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Der kranke Arzt
Wegen seinem Bluthochdruck musste Dr. Detwiler schon seit einiger Zeit Lisinopriltabletten nehmen, aber deswegen machte er sich keinen Kopf, er hatte alles unter Kontrolle, was das betraf. Außerdem nahm er Trimipraminneuraxpharmtabletten und Thrombozytenaggregationshemmer, da bei ihm vor kurzem festgestellt wurde, dass er Thrombose gefährdet sei. Aber etwas anderes bahnte sich an, etwas schlimmeres, das spürte er. Aber er konnte mit allem fertig werden, schließlich war er Arzt, sein eigener Arzt. Er hatte es im Urin, wie sein Vater sich ausgedrückt hätte. Dauernd hatte er Kopfweh und schluckte ein Glas Aspirin nach dem anderen, hin und wieder war ihm übel und er nahm andere Tabletten mit dem Wirkstoff Dimenhydrinat. Erst letztens hatte er eine Mandelentzündung und er musste diese Penicillinkapseln nehmen, die er sich selbst verschrieben hatte; selbst ein Arzt muss sich die Medikamente verschreiben.
Er wusste nicht, was für eine neue Krankheit sich in seinem Körper bildete, aber sie war nicht von schlechten Eltern, schließlich hatte er haufenweise Symptome.
Ronald Detwiler war ein gläubiger Kirchengänger, der betete, das Vater Unser sprach und das Glaubensbekenntnis auswendig konnte, allerdings las er nicht aus der Bibel und konnte auch keine Stellen daraus zitieren, aber er glaubte an Gott ... und an sein eigenes Können.
Keine weiteren Patienten; gut. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Halb fünf. Wenn er nun keine Termine mehr hatte, konnte er vielleicht etwas früher Schluss machen.
Er ging zu seiner Sekretärin und fragte nach.
„Nein, nichts mehr“, erklärte sie ihm und er war somit für den heutigen Tag entlassen.
Eine Woche später wurde alles viel schlimmer. Er konnte sich nicht aus dem Bett bewegen. Seine Beine und Arme schmerzten so sehr, dass es ihm sogar schwer fiel, neben das Bett nach dem Wasserglas zu greifen.
Jemand hatte unten an der Tür geklingelt. Wohl oder Übel musste er sich jetzt wohl erheben. Langsam schwang er seine Beine aus dem Bett und steckte die Füße in zwei flauschige, warme Pantoffeln. Er würde nicht zu einem anderen Arzt gehen, er war selbst einer, warum denn auch? Ich kann mir selbst helfen.
Glenn, seine Schwester meldete sich mal wieder. Vor zwei Tagen hatten sie miteinander telefoniert, was er sich dringend abgewöhnen sollte.
„Ich war in der Apotheke“, erzählte sie ihm, „und habe nachgefragt, ob sie etwas für dich hätten, man gab mir das hier.“ Sie hielt eine kleine Glasflasche hoch, die eine blaue Flüssigkeit enthielt. „Sie sagten, wenn du es drei Tage nimmst, wird es dir schlagartig wieder gut gehen. Vertrauen Sie mir, hat die Alte gesagt.“
„Schwachsinn“, gab Ronald mit schwacher Stimme zurück. „Was soll das sein? Du hast ja nicht einmal ein Rezept gebraucht.“
„Nein“, entgegnete Glenn, „aber ich habe ihr deine Beschwerden geschildert und sie hat mich angegrinst und mir das gegeben, zwanzig Mücken hat das Teil mich gekostet, was man nicht alles für seinen Bruder tut.“
Sie gab ihm das Fläschchen und er sah es sich etwas genauer an. So eine blaue Medizin hatte er noch nie gesehen und es befand sich kein Hinweisschildchen darauf, noch nicht einmal der Name der Arznei. „Was soll das sein?“
„Weiß ich nicht, aber sie hat mir versichert, dass es hilft.“
Die Geschwister unterhielten sich noch eine Dreiviertelstunde, dann machte Glenn sich wieder auf den Nachhauseweg.
Der Fernseher zeigte einen Talkshowmoderator, der mit seinen Gästen diskutierte, während Ronald im Bett lag und immer wieder einen Blick auf die blaue Flasche warf, die neben ihm auf dem Nachttisch stand.
Scheiß drauf, dachte er und erhob sich schweren Gemüts. Mitsamt der Flasche ging er in die Küche. Er leerte ihren Inhalt in den Abfluss. Wundermedizin, wenn ich nicht lache.
Am nächsten Tag, nachdem er die Tabletten genommen hatte, die seiner Meinung nach wirklich halfen, klingelte es wieder. Diesmal war es allerdings das Telefon.
„Ja?“, begrüßte Ronald die Person am anderen Ende der Leitung.
„Dr. Detwiler?“, fragte die freundliche Stimme seiner Sekretärin in der Praxis.
„Ja, am Apparat.“
„Dr. Felich lässt fragen, ob sie mal nach Ihnen sehen soll? Wie geht es Ihnen?“
„Sie braucht nicht kommen, sagen Sie ihr das. Mir geht es schon ein wenig besser.“
„Aber sie sagte, sie hätte eine Medizin für Sie.“
„Blau?“
„Ja-“
„Vergessen Sie’s, hab ich schon“, erklärte Ronald ihr. „Die hilft genauso wenig wie alles andere.“
„Okay, gute Besserung, Dr. Detwiler.“
„Danke, tschüss.“
Damit war das Gespräch beendet.
Ich bin Arzt! Pha, ich kann mir selbst helfen, wieso denn auch nicht? Studium und jahrelange Erfahrung, für nichts, oder wie? Ein Arzt braucht keinen Arzt! Schwachsinn, stimmt's Glenn?
Zwei Tage darauf.
Ron lag im Bett, der Fernseher war ausgeschaltet, in den Händen hielt er ein Buch, seine Brille lag auf seiner Nase und die Nachttischlampe war eingeschaltet. Er blätterte um.
Noch in dieser Nacht starb Ronald im Bett an der Überzahl der weißen Blutkörperchen und zuviel Wasser im Körper.