zu nachtschlafener Zeit Besuch erhielt vom ...
Auf wackligen Beinen eilte er in den Flur und öffnete die Tür einen Spalt breit. Fast hätte er enttäuscht aufgestöhnt: Es war nicht der Gehörnte.
„Ja, bitte?“
Der Mann im Hausflur hätte glattweg ein Zeuge Jehovas sein können: adretter Anzug, passende Weste, cremefarbenes Hemd, die Krawatte zu einem vorbildlichen Windsorknoten gebunden, die Schuhe auf Hochglanz gewichst. Aber ihm fehlte das Aktentäschchen mit den Bibeln und dem Wachtturm. Und der zweite Zeuge.
„Darf ich?“, fragte der Mann.
„Um die Zeit?“, hielt Patrick dagegen.
Der Mann hob eine Augenbraue. „Wir haben einen Termin.“
„Ah ...“ Mehr fiel Patrick nicht ein. Dann, nach einer Weile: „Kommen Sie rein.“
Der Mann trat in die Wohnung. „Du“, sagte er.
„Was?“
„Bei uns ist das `Du` üblich. Mein Name ist Ephraim.“ Er reichte Patrick die Hand und lächelte einnehmend. „Den anderen könntest du nicht aussprechen.“
„Patrick“, sagte Patrick.
„Ich weiß“, sagte Ephraim und ging ins Wohnzimmer.
Patrick trottete ihm nach. Er hängte seine Nase in den Hauch von Pfefferminz, den Ephraim hinter sich herzog. Ausgezeichnetes Parfüm, dachte Patrick. Wohlgefällig musterte er die ebenmäßige Gestalt des Besuchers, und als sie ins Wohnzimmer traten, konnte er seinen Blick kaum von dem hübschen Gesicht des Mannes abwenden.
„Setzen wir uns“, sagte Ephraim und nahm im Sessel Platz.
„Kaffee, Cola, Bier?“, bot Patrick an. Seine Stimme hatte sich vom Bariton ins Falsett verschoben. Fast fühlte er sich wie einst beim ersten Techtelmechtel mit Andrea: ein serviles Männlein, das gefallen wollte.
Ephraim winkte ab. „Danke, nein. Ist nicht mein Geschmack.“ Er lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. „Wir haben Geschäftliches zu besprechen. Du willst einsteigen?“
Patrick rutschte nervös auf der Couch nach vorn. Der Pfefferminzgeruch vernebelte ihm die Sinne. Das war etwas ganz anderes als der Weihrauchgestank, den er so häufig hatte einatmen müssen, vermengt mit den Kölnisch-Wasser-Schwaden der Kirchgänger.
„Einsteigen ... äh ...“
„Du willst doch dabei sein, oder? Ein anderes Leben führen, nicht wahr? Jedenfalls hast du das gesagt.“
Grundgütiger, dachte Patrick, ich bin erhört worden. Nach all den Jahren. Vater hätte so Augen gemacht.
„Bist du ...“, setzte er atemlos an und beglotzte mit naschkatzigem Verlangen die Verheißung im Sessel gegenüber. Die ganze Erscheinung, die gewinnende Art, die sanfte Stimme – bislang waren ihm gleichgeschlechtliche Ambitionen fremd gewesen, aber der Besucher brachte Patricks eingerostete Libido gehörig auf Trab. Er verschränkte die Hände im Schoß, um seine schmerzend gegen den Reißverschluss drängende Not zu verbergen.
„Was machst du da?“, erkundigte sich Ephraim. „Beten?“ Seine Stimme hatte an Schärfe gewonnen.
„Ich doch nicht“, beeilte sich Patrick zu widersprechen. Er löste die Finger voneinander und folgte Ephraims Beispiel, indem auch er die Beine übereinanderschlug.
„Ich bin’s nicht“, erklärte Ephraim. „Aber ich habe alle Vollmachten.“ Er lächelte. „Ein übler Ignorant, nicht wahr?“
„Wer?“
„Der Alte. Hast dir solche Mühe gegeben, hm?“
Patricks Blick flackerte zornig auf. „Allerdings.“
„Und? Was hat’s dir eingebracht?“
„Nichts!“ Er spuckte das Wort förmlich aus.
Ephraim nickte zufrieden. „Es wird mir ein ewiges Rätsel bleiben: Der Alte vergeigt seine Schöpfung, aus Wut darüber begeht er den umfassendsten Genozid der Geschichte, diesen Sintflutkapitän und seinen Zoo mal beiseite genommen – und hat dann tatsächlich den Nerv, Moses das sechste Gebot in die Steintafel zu diktieren? Aber auf uns mit dem Finger zeigen! Lächerliche Propaganda. Hat er sich je darum geschert, was mit dir ist? Warst du ihm nicht vielmehr egal? Vollkommen gleichgültig?“
Das Mitgefühl in Ephraims Stimme hätte für ein Jahr Beerdigungen gereicht.
Mein Herr dagegen hat stets ein offenes Ohr für die Bedürftigen.“
Patrick kämpfte eine Weile gegen den Kloß in seinem Halse an. Bloß nicht flennen, dachte er verzweifelt, wie sähe das denn aus? Dann sprudelte es nur so aus ihm heraus:
„Ich hab nicht mehr lang. Diese Schmerzen, o mein ...“
„Nicht diesen Namen!“
„... zum Teufel, diese unerträglichen Schmerzen. Das ist wie Feuer in der Brust. Ich will noch nicht sterben. Ich will noch so viel. Leben will ich, hörst du? Leben! Ich hab das Alleinsein satt. Ich will Geld. Macht. Ich will doch noch so vieles.“ Patrick schluchzte. „Er hat mich verlassen.“
„Er hat dich nicht verlassen. Er war nie da.“
Patrick rieb sich über die Augen. Durch die Prismen seiner Tränen sah er den Abgesandten der Hölle so, wie er hätte sein sollen: ein gänzlich hautloses Antlitz, wo sich nacktes Fleisch und blutige Muskelstränge wie kochend über den deformierten Knochen aufwarfen; drei Augenhöhlen, finster und tief wie Schächte zur Hölle; anstelle der Nase eine viergespaltene Zunge, die über den lippen- und zahnlosen Schlund hinabhing, in dem es von niederem Getier wimmelte; ein Batzen pulsierende Hirnmasse, der aus dem haarlosen Haupt hervorwuchs wie ein monströser Tumor und aus dessen Furchen dutzende winzige Hände ragten, die blindlings in die Luft griffen in der Hoffnung, etwas von Belang zu ergattern. Als Patrick sich die Augen getrocknet und den Rotz hochgezogen hatte, war das Schreckbild wieder verschwunden. Da saß nur Ephraim, proper vom Scheitel bis zur Sohle.
„Du kannst das alles haben“, erklärte Ephraim leichthin. „Und noch mehr. Es ist ganz einfach.“
Und noch mehr. Begierig nahm Patrick diese Worte auf. Himmel und Hölle, noch mehr als Leben, Weiber, Geld und Macht? Und wenn er das erste Kamel sein sollte, das es durchs Nadelöhr schaffte: Ich will, ich will, ich will!
„Was muss ich tun?“, fragte er. „Was muss ich dafür tun? Sag’s mir.
„Wir erwarten volle Mobilität. Absolute Flexibilität. Und vor allem: unbedingten Einsatzwillen.“
„Sonst nichts?“
„Sonst nichts.“
„Und meine ...“ – beim Gedanken an das metaphysische Hirngespinst kam er sich fast ein wenig albern vor, aber Vaters Erziehung war nicht mit einem Fingerschnipsen abzutun, und so musste die Frage auf den Tisch – „... ich mein, was ist mit meiner ... Seele?“
„Ach die“, lachte Ephraim. „Behalte sie einstweilen. Der Rest genügt vollauf. Nun?“
„Ich tu’s. Ja, verdammt.“
„Wirst dem Alten nicht mehr hinterherweinen?“
„Nein, nein. Niemals, mein Wort darauf.“
„Gut.“ Ephraim nickte zur Wand hinüber und sagte mit mildem Vorwurf in der Stimme: „Das nimmst du aber noch fort.“
Patrick errötete. Das Kreuz. Er hatte ganz vergessen, es abzuhängen.
„Sofort“, versicherte er hastig.
Ephraim stand auf. „Erlaube, dass ich vorher gehe. Termine, du weißt schon.“
Patrick geleitete ihn zur Tür. Ein quälendes Verlustgefühl malträtierte seine Eingeweide. Er hatte sich noch nicht sattgesehen an diesen bezaubernden Zügen; dagegen war Andrea der reine Nacktmull.
„Morgen früh um sechs“, bestimmte Ephraim. „Pack für eine Woche. Ich klingel dreimal, du kommst runter.“
„Wohin geht es?“
„Volle Mobilität“, sagte Ephraim nur und ging.
Patrick lief zurück ins Wohnzimmer und riss das Kruzifix von der Wand.
„Das war’s mit uns“, schrie er dem Gekreuzigten ins leidende Antlitz. „Aus, Schluss, vorbei. Saukerl.“ Und pfefferte ihn kopfüber in den Papierkorb, wo er zwischen unzähligen Medikamentenpackungen auf Nimmerwiedersehen versank.
Dann setzte sich Patrick auf den Boden, riss den Hosenstall auf, rief sich noch einmal die Erscheinung des Gesandten vor’s gierende Auge und masturbierte wie besessen drauf los. Er schaffte es nicht bis zum Höhepunkt, trotz aller Technik. Die Schmerzen in der Brust waren zu stark.

Pünktlich um sechs Uhr in der Früh fuhr unten ein Mercedes-Transporter Kombi vor. Ephraim stieg aus und schritt auf die Haustür zu. Patrick, der wartend hinter der Wohnzimmergardine im dritten Stock stand (genaugenommen stand er dort seit mehr als einer Stunde, nachlässig geduscht, ein mit schwarzem Kaffee hastig hinuntergespültes Brötchen im Magen) schlug vor Freude die Hände ineinander. Er schnappte sich den Koffer mit seinen Siebensachen; als er das dreimalige Klingeln vernahm, war er längst schon auf der Treppe.
„Morgen“, begrüßte ihn Ephraim.
„Morgen“, japste Patrick. Er hätte seine ungeteilte Aufmerksamkeit liebend gern auf den appetitlichen Anblick vor ihm gerichtet, aber die Schmerzen waren wieder da; er war zu schnell gelaufen. Rasch hob er die Hand vor den Mund und hustete blutige Speichelfäden hinein. „Entschuldige“, sagte er.
„Hier.“ Patrick reichte ihm ein Taschentuch. „Komm.“
Ephraim nahm auf dem Fahrersitz Platz, Patrick stieg hinten ein. Drei Augenpaare starrten ihn neugierig an. Fast wollte er sich betrogen fühlen. Er hatte sich als Privilegierter gesehen, nachgerade als Auserwählter, aber der Personalmangel im Schattenreich war offenkundig gravierender als angenommen.
„Die Kollegen“, sagte Ephraim und fuhr los.
In der kommenden halben Stunde sprach niemand ein Wort. Erst, als es aus der Stadt hinausging und das Auge an den vorbeihuschenden Feldern und vereinzelten Baumgruppen keine Ablenkung mehr fand, kam so etwas wie eine Unterhaltung in Gang. Der dicke Mittfünfziger mit dem asthmatisch rasselnden Atem und der genetisch bedingten Tonsur war nicht etwa ein irregeleiteter Mönch, sondern Hans-Joachim – von seinen Freunden Hajo genannt –, der, wie sich herausstellte, ein Leidensgenosse Patricks war: Silikose im fortgeschrittenen Stadium, Steinstaublunge, in dreißig Jahren Kumpeldasein unter Tage mühsam zusammengeatmet. Die beiden Jungspunde hießen Axel und Kai. Um die zwanzig, schätzte Patrick. Sahen aus wie Zwillinge, wenngleich Kai beteuerte, zwei Jahre älter als sein Bruder zu sein. Das war auch das einzig Bedeutsame, das Patrick ihrem im übrigen gehaltlosen Geschwafel entnehmen konnte.
Nach mehr als einer Stunde erreichten sie ihr Ziel. Ringsum nichts als brachliegende Felder, auf dem sich Scharen von Hasen ein mümmelndes Stelldichein gaben. Zu seiner Linken, gut dreihundert Meter entfernt, bemerkte Patrick ein Schubschiff, das durch den Acker stampfte; bis ihm klar wurde, dass dort hinten der Rhein floss. Vor dem Wagen erstreckte sich ein ausgedehntes Gebiet, das Patrick zunächst für ein Militärgelände hielt: ein massiver Stahlzaun mit einer Krone aus NATO-Draht trennte die Außenwelt ab.
Ephraim hielt den Wagen vor einem Tor. Patrick beugte sich vor und spähte über Ephraims Schulter durch die Windschutzscheibe. Von wegen Militär: auf dem Schild am Tor stand Kläranlage.
Stirnrunzelnd setzte er sich wieder zurück. Seine Gedanken schlugen wilde Kapriolen. Ging er hier einem idiotischen Spielchen auf den Leim? Sah so etwa die Hölle aus: eine Abwasserreinigungsanlage mitten in der Einöde? Patrick suchte nach verräterischen Spuren in den Gesichtern seiner ‚Kollegen‘, einem angedeuteten Grinsen, einem ausweichenden Blick, etwas, das ihm die Gewissheit verschaffte, dass die Kerle hier alle unter einer Decke standen und ihn bloß verhonepipelten. Aber die starrten ebenso bass erstaunt wie er nach draußen.
Ephraim stieg aus, öffnete das Tor und fuhr auf das Gelände, vorbei an Gebäuden unterschiedlicher Größe, und parkte vor einer baufälligen Wellblechbaracke.
„Da wären wir“, sagte er und sprang aus dem Transporter.
Sie nahmen ihre Koffer und stiegen ebenfalls aus.
„Eine Kläranlage?“, sagte Hajo.
Ephraim lächelte. „Was hast du erwartet? Den neunten Kreis der Hölle? Kommt, ich zeig euch eure Unterkunft.“
Diese ‚Unterkunft‘ war die Wellblechbaracke. Natürlich, dachte Patrick, hätt’ mich auch gewundert. Sie präsentierte sich innen so schmucklos wie von außen. In der Mitte ein abgenutzter Küchentisch mit vier Stühlen. Vor den kahlen Wänden – sie waren tatsächlich kahl; kein Behang, kein Kalender, nicht mal ein albernes Pin-up – waren Feldbetten aufgestellt: linkerhand zwei, rechterhand zwei. Gegenüber führte eine Tür zu weiteren Räumen.
Als scharfer Kontrast zu dem pragmatisch-lieblos eingerichteten Inneren dieser Hütte lagen auf den Feldbetten fein säuberlich gefaltete, schwarz-gelbe Schutzanzüge, dazu Gummihandschuhe und Gummistiefel.
„Stellt eure Koffer ab und zieht euch um“, sagte Ephraim. „Wir fangen gleich an.“
„Was is’ mit Kaffee?“, maulte Axel. „Mir ist saukalt.“
„Möchtest du vorher noch ein Bad nehmen?“, fragte Ephraim spöttisch. Und dann, mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Zieh dich um!“
Sie streiften ihre Kleidung ab und stiegen in die Schutzanzüge.
„Schon komisch, oder?“, raunte Hajo Patrick zu.
„Was?“
„Na, das hier. Schon komisch, sag ich. Hab was anderes erwartet.“
„Jau“, entgegnete Patrick, während er den linken Stiefel überstreifte.
Hajo bedachte ihn mit einem freundlichen Seitenblick. „Bist echt in Ordnung, weißte?“
„Jau.“
In voller Montur traten sie ins Freie hinaus. Ephraim zeigte auf ein langgezogenes Gebäude. „Darin befindet sich das Pumpwerk. In dem großen Gebäude daneben ist das Überlaufbecken untergebracht. Dahinten, hinter der Leitwarte, sind Vor- und Nachklärbecken, Dosierstation, Belebungsbecken und so weiter. Aber das sind alles biologische Prozesse, das interessiert uns momentan nicht. Wir haben ...“ – er wandte sich in die Richtung, aus der sie das Gelände befahren hatten – „... dort zu tun.“
„In dem Schuppen da?“, wollte Kai wissen.
„Nein, das ist der Feinrechen. Das dahinter, der Grobrechen. Da liegt der Hund begraben.“ Er lachte wie über einen gelungenen Scherz.
Sie folgten Patrick auf dem gepflasterten Weg, vorbei am Feinrechengebäude, dann am Grobrechengebäude, und als Patrick schon das massive Tor sehen konnte und sich zu fragen begann, ob Ephraim nicht vielleicht doch einen Scherz gemacht hatte, blieb dieser plötzlich stehen und zeigte auf einen im Boden eingelassenen Betondeckel.
„Hier drunter ist der Zulauf.“
„Und das heißt?“, fragte Patrick.
„Es geht abwärts.“
In den Deckel war ein Metallbügel eingelassen. Ephraim griff danach und zog den Deckel mit spielerischer Leichtigkeit auf.
„Also ...“, sagte er und machte eine einladende Handbewegung.
Ein Schwall übelriechender Gase entwich dem Schacht.
„Alter, is’ ja ekelhaft!“, protestierte Kai. „Da kriegen mich keine zehn Pferde runter.“
Ephraim trat hart an ihn heran. Sein freundlicher Gesichtsausdruck änderte sich nicht die Spur. „Pferde vielleicht nicht.“ Dann schnellte seine Rechte hoch und packte Kais Kopf so, dass sich Daumen und Mittelfinger tief in seine Wangen bohrten. Für einen Moment glaubte Patrick, eine viergespaltene Zunge zu sehen, die über das schreckensstarre Gesicht des Jungen leckte. „Du gehst als Erster.“
Er ließ ihn los. Kai nickte, die Augen zu großen Glubschern aufgerissen. Auf seinen verschleimten Wangen hatten sich feuerrote ovale Male gebildet. Hastig wischte er sich mit dem Ärmel übers Gesicht und machte sich an den Abstieg.
Die anderen beeilten sich, ihm nachzufolgen. Auf dem Trittsteig unten angekommen, empfing sie ein überwältigender Gestank.
„Leck mich einer am Arsch“, sagte Hajo und hielt sich die Nase zu.
„Ist das ...?“, setzte Patrick an.
Ephraim nickte. „Nicht gerade ein Traumjob, aber wir haben alle mal klein angefangen.“
Patrick sah sich um. Der Kanal kam aus dem Nichts hinter ihm. An den Betonwänden verliefen Kabelstränge, die die in regelmäßigen Abständen montierten Lampen mit Strom versorgten. Ein dünner Schmierfilm klebte auf den Lampenabdeckungen, so dass nur ein ungewisses Licht auf die Trittsteige zu beiden Seiten der Kanalwände durchsickerte. Ist auch besser so, ich will diesen Scheiß – o Mann! –, also, ich will das gar nicht seh’n.
Denn das war ja das eigentliche Übel, der Quell dieses fast schon greifbaren Gestanks: die Kanalwanne zu seiner Rechten. Bis an den Rand der Trittsteige angefüllt mit einer braunen Masse, die in ihrer Fließbewegung erstarrt war wie ein erkalteter Lavastrom. Hier ruhte einträchtig Morgenschiss an Morgenschiss, die Ausscheidungen eines ganzen Viertels, einer Gemeinde, herrje, wie’s aussah, des ganzen Landes. Klopapier war in Klumpen untergemischt, Äste ragten gleich knorrigen Totenfingern an vielen Stellen heraus, der ganze Pamps war durchwirkt von Flaschen, Dosen, Laub und was noch alles. An einer Stelle klebte auf der schwarz angelaufenen Kruste, wie sorgsam dekoriert, eine schmuddelige Damenbinde.
Ephraim beschrieb mit der Hand einen Bogen über die Kanalwanne.
„Wir haben den Zulauf gesperrt“, erklärte er. „Wird Zeit, dass wir das Problem in den Griff kriegen, bevor die Stadtverwaltung Theater macht.“
Patrick wollte sich nach dem Problem erkundigen, wurde aber durch schlurfende Schritte davon abgehalten.
Weiter vorn beschrieb der Kanal eine scharfe Biegung nach rechts. Von dort näherte sich ein Mann auf dem diesseitigen Trittsteig. Auch er trug einen schwarz-gelben Schutzanzug, der ihm um seine spindeldürre Gestalt schlotterte. Seine Haare hingen ihm in fettigen Strähnen bis auf die Schultern herab. Er zog das rechte Bein nach. Beim Näherkommen erkannte Patrick das ganze Ausmaß der Tragödie: das linke Auge des Mannes war nurmehr eine schwärende Wunde, als hätte man ihm ein in Eiter getränktes Blumenkohlröschen unters Lid gezwängt; jemand – oder etwas – hatte ihm den Nasenknorpel pulverisiert und das Riechorgan auf Pekinesenmaß zusammengestampft; der linke Arm hing schlaff herab und endete in einem formlosen Klumpen, dem seine frühere Funktion als Hand nicht mehr anzusehen war – Haut, Muskelfleisch und Knochen waren untrennbar ineinander vermengt.
„Ey, guck dir den Behindi an“, raunte Axel seinem älteren Bruder zu.
Sein Spatzenhirn hatte die Akustik hier unten nicht in Betracht gezogen. Die geistlose Bemerkung hallte von den Wänden wider. Grunzend hob der Neuankömmling im Gehen die rechte Hand, darin – eine neunschwänzige Peitsche, ihre ledernen Riemen mit rostigen Nägeln durchsetzt.
Ephraim hob beschwichtigend die Hand. „Das ist Ardak“, sagte er. „Euer Vorarbeiter.“ Und an den Verstümmelten gewandt: „Ardak, sag den Neuen Guten Tag.“
„Guten Tag“, sagte Ardak mit einer schnarrenden Abfolge von Silben, bei der man schon genau hinhören musste, um den Sinn hinter den Lauten zu erfassen.
Patrick war die Bemerkung mit den ‚Neuen‘ keinesfalls entgangen. War hier unten eine ganze Belegschaft am Werk? Und wenn das so war: gab es überhaupt ausreichend Weiber, Geld und Macht, um dann alle Lohntüten damit zu füllen? Es ging ihm schon gehörig gegen den Strich, mit Hajo und den Bengeln teilen zu müssen. Sicher, bei den Weibern konnte er großzügig sein, selbst unter Zuhilfenahme seiner Zehen (die Zehennägel müssen mal wieder, fiel ihm ein) war er anatomisch nicht für alle Frauen dieser Welt gerüstet – aber Geld und Macht? Konnte es da Grenzen geben? War es nicht vielmehr so, dass, wenn man einem anderen gab, man zwangsläufig von ihm nehmen musste? Sparstrümpfe, Fonds und Anleihen, Immobilien, Waffen, Militär, ja, ganze Staaten – es gab so unendlich viele Möglichkeiten.
Ephraim trat zur Leiter und griff nach ersten Sprosse. „Dass mir keine Klagen kommen“, sagte er noch und stieg nach oben. Mit einem dumpfen Laut fiel der Betondeckel zu.
Ardak hielt sich nicht lange mit Formalitäten auf.
„Hier entlang!“, befahl er und schlurfte den Weg zurück, den er gekommen war. Er schien nicht der Typ zu sein, mit dem man über Arbeitsbedingungen disputieren konnte, und so hefteten sich Patrick und die anderen an seine Fersen. Der Biegung folgend offenbarte sich ihnen bald darauf der ganze Schlamassel, in den sie geraten waren.
„Scheiße!“, sagte Axel und meinte den Berg, dessen Grundsubstanz aus eben jenem Ausruf bestand und der sich vor ihnen bis zur halben Höhe des Rohres aus der Kanalwanne auftürmte.
„Scheiße!“, sagte auch Kai und meinte die Situation.
Patrick pflichtete beiden bei. Hatte er bis hierher noch Zweifel gehabt, jetzt lag es auf der Hand: Aus irgendeinem Grund konnte die Kläranlage den Fäkalienstrom nicht mehr bewältigen, und sie waren hier, das stinkende Hindernis aus dem Weg zu räumen.
Über das Exkrementenplateau hinweg konnte er den Grobrechen erkennen: Gitterstäbe mit einer Spaltweite von mehreren Zentimetern, gut dreißig Meter von hier.
An der Wand lehnten ihre Arbeitsgeräte. Vier Schaufeln, vier Spitzhacken, vier Schubkarren. Ardak zeigte erst auf die Gerätschaft, dann auf den monströsen Pfropfen und schließlich über die Schulter zurück.
„Das muss alles nach dahinten“, schnarrte er, um seine ohnehin unmissverständliche Pantomime zu untermauern.
Axel schnaufte angewidert aus. „Glaubst du etwa, ich buddel hier in der Scheiße ‘rum? Ich bin doch nich’ meschugge!“
Ardaks gesundes Auge nahm den Widerspenstigen ins Visier. Unvermittelt holte er aus und schlug dem Jungen die Peitsche ins Gesicht. Ein Nagel verfing sich in Axels rechtem Mundwinkel und riss ein Stückchen der Oberlippe fort.
„Du Wichser!“, jaulte Axel auf und machte Anstalten, sich auf den Verstümmelten zu werfen. Der hob drohend die Peitsche. Jetzt endlich schien Axel zu begreifen, dass Ardak keine Kuriosität aus einer Freakshow war; das hier war bitterer Ernst. Er presste die Hand auf die blutende Wunde und lehnte sich jammernd gegen die Kanalwand.
„Tut’s weh, Mann?“, erkundigte sich Kai.
„Was glaubst’n, Alter?“, nuschelte Axel mit einem giftigen Blick auf den Peitschenmann. „Dieser ...“ – er sann nach einer treffenden Schmähung; nun, dachte Patrick, die Auswahl ist ja nicht so groß, ihren überschaubaren Wortschatz hatten die beiden offensichtlich aus amerikanischen Schmonzetten und dämlichem HipHop-Geseier zusammengeklaubt; Ey, Mann, Alter, yo, Baby, yo, Baby, yo!; und den Wichser nicht zu vergessen, das ergab schon mal eine passable Grundausstattung für ein pubertäres Schulfhofpalaver – „... dieser Wichser!“
„Und wie“, bekräftigte sein Bruder. „So’n Penner!“
Ah, Penner!
Ardak scherte sich nicht um die Beleidigungen.
„Das muss alles nach dahinten“, wiederholte er.
„Dann woll’n wir mal, Kollegen“, meldete sich Hajo zu Wort und spuckte in die Hände. Er betrachtete die Aufgabe offenbar als Herausforderung. Patrick konnte sich lebhaft vorstellen, was Hajo vor sich sah: einen Stollen tief in der Erde, durchzogen von einem Fäkalienflöz, den es abzubauen galt.
„Ein Glück, das Wasser ist abgelaufen“, sagte Hajo.
Patrick schaute ihn an. „Glück?“
„Na, stell dir vor, ‘s wär noch feucht. Schon mal nasse Erde gegraben? Da hebste dir ‘n Bruch bei.“
War das zu glauben? Der Kerl gerierte sich unternehmenslustig wie bei einer Schatzsuche.
„Wir buddeln erst ‘ne Rinne von hier ...“ – dabei zeigte Hajo auf die Stelle, an der sich die Fäkalienalm aus der Wanne schob – „... bis dahinten irgendwo.“ Dabei zeigte er den Weg zurück. „So dreißig, vierzig Meter, schätz ich. Da kippt ihr den Kram hin, bis wir hier vorn durch sind.“
„Ihr?“, hakte Patrick nach.
„Ich grab, ihr fahrt.“
Nicht übel, die Lösung, dachte Patrick. Die Schubkarre war ihm allemal lieber, als knietief in den Ausscheidungen anderer zu wühlen. Auch Kai und Axel nickten sofort ab.
Aber so ganz hatte Patrick den Plan noch nicht verstanden. „Warum umschichten? Da verlagern wir das Problem doch nur von hier nach da.“
„Quatsch mit Soße“, grinste Hajo. „Die Kacke ist nich’ das Problem, irgendwas Sperriges verstopft da vorn den Rechen, das ist das Problem. Wenn das weg ist, machen die den Kanal wieder auf und baff!“
„Baff?“
„Na, baff eben. Das Wasser rauscht ran, spült den ganzen Kram wieder hier durch, und der Laden läuft.“
Ardak grunzte. „Faules Pack, fangt an.“
Hajo schnappte sich eine Spitzhacke und schlug damit ein Loch in die braune Masse. Ein großer Brocken löste sich heraus.
„Bingo!“, schimpfte er.
„Was denn?“, wollte Patrick wissen.
„Guck dir das an. Drunter is’ Gelee. Doch nich’ trocken, das Zeug. Na, was soll’s, nur die Harten komm’ in Garten. Schieb ‘ne Karre her, zackzack.“
Keine Frage, hier unten war Hajo in seinem Element. Patrick wartete, bis Hajo ihm die erste Schubkarre vollgepackt hatte und zockelte auf dem Trittsteig los. Als er glaubte, an die vierzig Meter zurückgelaufen zu sein, kippte er seine Ladung wieder in die Wanne. Auf dem Rückweg kam ihm Kai entgegen; braune Sprenkler bedeckten sein Gesicht, und offensichtlich hatte er nicht nur Mühe, die Schubkarre im Gleichgewicht zu halten; die Balance seiner Magensäfte war gleichfalls im Eimer, er würgte, schluckte, atmete tief ein, doch was er einatmete, beschleunigte den Prozess nur noch – mit lautem Stöhnen erbrach er sich auf sein anrüchiges Transportgut.
Der gibt auf, dachte Patrick. Das schafft der Bubi nicht.
Aber Kai hielt durch. „Alter, wie mich das ankotzt!“, fluchte er, mehr an die Schubkarre als an Patrick gerichtet. Dann lavierten sie auf dem schmalen Trittsteig aneinander vorbei, und weiter ging’s.
Über der Schneisengrabung vergingen Stunden. Später bat Hajo um eine Pause.
„Können wir mal nach oben? Uns waschen? Ich muss was essen.“
„Nach Feierabend“, schnarrte Ardak ungehalten.
„Und was ist mit Trinken?“, fragte Patrick. „Ich hab ‘nen Mordsdurst.“
Ardak blickte unschlüssig drein. Was, zum Teufel, gibt es da zu überlegen?, dachte Patrick erbost. Aber dann zog Ardak los und kam nach kurzer Zeit mit einem Kasten Wasser zurück, wo immer er diesen auch aufgetrieben haben mochte.
„Hier. Trinkt. Und dann weiter.“
Hajo brachte es tatsächlich fertig, sich zu bedanken. Er zeigte den anderen, wie man einigermaßen unfallfrei die Schraubverschlüsse öffnen konnte, denn wenn er auch durch vorbildliche Umgangsformen glänzte, auf die Idee, seine Lippen über einen scheißebeschmierten Flaschenhals zu stülpen, kam selbst er nicht.
Als sie die Rinne schließlich freigelegt hatten, richtete Hajo sich ächzend auf und fasste sich an den Rücken.
„Ich bin platt“, keuchte er, das Gesicht fäkalienverschwitzt. „Weiß einer, wie spät’s ist?“
Axel schob seinen linken Handschuh zurück und warf einen Blick auf das besudelte Ziffernblatt seiner Uhr. „Fünf vor halb sieben.“
Erst? Patrick hätte schwören mögen, drei Tage in diesem ewig gleichen Schummerlicht hier unten zugebracht zu haben.
Hajo wandte sich an Ardak, der auf dem Trittsteig über ihm aufragte. „Was is’? Feierabend?“
„Ihr müsst noch“, kam die Antwort.
„Aber ich kann nich’ mehr.“
Ardak ließ seinen Blick über die anderen schweifen. Patrick tat, was er in der Schule gelernt hatte: Er blickte Ardak fest in die Augen. Wer wegschaut, verliert.
„Du“, schnarrte Ardak.
„Ich?“, krakeelte Axel. „Warum denn ich?“
„Nimm die Schaufel!“ Und zu Hajo: „Du schiebst.“
„Das meld’ ich dem Betriebsrat“, erwiderte Hajo, aber der Witz krepierte noch unter seiner Nasenspitze.
Immerhin konnten sie jetzt die Schneise auf dem Wannengrund nutzen. Während Patrick, Hajo und Kai mit den Schubkarren in die Rinne hinabkraxelten, griff Axel widerwillig nach der Schaufel.
„Aber abwechselnd“, drohte er seinem Bruder. „Ich ‘n bisschen, du ‘n bisschen.“
Da fehlt doch noch was, dachte Patrick. Und richtig:
„Alter!“, brummte Axel und tat den ersten Spatenstich.

Am liebsten hätte Patrick sich gegen die Wandfliesen geworfen und sie aus übermütiger Freude geküsst. Noch am Morgen wäre sein Urteil anders ausgefallen: ein versiffter Duschraum, in dem Scharen von Fußpilzsporen in den Fliesenfugen nisteten und auf nackte Sohlen lauerten. Aber jetzt konnte er sich keinen schöneren Ort auf dieser Welt denken als diesen hier im hinteren Bereich der Wellblechbaracke, der – ein Segen – einen eigenen Zugang von außen hatte; nicht auszudenken, wenn sie mit ihren verdreckten Stiefeln durch den Schlafraum hätten hineinspazieren müssen. Aus den Sprinklerköpfen in der Decke prasselte Wasser auf sie herab, spülte den Schmier von ihren Schutzanzügen. Erst vor wenigen Minuten war er – nachdem Ardak schnarrend „Feierabend!“ gebrüllt und dabei die Luft über ihnen mit der Peitsche zerknallt hatte, als wären sie paradierende Zirkuspferde – schlafensmatt aus dem Kanal hinauf ins Freie gekrochen; jetzt aber beobachtete er mit einer lang nicht mehr gekannten Heiterkeit, wie sich das Schmutzwasser seinen Weg über die Bodenfliesen bahnte und gurgelnd im Siphon verschwand.
Dann schlüpften sie wie die Schmetterlinge aus ihren schwarz-gelben Kokons, warfen sie achtlos zu Boden. Raus aus der Unterwäsche noch und ab in den zweiten Duschraum, wo Duschgel, Seife und Waschlappen an Wandhaken hingen. Patrick streifte einen Waschlappen über und schrubbte sich die Haut von Kopf bis Fuß, hier noch, das Gesicht kann gar nicht oft genug, die Brust, die Hüfte, die Eier, und vergiss nicht die Vorhaut – was hab ich dir beigebracht, Bengel? –, immer schön zurückschieben und sauberhalten, sonst kannst du mit dem Kuppenkäse bald ‘nen Marktstand aufmachen. Er bohrte sich sogar mit dem eingeseiften Finger (Pfirsich-Honig-Aroma, empfindliche Haut) in beide Nasenlöcher und rieb über die Nasenwände, um nur ja den elenden Fäkaliengeruch loszuwerden.
Bis in die allerletzte Pore sauber und duftend wie Brotaufstriche fanden sie sich um kurz nach elf am Tisch in der Baracke ein. Patrick hatte ein Shirt und eine Jeans übergezogen, ein Sonntagsstaat gegen die Gummigarderobe, die er so bald nicht wieder anzulegen gedachte – und es doch musste, wenn nicht ein Wunder geschah. Obwohl: war das hier nicht das Wunder, das er so herbeigesehnt hatte?
Ephraim kam mit einem Wägelchen herein und tischte reichlich auf: Cola, Bier, Wasser, Kaffee, dazu Brötchen, Butter, Zwiebelringe ... und einen Hackfleischbatzen von mindestens drei Kilo.
„Wer hart arbeitet, der soll auch gut essen“, sagte Ephraim.
Patrick betrachtete das Hackfleisch mit einer Mischung aus bohrendem Hunger (er hatte seit dem frühen Morgen nichts gegessen) und Ekel (er musste an die Klumpen ähnlicher Konsistenz denken, mit denen sie sich heute abgerackert hatten).
„Gibt’s auch was anderes?“, fragte er.
„Nein“, beschied Ephraim. „Rohes Fleisch gibt Kraft.“
Widerwillig schmierte Patrick sich eine Brötchenhälfte; als er den ersten Biss tat, siegte der Hunger dann doch. Er nahm noch sechsmal Nachschlag und spülte alles mit Cola in den Magen. Dabei beobachtete er Axel und Kai, die sich augenscheinlich nicht sonderlich wohlgesonnen waren: Kai hatte den Teufel getan, Axel an der Schaufel abzulösen, ungeachtet aller Flüche und Drohungen, mit denen der jüngere Bruder den älteren eingedeckt hatte, und Ardak war’s einerlei gewesen. Sie buckelten mit vor Grimm zerfurchten Stirnen über ihren Brötchen. Ein Gutes hatte das immerhin: ihre geisttötende Diktion war für den Augenblick einem erträglichen Geschmatze gewichen.
Nach dem Essen schritt Ephraim langsam um den Tisch herum. Patrick zuckte heftig zusammen, als Ephraim hinter ihm stehenblieb und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Ein Hauch von Pfefferminz wehte ihm um die Nase, doch diesmal empfand er den Geruch keinesfalls als erregend; vielleicht, überlegte er, war das der Erschöpfung geschuldet; oder dem Vollgefressensein.
„Das war gute Arbeit heut“, erklärte Ephraim. „Beim letzten Mal hatten wir um diese Zeit schon einen Ausfall zu beklagen.“
Wundert mich nicht, dachte Patrick. Wenn hier etwas Sinn ergab, dann doch wohl das: abhauen! Aber dann sah er Ardak vor sich, wie er mit seinem Gegrunze und seiner Peitsche für den richtigen Workflow sorgte, und der so leichthin in die Runde geworfene ‚Ausfall‘ konnte plötzlich alles bedeuten.
Ephraims Finger bohrten sich in Patricks Schulter, unangenehm, an der Grenze zum Schmerz. „Du warst gut“, sagte Ephraim. „Für den Anfang. Morgen will ich mehr Einsatz sehen.“
„Was soll ich denn noch ...“, setzte Patrick an. Ephraims Finger gruben sich tiefer in die Haut. „Schon gut, schon gut. Hab’s kapiert. Morgen klotz ich richtig ran.“
„Ausgezeichnet.“ Ephraim ging zum Nächsten. Kai. Er wiederholte den Klammergriff. „Du auch, verstanden?“
„Ich hab doch heut ...“
„Haben – wir – uns – verstanden?“
„Auuuu ... Mann, ja ... jajajaaahhh.“
Zufrieden trat Ephraim hinter Axel. „Bei dir hatte ich Bedenken, ehrlich gesagt. Aber zum Ende hin ... Chapeau! Du kannst es noch weit bei uns bringen.“
Axel warf seinem Bruder einen triumphierenden Das-hast-du-jetzt-davon-Blick rüber.
Dann war Hajo an der Reihe. Ephraim legte ihm wie segnend eine Hand auf die glänzende Kopfhaut - Herr, richte dein Ungesicht auf diesen hier – und fuhr fort: „Du, Hajo, warst mir eine besondere Freude. Hast dich nicht hinter deinen Kameraden versteckt und die Hauptarbeit geleistet. Solcher Einsatz soll belohnt sein: Du hast morgen frei.“
Hajo vergaß das Kauen. „Frei? Ich?“
„Wenn ich’s dir sag. Wir fahren dich zum Arzt. Du lässt dich untersuchen. Gewöhnlich entlohnen wir nicht so rasch, aber in deinem Fall ... betrachte es als Vorschuss.“ Mit einer kleinen Kunstpause, die die Wirkung verstärken sollte, fügte er an: „Und als Verpflichtung.“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging Ephraim zur Barackentür. Er zog sie auf, drehte sich noch einmal um. „Morgen früh um sechs. Ich hol euch ab.“ Sprach’s und verschwand.
„Was soll’n der Scheiß jetz’?“, maulte Kai seinen Bruder an. „Was heißt’n hier: noch weit bringen, hä?“
„Du hast ja kein’ Bock gehabt. Ich hab’s dir so gesagt: Alter, hab ich gesagt, nimm auch mal die bekackte Schaufel. Aber du hast ja kein’ Bock drauf gehabt.“
Axels Genugtuung über die unerwartete Belobigung durch Ephraim und das Inaussichtstellen höherer Weihen war schlichtweg nicht zu überhören. Umso tiefer saß der Stachel bei seinem Bruder.
„Tu doch nich’ so. Machste doch immer so mit deiner Vordrängelei. Geht dir einer bei ab, was?“
„Ich wollt’ doch gar nich’ schüppen!“, appellierte Axel an Kais Erinnerungsvermögen. „Du hast dich gedrückt, nich’ ich.“
„Leck mich. Mit Anlauf.“
Kai stand so heftig auf, dass der Stuhl hintüber kippte. Er stampfte zu seinem Feldbett, zog sich bis auf die Unterhose aus und kroch unter die Decke, wo er die Wand mit Flüchen tapezierte.
Hajo stieß Patrick mit dem Ellbogen an. „Haste gehört? `n Vorschuss!“
Patrick hätte ihm das dämliche Grinsen am liebsten mit bloßen Fingern aus dem Gesicht geschabt. Von wegen netter Kerl: tat so scheinheilig, aber hintenrum die krumme Tour fahren. Hajo hatte gewusst, worauf es hier ankam, er hatte es von Anfang an gewusst – deshalb dieser grandiose Einsatz an der Schaufel. Ein Blinder hätte das gesehen.
Wieder stieß Hajo Patrick an. „Was is’? Sagste nichts?“
„Schön für dich“, entgegnete Patrick. Was auch sonst.
„‘ne Ahnung, was das für’n Vorschuss ist? Hm?“
„Nee, was denn?“ Natürlich wusste er es. Aber er wollte dieser abgefeimten Kanalratte nicht auch noch das Wort reden – vieles konnte er ertragen, das nicht.
Hajo war in seiner Aufgeregtheit nicht zu stoppen. Er schlug sich mit der Faust gegen die rechte Brust. „Das hier ... das ist der Vorschuss. Is’ wie ausgewechselt. Normal wär ich bei der Schufterei heut im Dreieck gesprungen. Aber jetzt ... nichts. Als hätt’ ich nie was gehabt.“
Und morgen kriegst du die Bestätigung, dass du tatsächlich nichts mehr hast, dachte Patrick voll Zorn.
„Was is’ denn bei dir?“, erkundigte sich Hajo.
„Besser“, brummte Patrick. „Immer noch ein paar Stiche dann und wann, aber eindeutig besser.“
„Du kommst auch noch dahin.“ Nur mühsam konnte Patrick sich beherrschen; auf dieses Orakel-von-unter-Tage-Gequatsche legte er keinen Wert; die kumpelige Gönnerlaune kotzte ihn einfach nur an.
„Darauf müssen wir einen heben“, sagte Hajo und griff nach einer Flasche Bier.
„Lass mal, ich bin fix und fertig“, wehrte Patrick ab. „Morgen wird ein harter Tag.“ Und in Gedanken fügte er hinzu: Für dich ja nicht. „Zeit für die Pofe.“
Die Stühle leerten sich, müde Glieder betteten sich auf harten Schlafgelegenheiten.
Aber so rasch fand der Genesene nicht in Morpheus’ Arme. „Das alles hier, das erinnert mich an meine Zeit, weißte?“, flüsterte er Patrick zu.
„Was für ‘ne Zeit?“, fragte Patrick, diesmal betont unwillig.
„Auf der Zeche. Das ist gar nich’ so viel anders hier.“
Doch, dachte Patrick, doch, das ist es. Auf deiner saublöden Zeche hast du dir die Lunge kaputtgemacht. Hier wurde sie wieder heil. Und wenn du darin keinen Unterschied erkennen magst ... dann frag mich mal, du Mistkerl!
„Kann schon sein“, sagte Patrick statt dessen. „Lass schlafen, okay? Ich bin wirklich müde.“
„Ey!“, rief Axel von der anderen Seite herüber. „Könnt ihr euer dämliches Gelaber mal lassen? Ich will pennen! Und mach einer die Funzel aus, ja?“
„Idiot!“, wisperte Hajo lachend, schwang die Beine aus dem Bett und tappte zum Lichtschalter. „Nacht, Mädels.“

Bemerkenswert: dieser Gesinnungswandel buchstäblich über Nacht. Die Weckfunktion ihrer Handys hatte sie aus den Feldbetten und auf die Klobrillen getrieben, von dort in den Duschraum, wo sie sich die gestern abend noch verhassten Schutzanzüge eilig überzogen. Drei schlaftrunkene Gestalten, jede erpicht darauf, die erste zu sein – und dabei möglichst viel Lärm zu veranstalten; sie missgönnten Hajo den Schlaf, aber der blieb hinter seinen Schnarchkaskaden für alles störende Tamtam seiner Kameraden taub.
Punkt sechs kam Ephraim sie holen. Saukalt war’s um diese Zeit noch, selbst für den April. Patrick stapfte ein paar Mal mit den Stiefeln auf den Weg und hauchte sich Atemwölkchen in die hohlen Hände. Dann beeilte er sich, Ephraim und den seit dem Aufwachen unablässig streitenden Brüdern zu folgen. Am Betondeckel angekommen, gab es ein Drängen und Schubsen. Jeder wollte der erste beim Abstieg sein; jeder von ihnen wollte am Ende des Tages seinen Vorschuss einstreichen.
„Das läuft viel besser an als gestern noch, nur weiter so“, warf Ephraim einen zusätzlichen Spritzer Motivation in die Runde und zog den Deckel auf.
Just in dem Augenblick, als Patrick sich durch eine gewandte Körperdrehung zwischen den Brüdern hindurchmogeln wollte, bekam er von Axel einen Stoß und taumelte zur Seite.
„Was soll das?“, beschwerte er sich, aber Patricks Kopf verschwand schon im Schacht.
„Ich hab dich gewarnt!“, rief Kai seinem Bruder hinterher und folgte ihm nach.
Patrick stand da, belämmert von der Art und Weise, wie er sich hatte übertölpeln lassen. Grad noch hatten die Brüder vor ihm gestanden, jetzt waren sie verschwunden, wie in Luft aufgelöst, und er stand weiterhin hier, allein auf der Bühne wie einer, der die mordsschwere Illusionistennummer Drei-Männer-verschwinden vor dem kritischen Einmannpublikum gründlich vermasselt hatte.
„Es wird Zeit“, gemahnte Ephraim und fügte hinzu: „Enttäusch mich nicht.“
„Werd ich nicht“, versprach Patrick und stieg in den Schacht. Er war noch nicht unten, als über ihm der Deckel zuschlug.
Auf dem Trittsteig angekommen, wollte ihm der Scheißhausgeruch den Magen umstülpen.
Du atmest es nur, versuchte er sich zu beruhigen, du isst es ja nicht. Und er dachte an Ephraims letzte Worte: Enttäusch mich nicht. Das hatte er ganz sicher nicht vor.
Zu seiner Linken hetzte Axel bereits die Biegung des Kanals lang, dicht dahinter Kai, der seinem Bruder eine Reihe sinnloser Befehle (Bleib steh’n, Alter! Heut lässt du mich mal, kapiert?) nachrief.
Patrick rannte los; unterm Laufen verfluchte er die Gummistiefel, die ihm das Spurtvermögen einer Schnecke verliehen. Als er die Mitte der Biegung erreichte – schweratmend, die Lunge voll Stuhlgangausdünstungen –, sah er, wie die Brüder kurz vorm Scheißeberg stehengeblieben waren. Sie hatten sich gegenseitig an den Kragen gepackt und schüttelten sich unter lautem Gezanke durch. Vor ihnen stand Ardak, breitbeinig, die Peitsche locker in der Rechten; die grunzende Ikone aller achtunggebietenden Aufsehergestalten dies- und jenseits der Welt.
Patrick beeilte sich, die Gruppe zu erreichen.
„Aufhör’n!“, schnarrte Ardak soeben. Die Streithähne dachten gar nicht daran. „Auseinander!“, befahl Ardak, den zerhackten Silben einen unmissverständlichen Beigeschmack gebend: Sonst prügel ich euch die Haut in Streifen.
Aber Axel und Kai waren, enthusiastisch aufeinander einschlagend und wie rasende Kängurus um sich tretend, so ineinander verschlungen, dass Worte allein ihr Gebalge nicht entwirren konnten.
Ardak ließ die Peitsche über ihren Köpfen knallen. Das endlich zeigte Wirkung.
„Wichser!“, zischte Kai, während er sich aus der brüderlichen Umschlingung löste.
„Du mich auch!“, konterte Axel, aus der wieder aufgeplatzten Lippenwunde blutend. „Pass bloß auf!“
„Vattern hätt’ dich damals kaputthau’n soll’n. Hast bloß Glück gehabt.“
„Halt die Fresse, ja? Halt einfach die blöde Fresse!“
Ardak hob erneut die Peitsche. Zeit für Patrick, die Situation zu seinen Gunsten auszunutzen.
„Ich bin heut an der Schaufel!“, rief er.
Ardak ließ die Peitsche sinken. „Gut“, schnarrte er. „Heute du.“
Die Brüder, angesichts dieser Überrumpelung einen kurzzeitigen Zweckfrieden schließend, warfen ihm giftige Blicke zu.
„Was is’ mit mir?“, keifte Kai. „Ich war auch noch nich’.“
„Dann wechselt euch ab“, gab Ardak zurück. „Fangt an.“
„Aber ...“, hob Axel an.
Ardak packte ihn und stieß ihn in die Kanalrinne hinab. „Fangt an, Saupack!“ Eine drohende Geste, und schon standen auch Patrick und Kai unten.
Patrick füllte die erste Schubkarre, und Kai schaukelte mit ihr davon. Axel wartete, bis sein Bruder hinter der Biegung verschwunden war.
„Du hast ‘ne Stunde, dann bin ich dran, klar?“, sagte er zu Patrick und tippte sich dabei mit dem Finger auf’s linke Handgelenk. „Und verarsch mich nicht, Kollege. Du ‘ne Stunde, ich ‘ne Stunde.“
„Und dein Bruder?“
„Hat Pech gehabt.“
Eine Stunde Zeit, sich zu beweisen. Patrick schaufelte sich die Seele aus dem Leib. Alsbald brannten ihm die Arme, die Augen tränten von den fauligen Gasen, stechende Schmerzen in seiner Brust nährten Todesängste (und den Neid auf Hajo), er hustete hin und wieder Blut, aber er kniete sich rein, bis zu den Oberschenkeln und mit einem Eifer, der, so seine Überlegung, auch Ardak nicht entgehen konnte: warum also nach einer Stunde wechseln? Eine Aufgabenrotation, die den Fortschritt der Unternehmung bloß hemmte, konnte weder in Ardaks noch in Ephraims Sinn sein.
Wie schnell eine Stunde doch verstreichen kann: Axel kehrte zurück, rammte die Schubkarre triumphierend in den stinkenden Berg, schob den linken Handschuh zur Seite und hielt Patrick das verschmierte Ziffernblatt vor’s Gesicht.
„Die Stunde ist ‘rum. Schüppe her.“
Patrick warf dem Aufseher einen Blick zu. Ardak stand da, unbeeindruckt von allem Fleiß der vergangenen sechzig Minuten, und grunzte bejahend zu Axels Verlangem.
Patrick wollte Einwände erheben, wollte seinen unstreitigen Leistungswillen und seinen tadellosen Einsatz hervorheben – Meister der Scheiße bin ich, Meister der Scheiße bleib ich –, als sich von hinten Schritte näherten.
„Was is’ hier los?“
Kai. Erbost bis zwischen die gefletschten Lippen.
„Nichts“, versuchte Patrick ein dümmliches Ausweichmanöver, das sich zum letzten Male im Kindergarten bewährt hatte. Kais Oberstübchen mochte karg ausgestattet sein, aber so dämlich war er dann auch wieder nicht.
„Ich bin an der Reihe!“, bellte er, die Situation mit einem einzigen Gedankengang erfassend.
„Axel macht weiter“, bestimmte Ardak.
„Alter, was soll das? Warum der denn schon wieder?“, protestierte Kai. Das Feuer in seinen Augen verhieß nichts Gutes für die kommenden Minuten. „Ich kann das mindestens so gut wie der!“
Und ich erst, dachte Patrick.
„Wie spät ist es?“, schnauzte Kai seinen Bruder an.
Axel tat, als hätte er nichts gehört. Aufreizend demonstrativ langte er nach der Schaufel, die Patrick in der Hand hielt.
„Hast du was an den Ohren? Wie spät’s ist, will ich wissen!
Axel grinste. „Viertel vor’m Dicken. Zieh Leine, ich bin dran.“
Ohne Warnung schlug Kai zu. Axels Lippe riss noch tiefer ein.
„Du Arschloch!“, brüllte Axel. Er versetzte seinem Bruder einen Tritt in den Magen. Kai stolperte zurück und fiel ächzend zu Boden, von wo er beobachten konnte, wie Axel an Patricks Schaufel zerrte, dieser sie aber ums Verrecken nicht loslassen wollte.
Mühsam rappelte er sich wieder auf die Beine. Man sah’s ihm an: er hatte eine Mordslaune.
„Jetzt reicht’s!“, schrie er, und mit einem einzigen Satz warf er sich gegen seinen Bruder. Die Wucht trieb sie beide voran, ein Stolpern noch, ein Geziehe und Gezerre, und dann verschwanden sie schreiend im Scheißeberg.
Kai kam wieder hoch, triefend vor Fäkalien, ein Mohrengesicht.
„Ich mach dich alle!“, brüllte er und riss Axels Kopf bis zu den Schultern wieder aus dem Kot hervor. Der prustete und schnappte nach Luft (irgendwo da unten war ihm ein aufgequollener Tampon in den Mundwinkel geraten; aber wie die Dinge lagen, war eine blutende Lippe nun wirklich nicht Axels drängendstes Problem), dann wurde er auch schon wieder mit aller brüderlichen Leidenschaft in die braune Masse zurückgedrückt.
„Warst immer der Liebling von allen!“, tobte Kai. „Jetz’ is’ genug!“ Und wie um sicherzugehen, dass sein Bruder es in seinem Scheißgrab auch ja mitbekam: „Jetz’ is’ Schluss! Jetz’ bin ich mal!“
Fünf Sekunden, sechs Sekunden ... Axels Hände griffen aus dem Fäkalienreich heraus, grabschten blindlings in die Luft, fanden in ihrer Panik keinen Halt. Seine Beine strampelten wild um sich, landeten schwere Treffer gegen Kais Schienbeine, aber der war so randvoll mit Testosteron, dass er’s gar nicht spürte; Mausgetrippel auf einer Elefantenhaut. Nach einer Weile ließ Kai mit einer Hand los, ballte sie zur Faust und – klatsch klatsch – schlug wild in die Masse hinein, gab seinem so erbärmlich dahinscheidenden Bruder den knöchelharten Rest.
Patrick stand untätig dabei. Zweierlei war ihm bewusst. Zunächst: er wohnte einem alttestamentarischen Schauspiel bei; wie sich hier Blut gegen Blut erhob, das übte eine ungeheure Faszination auf ihn aus, jenseits aller Moral und Ethik, die ihn zum Eingreifen hätte veranlassen können. Sodann: Willst du deine Feinde schwächen, so entzweie sie untereinander. Sollten die beiden Schwachköpfe sich immerhin gegenseitig meucheln, für Patrick konnte das nur von Vorteil sein.
Ardak stand auf seiner erhöhten Position auf dem Trittsteig, die Lippen vor den schadhaften Zähnen zurückgezogen, gebannt das Spektakel da drunten beobachtend. Er griff nicht ein, nahm den Verlust einer Arbeitskraft unter Gestarre und Gegrunze hin.
Ein letztes Mal strampelten Axels Beine aus, wirbelten schaumige Kotflocken auf, verloren sich dann in ersterbenden Spasmen, bis sie ganz in der Masse versanken.
Keuchend richtete Kai sich auf. „Jetzt bin ich dran.“ Sein Blick suchte Patrick. „Gib her das Ding!“
„Nein“, erwiderte Patrick. Er packte die Schaufel fester.
„Leg sofort die Schüppe hin!“
„Im Leben nicht.“ Und damit war es ihm ernst: notfalls hätte er Kai den Schädel damit eingeschlagen.
„Die Schaufel hin!“ Das kam nicht von Kai, das kam von Ardak. Fassunglos sah Patrick zu dem Vorarbeiter hoch.
„Was? Ich?“
Ardak wedelte mit den Riemen seiner Peitsche in Richtung Kai. „Gib sie ihm. Er soll von jetzt an graben.“
In Ardaks Stimme schwang so etwas wie Bewunderung für den Mörder mit. Offensichtlich hatte ihm die Tat mächtig imponiert.
Patrick warf die Schaufel auf den Boden. „Verreck doch dran“, zischte er Kai zu.
Er wollte die Schubkarre nehmen, aber Ardak hatte noch einen Auftrag für ihn: „Pack dir den Ausfall und bring ihn zum Schacht. Dann macht ihr weiter. Morgen abend muss das hier wieder laufen.“
Ich bring dich um, dachte Patrick. Euch beide bring ich um. Aber er fügte sich drein, tauchte Hände und Arme tief in den Kot, zog den Toten heraus und verfrachtete ihn in die Schubkarre.
Euch beide!, schwor er sich.
Dann brachte er Axel zum Schacht. Als sie später am Abend Feierabend machten, war die Leiche fort.

Von Abwechslung hatte der Küchenchef dieses Etablissements offenbar noch nichts gehört. Die Speisekarte des heutigen Abends entsprach der gestrigen bis in die allerletzte Fleischfaser. Patrick – erschöpft und nicht willens, eine brauchbare Feierabendkonversation zu führen – schob sich ein Brötchen nach dem anderen rein. Ebenso still hockte Kai auf seinem Stuhl; lustlos mahlten seine Kaumuskeln, manchmal zuckte es durch sein Gesicht wie der Anflug eines Grinsens, dann wieder kniff er die Augen zusammen und holte tief Luft – als kämpften in ihm zwei widerstreitende Gefühle um die Vorherrschaft.
Der Typ ist irre, konstatierte Patrick bei einem Schluck Bier. Bei dem steht keine Tasse mehr, wo sie hingehört.
Umso redseliger führte sich Hajo auf. Er hatte sie in der Baracke schon erwartet, und seitdem quatschte er in einer Tour.
„Die haben so Augen gemacht“, führte er gerade zum wiederholten Male aus. „Ich hab in diesen Spirometer geblasen, und was war? Alles absolut im grünen Bereich. Leck mich einer am Arsch, die Messwerte waren vielleicht gut, der Arzt meinte, ich soll mich beim Ironman melden.“ Hajo hob eine Flasche Bier an. „Hat der echt gesagt. ‘n Scherz, schon klar, aber ich mein: da is’ nix mehr. Staublunge, ha! Der Oberhammer waren die Röntgenbilder. Der Doc hat den Mund nicht mehr zugekriegt. ‚Is’ mir noch nich’ untergekommen, so was, das müsst’ glatt in die Zeitungen‘, hat der gesagt. Immer wieder.“ Hajo klopfte Patrick auf die Schulter. „Mensch, ich bin gesund!“
„Ja“, sagte Patrick, ohne ihn anzusehen. Nadelstiche in der Lunge, Hustenreiz; er jedenfalls war keineswegs gesundet.
„Gratuliere“, meldete sich Ephraim aus dem Hintergrund. Niemand hatte ihn hereinkommen hören.
Hajo sprang auf und schlawenzelte zu ihm hin.
„Danke“, brabbelte er, „danke, danke, danke!“ Er griff nach Ephraims Hand, aber der zog sie fort und streichelte ihm statt dessen kurz über den Kopf.
Patrick beobachtete die Szene über seine Brötchenhälfte hinweg. Der Neid suhlte sich in seinem Hirn, gleichauf mit der Verachtung für diesen unterwürfigen Speichellecker von Kumpel.
Das Herrchen und sein Köter.
„So war’s vereinbart“, sagte Herrchen. „Setz dich.“
Sofort trottete der Köter zurück zum Tisch.
Sitz!, dachte Patrick angewidert.
Hajo setzte sich. Unter seinem lächerlichen Haarkranz strahlte er übers ganze Schwabbelgesicht. Zum Speien war das.
„Warum ich komme“, fuhr Ephraim fort. Er zeigte auf Kai. „Das war heute eine außergewöhnliche Leistung. Kein Gerede: außergewöhnlich! Haben wir nicht oft.“
Kai sah Patrick träge an. Ein begriffsstutziger, abwesender Blick, der deutlich besagte: Was redet der? Wo bin ich überhaupt?
„Das Urverbrechen“, führte Ephraim weiter aus, und Patrick konnte sich nicht helfen: es klang nachgerade schwärmerisch. „Dafür soll dir angemessener Lohn zuteil werden.“
„Was denn für’n Lohn?“
Am liebsten hätte Patrick ihn gepackt und gehörig durchgeschüttelt: Was soll er schon meinen ... Alter? Du hast heut’ eigenhändig deinen Bruder abserviert. Schon vergessen?
Ephraim lächelte sein Patentlächeln. „Ich spreche von Beförderung. Einen wie dich können wir anderweitig gebrauchen. Komm mit.“
Kai ließ das Brötchen auf den Teller sinken und stand langsam auf. Sah so aus, als könnte er den Beförderungsgedanken an keine funktionsfähige Synapse andocken. Sah so aus, als sträubte sich etwas in ihm gegen das ‚anderweitig gebrauchen‘. Sah verdammt noch mal so aus, als stünde ihm jetzt grad das Pipi in den Augen.
„Wisch das fort!“, bedeutete Ephraim ihm zornig.
Befehl und Gehorsam. Auf dieser Ebene funktionierte Kai weiterhin problemlos. Er wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und folgte Ephraim zur Tür.
„Und was ist mit mir?“, rief Patrick. „Wann werde ich befördert?“
Ephraim wandte sich noch einmal um. „Zeig mir, dass du es verdienst.“ Dann fiel die Tür zu.
„Verdienst!“, schnauzte Patrick in sein Brötchen. „Was denn noch alles?“
„Du musst dich reinknien“, mischte Hajo sich ein. „Ich mein: so richtig. Guck mich an. Guck Kai an. Du musst einfach nur ...“
Patrick pfefferte das Brötchen auf den Teller. „Komm, Hajo, ja? Ich kann dein Geschwätz nicht mehr hören. Du hast gut reden. Bei mir ...“ – Patrick klopfte sich gegen die Brust – „... tut’s immer noch weh.“
„Du hast doch gehört, was Ephraim gesagt hat.“
Oh, dieser Klugscheißer. Dieser selbstgefällige, hinterfotzige Klugscheißer.
„Bin ja nicht taub. Morgen werd ich Gas geben. So richtig. Morgen bring ich die ganze beschissene Kacke da unten in Wallung. Und das sag ich dir: morgen abend läuft die Kläranlage wieder.“
„Wir.“
„Was?“
Wir bringen die Anlage wieder zum Laufen.“
„Meint’ ich ja. Wir.“
Dieser bekackte Klugscheißer!

Am nächsten Morgen zeigte sich Hajo in Spendierlaune. Er überließ Patrick den Vortritt am Kanaldeckel, er erhob keinen Einwand, als Patrick die Schaufel nahm, nicht einmal seine klugen Ratschläge, wie man die Schaufel möglichst gelenkschonend zu halten hatte, konnte er sich verkneifen. Alles ganz nach Patricks Wünschen also. Aber dieses Lied! Bei allem, was Hajo an diesem Morgen tat (er war schon mit der Melodie auf den Lippen aus dem Bett gekrochen), pfiff er Glück auf, der Steiger kommt mit einer Inbrunst, als wollte er allen zu verstehen geben: hört ihr, wie wunderbar meine Lunge wieder arbeitet? Wie ich dieses Lied pfeifen kann, ohne Rasseln, Schnorcheln, Husten?
Für Patrick war es bald kaum auszuhalten.
„Hajo!“
„Ja?“
„Tu mir den Gefallen und lass das Geflöte, okay? Das geht mir mächtig auf die Nüsse.“
„Mimose.“ Aber Hajo meinte es nicht böse. Er lachte dabei. Er war so vergnügt, wie ein dem Leben Wiedergegebener nur sein konnte.
Der Scheißeberg schrumpfte zusehends. Ardak stand unterdessen oben auf dem Trittsteig und tat seine Anwesenheit nur durch ein gelegentliches Grunzen kund.
Zur Mittagszeit waren sie dem Gitter des Grobrechens so nahe gekommen, dass ein Davonkarren des Unrats nicht mehr sinnvoll war.
„Ich pack mit an“, sagte Hajo und nahm sich eine Schaufel.
Patrick biss sich auf die Unterlippe und stach sein Schaufelblatt tief in die Masse hinein.
„Warum? Was ist mit der Schubkarre?“
„Brauchen wir nich’ mehr“, erklärte Hajo. „Schau, sind nur noch ‘n paar Meter bis zum Gitter. Wir schüppens einfach hinter uns, dann sind wir ruckzuck dran.“
Jetzt also, da es dem Ende der Arbeit zuging, mischte er wieder an der Front mit. Patrick bezweifelte, dass das Zufall war. Dieses janusgesichtige Schlitzohr wusste genau, wann es sich ins Rampenlicht zu drängen hatte. Lass die Dummen ruhig die Arbeit machen, aber im entscheidenden Augenblick, da muss deine Visage mit aufs Foto. Ganz vorne, erste Reihe Mitte. Das ist es, was am Ende zählt.
Sie schaufelten weiter, Fäkalienklumpen flogen hoch über ihre Schultern zurück, bis der verbliebene Haufen plötzlich an Stabilität verlor – er sackte nach innen weg, als hätten sie einen Hohlraum darin beschädigt. Die restliche Masse schwappte ihnen in einem cremigen Schwall um die Knöchel.
„Eieiei“, lachte Hajo und wedelte sich theatralisch mit der Hand vor der Nase. „Haste Raumspray dabei?“
Patrick hörte die Worte kaum. Das Gitter vor ihnen war nun vollends sichtbar. Dort lagen die Hindernisse, die den Grobrechen verstopft hatten.
Jetzt sah es auch Hajo. „Leck mich einer am ...“
An welch exponierter Stelle die Welt ihn in solchen Fällen beglücken sollte, war Patrick sattsam bekannt. Aber von diesem hygienischen Dienst konnte angesichts der Aufbahrungen vor ihnen nicht die Rede sein.
Es waren Tote, die sich vor dem Gitter in wilder Lage stapelten und sich zwischen den Stäben verfangen hatten. Gliedmaßen waren umeinander gewunden wie haltlose Knoten, Hände ruhten auf Leibern, Füße auf Rücken und Hälsen, Gesichter schmiegten sich aneinander, als wollten sie sich einen allerletzten kollektiven Trost in dieser stinkenden Nekropole spenden; vereint im Tode zum letzten Geleit.
Patrick schätzte die Zahl der Leichen auf mindestens zwanzig. Die Harke des Grobrechens hatte diesen Ansturm nicht mehr bewältigen können, gleichwohl hatten die Stahlzinken offenkundig noch ein Weilchen ihr Bestes versucht – je näher die Leiber am Gitter lagen, desto umfassender das Ausmaß der Verstümmelungen, nur teilweise verdeckt durch die davor liegenden Körper. Patrick studierte den Totenhaufen sorgfältig und kam zu dem Schluss, dass es sich überwiegend um Frauen handelte. Eine hatten die Zinken anscheinend seitlich in der Hüfte aufgespießt und angehoben, bis sich die Haut unter dem Gewicht des wieder hinabstrebenden Körpers in einem breiten Streifen einmal um die Längsachse abgelöst hatte, so wie man von einer Kohlroulade den Kohl abzieht. Geblieben war ein Gürtel aus Eingeweideschlingen, die sich ununterscheidbar mit den Fäkalien vermischt hatten. Jener dort hatten die Zinken das halbe Gesicht fortgerissen. Ein Fuß, mit roher Kraft knapp über dem Knöchel vom Schenkel gerissen, klemmte bis zum Spann in der Achsel einer weiteren Toten. Hier fehlten Zähne, dort Zehen; hier klafften zahnlose Münder in Bäuchen und Brüsten, dort stach zwischen den gespreizten Beinen eines Opfers ein bis auf die Knochen blankes Fragment einer Wirbelsäule wie ein obszöner Dorn hervor.
„Hervorragend!“
Die Stimme kam oben vom Trittsteig. Klar und verständlich.
Patrick und Hajo drehten sich um. Neben Ardak stand Ephraim und applaudierte lässig.
„Ich würd meinen: ein, zwei Stunden“, sagte er. „Dann nehmen wir die Anlage wieder in Betrieb.“
Patrick spürte die Totenblicke anklagend auf seinem Rücken lasten.
„Was sind das für welche?“, wollte er wissen.
Ephraim lächelte breit. „Der Herr hat sich mit ihnen vergnügt.“
„Die Armen“, seufzte Hajo.
Ephraim warf ihm einen strengen Blick zu. „Spar dir dein albernes Mitgefühl. Der Herr hat ihnen viel geboten. Sie haben es mit Freuden genommen. Aber alles hat seinen Preis.“
„Deshalb also die Kläranlage“, warf Patrick ein. „Damit keiner drauf kommt, stimmt’s?.“
„Wir halten die wichtigen Positionen“, erklärte Ephraim. „Wir können es uns nicht leisten, entdeckt zu werden.“ Er ging in die Knie und winkte Patrick zu sich. „Der Herr ist unersättlich“, flüsterte Ephraim mit rauher Stimme. „Manchmal verschlingt er sie. Manchmal nimmt er sie zu sich. Und manchmal, da wirft er sie fort. Unsere Aufgabe ist es, sie zu beseitigen; in aller Stille.“
Ephraim richtete sich wieder auf, und mit seiner gewohnt sanften, aber unwiderstehlichen Stimme sagte er: „Bringt die Toten zum Ausstieg. Wir haben schon genug Zeit verloren.“
Die Hauptschwierigkeit bestand darin, die Toten voneinander zu trennen. Patrick ekelte sich vor dem Kontakt mit den Zerschundenen, aber ein ums andere Mal musste er einen Körper packen und anheben, damit Hajo einen anderen aus dem Knäuel herauslösen konnte. Sie warfen die ersten beiden Leiber in eine Schubkarre. Patrick zog mit ihnen los.
„Binde sie an die Schnur an“, gab Ephraim ihm mit auf den Weg.
Tatsächlich, am Ausstieg angekommen, hing ein Seil herab. Patrick knotete den Riemen unter den fäulnisdurchweichten Achseln der ersten Toten zusammen. Zweifellos war sie früher einmal attraktiv gewesen, ihren Proportionen nach zu urteilen, die alles Geschlitze nicht hatte zerstören können; Schneidezähne und linken Nasenflügel wieder hinzugedacht.
„Auf“, rief er der offenen Luke zu, neugierig, wer sich dort oben befand. Viel bekam er nicht zu sehen; eine knotige, sackbraune Klaue griff nach dem Seil und zog die Tote nach oben.
Nach einer knappen Stunde luden sie die letzten beiden Leichen in die Schubkarre.
„Bravo!“, klatschte Ephraim Beifall.
Patrick wollte die Schubkarre anheben, als eine Schmerzlanze durch seine Lunge stach. Ächzend beugte er sich vor, die Hände auf die Brust gepresst.
„Jetzt nicht auf den letzten Metern schlappmachen“, feuerte Ephraim ihn an.
Patrick hob den Kopf. Lichtblitze tanzten einen Reigen auf seiner Netzhaut. Er röchelte. Hustete. Die Papillen seiner Zunge vermeldeten ein ernsthaftes Problem: den Kupfergeschmack von Blut.
Eine Hand tatschte ihm auf die Schulter. Hajo. „Konzentrier dich auf den Schmerz, Junge. Dann wird’s besser geh’n.“
„Verpiss dich“, wollte Patrick antworten, brachte aber nur ein Stöhnen über die Lippen.
„Ihr sollt hier keine Maulaffen feilhalten“, intervenierte Ephraim. „Schafft endlich die Ladung weg.“
„‘s geht Patrick nicht gut“, wandte Hajo ein.
Nicht gut? Bloß nicht gut? Musste dieser verdammte Pharisäer jetzt auch noch das Wort für ihn ergreifen?
Dutzende Gedanken gingen Patrick durch den Kopf. Da war zuallererst Ephraims Versprechen. Gesundheit. Was war’s damit? Warum Hajo und Kai? Was war mit ihm?
Er nahm all seine Kräfte zusammen. „Hilf mir“, krächzte er hinauf.
„Arbeite“, entgegnete Ephraim.
„Hilf mir doch“, brachte Patrick nochmals hervor. Diese Schmerzen, bloß vom Sprechen! Jede Silbe ein Feuerstoß, jedes Wort ein Weltenbrand. Sah so das Ende aus? „Bitte ...“
Ungerührt sagte Ephraim: „Zeig mir, dass du es verdienst.“
„Wie ... denn noch?“
„Zeig es mir.“
„Ja, zeig es ihm“, mischte sich Hajo ein, ganz nervös vor Besorgnis.
Patrick sah Hajo an. Dann Ephraim. Wieder Hajo. Dann wieder zurück zu Ephraim.
Und er verstand.
Mit einem Ruck richtete er sich auf. Seine Lunge schien es mitten entzweizureißen. Ein Schrei, der blutigen Speichel verspritzte.
„Nicht doch“, mahnte Hajo, „das wird dich umbringen.“
Patrick nahm eine Schaufel und schlug ihm das Schaufelblatt ins Gesicht.
Hajo taumelte bis ans Gitter zurück.
„Chpinncht du?“, brüllte er, die Lippen zu einem triefenden Erdbeermund zerschlagen.
Mitleidlos holte Patrick erneut aus. In dem Fäkalienschmier auf dem Schaufelblatt steckten noch Hajos Schneidezähne, sauber aus den Kiefertaschen herausgebrochen.
Der nächste Schlag, diesmal mit der scharfen Kante voran, kam von oben; mühelos trennte er Hajos rechtes Ohr ab und fuhr ihm durchs Schlüsselbein hindurch in die Schulter. Hajos Gekreisch verlor alles Menschliche; er heulte wie ein waidwundes Tier, während er vom Gitter zu fliehen suchte, aber Patrick zerrte die Schaufel wieder aus dem Schulterfleisch und warf sich auf ihn.
„Ich werd’s ihm zeigen!“, schrie er. „Ich werd’s dir zeigen!“
Mit der einen Hand packte er Hajo am speckigen Hals, mit der anderen drückte er dessen rechten Arm gegen das Rechengitter.
Das löste Begeisterung auf den Rängen aus.
„Tu es!“, johlte Ephraim und klatschte und klatschte und klatsche.
Ardak neben ihm grunzte und wippte auf seinem gesunden Bein auf und ab.
Auf der anderen Seite des Gitters lief knarzend eine Mechanik an. An Hajos purpurfarben angelaufenem Gesicht vorbei sah Patrick ein riesiges, mit gut zwei Dutzend Stahlzähnen bewehrtes Maul, das sich aus dem Dunkel herabsenkte und dem Gitter näherte.
Die Harke.
Kaum eine Sekunde lang grübelte er darüber nach, wer diesen Mechanismus wohl in Gang gesetzt haben mochte, aber dieser Moment der Unaufmerksamkeit genügte Hajo. Er schlug den Kopf nach vorn, gurgelnd vor Blut und Schmerz und Nah-am-Ersticken-sein, und traf Patricks Stirn. Überrascht lockerte dieser seinen Griff. Augenblicklich wand sich Hajo frei und prügelte ihm die Faust in den Magen – mit einem hohlen Pfeifen entwich alle Luft aus Patricks ohnehin malträtierten Lungenflügeln; er plumpste zu Boden.
Augenblicklich bewaffnete sich Hajo seinerseits mit einer Schaufel und schlug zu. Der wohlbemessene Hieb halbierte Patricks linke Hand: vom Handballen bis schräg rüber zum zweiten Zeigefingerglied.
Patrick sprang auf, das Blut aus seiner Wunde taufte Hajo in wilden Stößen. Der ließ die Schaufel fallen, langte nach Patricks Gesicht, verfing sich mit den Fingern in dessem linken Auge, und schon löste er sich mit einem gallertartigen Schmatzen heraus und fiel hinab, Patricks schöner, guter Augapfel; grün-blau stand noch in seinem Ausweis; er würde das ändern lassen müssen in scheiße-braun.
Wankend standen sich die beiden Kanalgladiatoren gegenüber; schwere Wunden hatten sie davongetragen, aber noch hielten sie aus in der Arena, bereit, sich bis auf’s Allerletzte zu bekämpfen.
Die Stahlzinken der Harke hatten sich unterdessen zwischen den Gitterstäben hervorgeschoben; unterarmlange Reißer, die sich langsam aufwärts bewegten, jetzt schon auf Hüfthöhe.
„Tu es!“, rief Ephraim zum ungezählten Male.
Patrick tat es. Ein Sprung, ein Zusammenprall, dann krachte er mit Hajo zurück ans Gitter. Hajo riss den Mund auf. Säuerlicher Atem blies über Patricks Gesicht, kühlte für einen Moment den heißen Strom, der aus seiner leeren Augenhöhle rann. Hajo schien sich noch einmal aufbäumen zu wollen; aber es lag nicht mehr in seinem Willen, sich gegen die Niederlage zu erheben. Es waren die Stahlzinken, tief in seinen massigen Leib gebohrt, die ihn Richtung Decke bugsierten, bis seine Fußspitzen den Halt auf dem Boden verloren. Kreischend stoppte der Mechanismus.
Hajos Kopf fiel schlaff auf sein dreilagiges Kinn herab; er war hin.
„Fantastisch!“, jubelte Ephraim.
Die Stimme war nah, direkt hinter Patricks Schulter. Ein Hauch von Pfefferminz lag in der Luft.
Gib nicht auf, dachte Patrick verzweifelt. Er spürte, wie das Leben aus ihm herausfloss. Halt durch! Du bist nicht hierhergekommen, um dem Schnitter in die Arme zu fallen.
Denn unter der schäumenden Oberfläche seiner Qualen tauchte vage die Hoffnung, dass das alles nicht umsonst gewesen war. Dass seine Verstümmelungen einen Sinn ergaben. Ergeben mussten. So war die Abmachung gewesen.
„Dreh dich um.“
Mühsam folgte Patrick dem Befehl. Ephraim stand vor ihm und nickte beifällig.
„Hast du Schmerzen?“
Ich brenne vor Schmerzen, dachte Patrick.
„Ja“, keuchte er. Matt hob er den linken Arm. „Meine Hand ... mein ... mein Auge ...“
Ephraim winkte ungehalten ab. „Davon rede ich nicht. Hast du Schmerzen in der Brust?“
Wie sollte er das bestimmen, wo doch die Schmerzen überall waren? Er war eine einzige Wunde.
„Ich weiß nicht. Ich spüre ...“
„Nichts mehr in deiner Brust. Darauf mein Wort.“
Patricks verbliebenes Auge füllte sich mit Tränen.
„Du wirst eine neue Aufgabe übernehmen“, sagte Ephraim. Er trat einen Schritt näher und umfasste die traurigen Reste von Patricks linker Hand. Fest drückte er zu, während er weitersprach. „Ardak war uns lange treu ergeben. Er wird an einem anderen Ort weiterwirken. Du aber wirst an seine Stelle treten.“ Ephraim beugte sich vor, presste seine Lippen auf Patricks Augenhöhle und saugte allen Wundfluss heraus.
Patricks Schmerzen ließen nach, verebbten schließlich ganz. Ephraim drehte sich um.
„Ardak, komm her.“
Der Vorarbeiter humpelte in die Kanalwanne herunter. Ephraim zeigte auf Patrick.
„Dieser hier wird dein Nachfolger sein. Gib ihm die Peitsche.“
Grunzend hielt Ardak das Verlangte hin. Patrick griff mit beiden Händen danach. Seine Linke war nur mehr ein formloser Klumpen – Haut, Muskelfleisch und Knochen waren untrennbar ineinander vermengt. Kein ästhetischer Genuss, aber schmerzfrei.
„Lasst uns die Reste hier nach oben bringen“, fuhr Ephraim fort. „Dann öffnen wir den Kanal wieder.“ Und an Patrick gewandt: „Schätze, in zwei, drei Monaten wirst du die Neuen begrüßen. Wenn’s der Herr nicht übertreibt.“
Ardak pflückte Hajo von den Zinken herunter und warf sich den Leichnam über die Schulter. Patrick nahm die Schubkarre mit den verbliebenen Toten. Am Schacht angekommen, sah er Ephraim noch einmal neugierig von der Seite an.
„Was geschieht jetzt mit ihnen?“, wollte er wissen.
„Sie kommen ins Kühlhaus.“
„Ins Kühlhaus?“
„Wohin sonst? Du hast keinen Schimmer, was?“
„Weiß nicht.“ Aber Patrick wusste es.
„Wie ich schon sagte“, erklärte Ephraim, „in zwei, drei Monaten kommen die Neuen. Das hier ist ein harter Job. Und rohes Fleisch gibt Kraft.“
Patrick blickte ihm nach, wie er den Schacht hinaufstieg. Probeweise schwang er die Peitsche. Sie lag gut in der Hand. Mit ein wenig Übung würde er sie mit der gleichen Grandezza beherrschen, wie Ardak es getan hatte.
Für die Neuen.
In zwei oder drei Monaten.
Ganz, wie es dem Herrn gefiel.

 

Hi Somebody

zu den Logikfehlern fällt mir nur noch ein, daß ich mich fragte, weshalb der Meister die Frauen in einer Kloake entsorgen läßt, nur damit sie später von ein paar armen Schweinen ausgegraben und von wiederum anderen zu Hackfleisch verarbeitet werden, um schließlich von ersteren gegessen zu werden Kraft für diese Arbeit zu haben (usw.^^) ist ja ein Teufelskreis^^
Am Schluß wird angedeutet, daß es bald wieder soweit sein würde (mit der Verstopfung), wieso warten sie so lange ab, statt die Opfer früher zu entsorgen, bevor der Kanal voll ist?
Und zu dem Mett: Für mich als Nicht-Rheinländer ist das immernoch befremdlich, wenn sich alle auf so einen Berg rohes Fleisch freuen, aber das von den Frauen muß doch schon bestialisch gestunken haben?

Aber wie gesagt, das fällt nicht ins Gewicht, weil man unterstellen kann, daß das alles so vom Teufel und seinen Helfern beabsichtigt ist.

 

Aber wie gesagt, das fällt nicht ins Gewicht, weil man unterstellen kann, daß das alles so vom Teufel und seinen Helfern beabsichtigt ist.
Vom Teufel beabsichtigt? Das bezweifle ich sehr, denn mich, einen ehemaligen Katholiken, hat man gelehrt, dass alles auf dieser Erde dem Gottesplan unterliege, nichts gegen seinen Willen geschehe, etc. Deswegen heißt ja im Vaterunser ja konsequenterweise: „… und führe uns nicht in Versuchung …“, d.h. nicht der Teufel ist der Verführer, sondern der Gottvater. Doch dies nur am Rande.

Tja, was soll ich sagen, Somebody? Eine hervorragende Story, sehr gut geschrieben, mit dem Plot entsprechenden und plastisch gezeichneten Charakteren, die ihnen angemessene Sprache sprechen. Du führst uns zuerst in die bigotte Welt der Gläubigen, die sich an Überkommenem bis zuletzt klammern, lediglich der sehr gut beschriebene Selbstmord passt nicht ganz in diese Welt, aber wer weiß, vielleicht dachte Onkel Bernd, dass das neuerdings nicht mehr so schlimm gehandhabt wird im Himmel, werden die Selbstmörder nun auch in geweihter Erde begraben und ggf. sogar vom Erzbischof dahin begleitet, dies natürlich nur, wenn derjenige genug an die Kirche gespendet hat.

Wenn es ein Manko gibt, dann ist das die lockere bis humorvolle Sprache des Erzählers, die einen echten Horror nicht aufkommen lässt. Eher schmunzelt man, als dass man die Nase rumpft – trotz oder gerade wegen der brillanten Beschreibung der Kloaken. Die ganzen Ungeheuerlichkeiten kommen so beschwingt und lustig daher, dass man dabei leicht vergisst, was da passiert. Natürlich, die leicht debilen Teilnehmer der Party machen es dir leicht, sie in genau die Ecke zu führen, wo du sie haben willst – insofern ist das Ende tatsächlich eine logische Konsequenz.

Vielleicht wäre diese Geschichte in der Satirerubrik besser aufgehoben.

Sirius

 

Tach,

@ Felix
Danke für deine nochmalige Rückmeldung.

weil man unterstellen kann, daß das alles so vom Teufel und seinen Helfern beabsichtigt ist.
Das wäre natürlich das Totschlagargument schlechthin (so isser halt, der Teufel, basta!). Aber damit möchte ich die zweifellos vorhandene logische Delle nicht erklären. Wie schon oben erwähnt, hatte ich beim Schreiben das Bild der realen Arbeitswelt vor Augen, und das war auch die Motivation, warum die Geschehnisse diesen Verlauf nahmen.

Der Buddeltrupp steht für die Mitarbeiter eines Consulting-Unternehmens.
Die Opfer in der Kloake sind Angestellte, die von den Herrn Consultern aus dem Unternehmen des Auftraggebers („Teufel“) herausberaten, mithin entsorgt werden.
Die Hackfleischsache symbolisiert (sie soll es zumindest) den Umstand, dass die Neuen von der Arbeit ihrer Vorgänger zehren, bis sie selbst in diesen Kreislauf geraten.

In meiner Zeit als WMA an der Uni kam die „New Economy“ gerade so richtig in Fahrt. Ich habe miterlebt, wie ein sehr bekanntes Wirtschaftsprüfungsunternehmen Scharen von Studenten einen Arbeitsvertrag in die Hand drückte; damals wurde praktisch jeder, der Soll von Haben unterscheiden konnte und schon mal etwas von Differentialrechnung gehört hatte, als „High Potential“ zu Traumgehältern eingestellt. Der Witz an der Sache: die haben den heißumkämpften Bewerbermarkt zunächst „leergekauft“, um dann während der sechsmonatigen Probezeit in aller Ruhe aussieben zu können, was sie denn auch reichlich getan haben. Der Masseneinstellung folgte wenig später eine Massenentlassung. Daran unter anderem habe ich beim Schreiben dieser Geschichte gedacht.

Gut, mehr möchte ich gar nicht erklären. Eigene Geschichten zu erklären ist doof.

Und zu dem Mett: Für mich als Nicht-Rheinländer ist das immernoch befremdlich, wenn sich alle auf so einen Berg rohes Fleisch freuen,
Hier nennt man das Esskultur :D


@ Sirius

Tja, was soll ich sagen, Somebody? Eine hervorragende Story, sehr gut geschrieben, mit dem Plot entsprechenden und plastisch gezeichneten Charakteren, die ihnen angemessene Sprache sprechen.
Danke!

Du führst uns zuerst in die bigotte Welt der Gläubigen, die sich an Überkommenem bis zuletzt klammern, lediglich der sehr gut beschriebene Selbstmord passt nicht ganz in diese Welt, aber wer weiß, vielleicht dachte Onkel Bernd, dass das neuerdings nicht mehr so schlimm gehandhabt wird im Himmel, werden die Selbstmörder nun auch in geweihter Erde begraben und ggf. sogar vom Erzbischof dahin begleitet, dies natürlich nur, wenn derjenige genug an die Kirche gespendet hat.
Ich weiß selbst nicht, was Onkel Bernd sich dabei gedacht hat. Als der weichgezeichnete Schleier des Glaubens sich vor der leprösen Fratze der Realität hob, hat er vermutlich überhaupt nicht mehr an Gottes Ge- und Verbote gedacht. Er fühlte sich wohl schlichtweg von ihm verarscht. Oder er hat da was mit den Jungfrauen durcheinander gebracht.

Wenn es ein Manko gibt, dann ist das die lockere bis humorvolle Sprache des Erzählers, die einen echten Horror nicht aufkommen lässt. Eher schmunzelt man, als dass man die Nase rumpft – trotz oder gerade wegen der brillanten Beschreibung der Kloaken. Die ganzen Ungeheuerlichkeiten kommen so beschwingt und lustig daher, dass man dabei leicht vergisst, was da passiert.
In diesem Falle nehme ich das Manko gern in Kauf. Ich kann es gar nicht anders sagen: ich hatte einfach Bock auf die Story.

Vielleicht wäre diese Geschichte in der Satirerubrik besser aufgehoben.
Schon möglich, aber in Horror fühle ich mich wohler.

Auch dir ein großes Danke für deinen Kommentar!

Some

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Somebody,

eine wirklich gut (!) geschriebene Geschichte.
Jedes Wort sitzt, as wäre es eigens für diesen Text hervorgebracht worden. Ein erstunlich perfektes Gleichgewicht in der Sprache. Ganz großes Kompliment. Ein Leseschmaus, der an keiner Stelle langwelig wurde.
Besonders hervorheben möchte ich aber die Einleitung. Das ist einfach mal ganz große Kunst. Du baust eine Atmosphäre auf, die jede Realität außerhalb der Geschichte auflöst, präsentierst deinen Protaginisten zum Greifen nah. Es schien mir trotz aller Abstrusitäten so, als würde ich Patrick persönlich kennen.
Möglicherweise hat zur guten Wirkung deiner kg beigetragen, das ich sie mir ausgedruckt und in einer gänzlich unberührten Minute vorgenommen habe. Am Bildschirm ist das dann doch leider oft etwas anderes.
Gerne hätte ich noch mehr von dieser Vision gelesn, aber das Ende ist ein würdiges und vom Thema her wohl das einzig logische.
Insgesamt ja eigentlich en abgenutztes Thema, aber dir ist eine außerordentliche INterpretation des Pakt-mit-dem-Teufel-Sjuets gelungen.

Kurz habe ich überlegt, ob du zum Ende hin nicht noch einmal etwas von der Gottgläubigkeit des ersten Teils hättest aufgreifen können/ sollen. So erschien das Dogma, das Patrick in seinem bisherigen Leben ja bis aufs Klo verfolgt hat wie ausgelöscht. Wenigstens der Hauch eines Zweifels oder eben das Verlachen des selben hätte noch Erwähnung finden können. Irgendeine Anspielung, um den Kreis zu schließen.
Andersrum hat diese Version natürlich auch ihre Berechtigung - löscht der Pfad des Bösen eben alles andere aus, nichts kann neben ihm bestehen, gibt man erstmal seinen Verlockungen nach ...

Patrick rieb sich über die Augen. Durch die Prismen seiner Tränen sah er den Abgesandten der Hölle so, wie er hätte sein sollen: ein gänzlich hautloses Antlitz, wo sich nacktes Fleisch und blutige Muskelstränge wie kochend über den deformierten Knochen aufwarfen; drei Augenhöhlen, finster und tief wie Schächte zur Hölle
nicht ganz so schön. Minimalst, fällt aber bei dem sonstigen Glanz auf

Einmal sprichst du von Raumspray - das würde ich durch deo ersetzen, da es meiner Meinung nach eher in den einfachen Wortschatz Hajos passt.

grüßlichst
weltenläufer

 

somebody schrieb:
»langte nach Patricks Gesicht, verfing sich mit den Fingern in dessem linken Auge,«
– in dessen linkem Auge
Das verunsichert mich jetzt. Ich bin mir sicher, dass ich´s richtig geschrieben habe. Man schreibt ja auch nicht „in seinen linkem Auge“, sondern „in seinem linken Auge“. Oder wie, oder was? Steh ich da jetzt auf dem Schlauch?
»dessem« gibt es als Wort gar nicht. ;) Der Duden 9 (»Richtiges und gutes Deutsch«) sagt:
dessen: In einem Ausdruck wie der Mann, auf dessen Gesicht … ist dessen ein attributiver Genitiv und übt deshalb keinerlei Einfluss auf die Deklination nachfolgender Wörter aus. Ein nachfolgendes Adjektiv oder Partizip muss deshalb stark reflektiert werden: Der Mann, auf dessen erschöpftem (nicht: erschöpften) Gesicht der Schweiß glänzte, … Vor dem Denkmal und dessen breitem (nicht: breiten) Sockel … […]
Alle Klarheiten beseitigt? :D

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Tach zusammen

Jedes Wort sitzt, as wäre es eigens für diesen Text hervorgebracht worden. Ein erstunlich perfektes Gleichgewicht in der Sprache. Ganz großes Kompliment. Ein Leseschmaus, der an keiner Stelle langwelig wurde.
Bedankt! Das geht runter wie Öl. Und motiviert, all den garstigen Selbstzweifeln hin und wieder in den Arsch zu treten. Ich überarbeite meine Geschichten meist bis zum Erbrechen, und wenn´s dann so rüberkommt, freut´s mich natürlich ungemein.

Möglicherweise hat zur guten Wirkung deiner kg beigetragen, das ich sie mir ausgedruckt und in einer gänzlich unberührten Minute vorgenommen habe. Am Bildschirm ist das dann doch leider oft etwas anderes.
Da können wir uns die Hand reichen. Deswegen werde ich auch nie verstehen, was die Leute an eBooks so dufte finden.

Insgesamt ja eigentlich en abgenutztes Thema, aber dir ist eine außerordentliche INterpretation des Pakt-mit-dem-Teufel-Sjuets gelungen.
Na ja, es war halt ´ne Scheißidee :)


@ Morphin

Der ein oder andere Absatz mehr hätte meinen altersschwachen Augen gut getan.
In meiner nächsten Story werde ich weniger „filmisch“ schreiben. Dann werden die Szenen wieder dichter und der Absätze werden es mehr. Am Bildschirm sind es wirklich ziemlich langleserliche Textblöcke.

Ach ja, es heißt "Mischpoke", nicht Mischpoche.
Mann, ich beiß bald in die Auslegeware. Ich hätte schwören können, es schriebe sich ...

Weiter machen.
Na, und ob.


@ Are-Efen

Durch die Erläuterungen lässt sich die Geschichte besser bewältigen; ohne diese muss man sich sehr lange damit herumschlagen, zumal sich ja eben Lebensbedingungen dahinter verbergen, denen man unterworfen ist.
Dabei hasse ich es, Geschichten zu erläutern. Die Dinger sollten für sich stehen, ohne den Leser mit Justus, Bob und Peter ratlos zurückzulassen. Erklärt man wenig, ist es möglicherweise zu subtil. Erklärt man viel, schreit die Gemeinde: Holzhammer. Nicht einfach, das.


@ Häferl

»dessem« gibt es als Wort gar nicht. ;) Der Duden 9 (»Richtiges und gutes Deutsch«) sagt:
Ach, der Duden. Der doofe Duden. Hätt ich doch bloß gesagt, es wär´n Tippfehler gewesen. »Richtiges und gutes Deutsch«. Das sitzt! :D

Alle Klarheiten beseitigt?
Ja, im Wortsinne, wenn das so weitergeht. Mischpoke, der neunte Duden ... Demenz? Nie wieder „dessem“. Hand drauf. Und danke. :)


Euch allen ein Danke für´s Lesen, Kommentieren und Ausmerzen der Fehlerlein.

Some

 

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