- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 14
Der Krieg fordert seine Opfer
Seit jeher war sie erfüllt von der Angst, dass es wieder passiert.
Frieda W. war nun achtundsiebzig Jahre alt, ihre gesamte Jugend ein einziger Albtraum, den sie zwar aus ihrem alltäglichen Leben verdrängen, doch noch nie wirklich hatte verarbeiten können. Schließlich kann man so etwas nicht einfach verarbeiten, also war sie nicht die Einzige, die sich nach über sechzig Jahren noch immer mit Fragen nach dem Warum quälte. Warum war das alles passiert und warum hatte ausgerechnet sie zu Kriegszeiten aufwachsen müssen? Viele ihrer Bekannten und Familienangehörige waren gefallen in diesem Krieg. Sie hatte Verwundete gesehen, Menschen, die Arme und Beine verloren und die toten ausgebluteten Körper, die überall auf den Straßen gelegen hatten. Die Regierung hatte über Rundfunk verkünden lassen, dass der Krieg seine Opfer fordere, das Durchhalten gefragt sei, wolle man den Sieg erringen. Sie hatte damals schon nicht begreifen können, wie es zu dem Krieg gekommen war, für was der Mensch überhaupt Krieg führen müsse. Warum können wir nicht alle einfach in Frieden leben?
Obwohl Frieda W. die vergangenen Monate immer häufiger unter Anfällen der alzheimerschen Krankheit zu leiden hatte, lebte sie noch immer alleine in ihrer Wohnung. Innenstadt, dritter Stock. Ihr Ehemann, der einzige Mensch mit dem sie je über all ihren Kummer, all ihre Ängste sprechen konnte, war vor sieben Jahren verstorben. Es war ein stürmischer Herbsttag gewesen, an dem sie ihn zu Grabe getragen hatten. Ihr Sohn hatte damals vorgeschlagen, sie solle in ein Pflegeheim zu ziehen, jemand müsse sich um sie kümmern und er habe leider nicht genügend Platz in dem kleinen Reihenhaus, welches er mit seiner Frau und den beiden Kindern bewohne, würde sie aber regelmäßig besuchen. Immer und immer wieder hatte Frieda W. seitdem betont, dass sie um keinen Preis ins Heim wolle, sie fühle sich fähig genug, ihr Leben alleine zu bewältigen, sie wolle niemandem unnötig zur Last fallen und ohnehin wolle sie nicht wie in einem Gefängnis hausen, sondern stattdessen tun und lassen, wonach ihr gerade sei.
Vorgestern hatte sie das entsetzliche Knallen wieder gehört, das sich durch ihre gesamte Jugend gezogen hatte. War es nur für einen kurzen Moment und, der Lautstärke nach, auch fern gewesen, hatte sie sich sofort an die vielen Stunden zurückerinnert gefühlt, die sie damals, gemeinsam mit der gesamten Familie, im Keller um ihr Leben gezittert hatte. Sie hatte an die Großmutter gedacht, die, gebrechlich wie sie war, ihr stets Mut und Kraft spendete, in dem sie ruhig und gelassen auf einem alten Schaukelstuhl in der Ecke gesessen und gestrickt hatte, als ginge sie das Geschehen, die Sirenen, die Explosionen da draußen nichts an. Auch Friedas sechzehntem Geburtstag hatten sie im Kellerversteck feiern (sofern man zu diesen Zeiten überhaupt von „feiern“ hatte sprechen können) müssen, während die Stadt einem der heftigsten Bombardements des gesamten Krieges ausgesetzt war. Der Boden um sie herum hatte gezittert, Sirenen gejault und es aus allen Richtungen geknallt. Die Großmutter hatte ihr ein Paar Wollsocken geschenkt. Noch immer lag es in ihrem Kleiderschrank, besaß sie doch, so ausgewaschen und abgetragen es auch war, von wenigen Schwarzweißfotografien abgesehen, keine weiteren Erinnerungsstücke an ihre Großmutter.
Die grässlichen Bilder von damals vor Augen, das Herz pochend angesichts der erneuten Knallgeräusche, war sie zum Fernsehgerät gelaufen, um mit zittrigen Fingern dessen Anschalter zu betätigen. 'Sie müssen doch davon berichten. Dass ich es mir eingebildet habe, ist unmöglich. Das Knallen war da.' Beinahe verzweifelt hatte sie durch die verschiedenen Kanäle geschaltet, doch keine Nachrichtensendung gefunden, die sie in ihrer schrecklichen Ahnung bestätigt hätte.
Im weiteren Verlauf dieses vorgestrigen Tages hatte sie das Knallen noch zwei weitere Male wahrgenommen, am gestrigen gar sieben- oder achtmal. Es war ihr lauter und näher erschienen und sie wieder und wieder zum Fernsehgerät gerannt. Nichts. Keine Programmunterbrechnungen oder Sondernachrichtensendungen, nicht einmal auf den sensationslüsternsten Privatsendern war der Kriegsfall ausgerufen worden.
Auch die Tageszeitung, deren Abonnentin sie schon seit Jahrzehnten und die ihr, zumindest in solch elementaren Geschehnissen, stets seriös erschienen war, hatte, weder gestern noch vorgestern, von einem Krieg berichtet. Dennoch fühlte sie sich ob des Knallens draußen ängstlich und verunsichert, vielleicht sei der Krieg noch nicht im vollen Gange, stünde aber unmittelbar bevor und ward deshalb noch verschwiegen.
Frieda W. wünschte sich an jenem Tag nichts mehr, als mit wem über ihre Ängste sprechen zu können, doch die beiden Anlaufstellen, die einzigen, denen sie so etwas anvertraut hätte, waren verreist: Ihr Sohn war mit seiner Frau und den Kindern in den Skiurlaub gefahren und auch das junge Ehepaar aus dem zweiten Stock, welches öfters Einkäufe für sie erledigte und ihr ab und an Besuch leistete hatten sich eine Woche zuvor von ihr verabschiedet, sie würden ein paar Tage bei ihrer Familie verbringen wollen. Sie zögerte, ob sie sich an die Polizei oder eine sonstige Behörde wenden solle, doch diese hätten schon vor sechzig Jahren nicht auf Seite der Bevölkerung gestanden und ein Anruf bedeute Hochverrat, sodass sie ihren Gedanken schnell wieder verwarf.
Wieder hörte sie das Knallen, wieder war es lauter geworden und näher gekommen. Ängstlich hangelte sie sich zum Fenster und blickte hinaus. Es war Abend, der kleine Zeiger Frieda W.s Standuhr näherte sich der Sieben und die Dämmerung hatte sich schon über der Stadt niedergelassen.
Sie sah die jungen Männer, die unten im Licht der Laternen auf der Straße standen und Raketen zündeten, Granaten warfen oder Pistolen abfeuerten. Die Waffen waren auf den ersten Blick zwar moderner geworden, klangen aber noch genauso furchterregend wie in den Stunden, die sie mit ihrer Familie vor über sechzig Jahren im Keller ausgeharrt hatte. Die Männer unten auf der Straße trugen dicke, dunkelgraue oder schwarze Mäntel. Die Hoffnung, das alles nur Einbildung war, schwand in Frieda W., es sei unausweichlich, der Krieg und all das Leid, das dieser mit sich bringt, würden sie nun ein zweites Mal in ihrem Leben heimsuchen.
Am Rand der Bürgersteige lagen noch Reste des Schnees, der die letzten Wochen gefallen und von den Menschen auf die Seite geschoben worden war und jetzt in seinem zarten Weiß hinauf zu Frieda W.s Fenster schimmerte. (In Wahrheit war der Schnee lange nicht mehr zartweiß, der Automobilverkehr und dessen Abgase hatten ihn dunkel verfärbt, doch Frieda W. wünschte ihn sich weiß, denn weiß sei ein Symbol für den Frieden.)
Die folgenden Stunden bangte sie in ihrem Sessel vor dem Fernseher, doch waren dort nur tanzende und singende Menschen zu sehen, heile Welt. Die Stunden vergingen, das Knallen auf der Straße wurde zwar intensiver, doch nichts war mit dem vergleichbar, dass Frieda W. um Mitternacht erleben sollte. Der Lärm war ohrenbetäubend, Raketen jaulten auf, Granaten explodierten an jeder Ecke. Sie ging ans Fenster und traute ihren Augen nicht, als sie Kinder sah, die mit starren Augen gen Himmel blickten. Ein Junge schleuderte etwas, das wie eine Stange Dynamit auszusehen schien, mitten in die Menschenmenge. Krieg. Frieda W. zögerte nun keine Sekunde mehr, den gesamten Abend hatte sie bereits diesen Gedanken gefasst, alles in ihrem Kopf durchgespielt. Sie bewegte sich in Richtung des Fensters, öffnete es und kletterte behutsam auf den Sims. Dort blieb sie einige Sekunden wie angewurzelt stehen; Sekunden, in denen sie ihr vergangenes Leben, insbesondere die zerbombte Kindheit, noch einmal Revue passieren hat lassen. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen und sprang. Sie sei zu alt, um einen erneuten Krieg durchzustehen, sie könne es einfach kein weiteres Mal ertragen. Ihren letzten Gedanken richtete sie an ihren Sohn, sie hatte gehofft, ihm von ganzem Herzen gewünscht, dass er und seine Familie stärker seien, dass auch die Enkelkinder alles gut überstehen werden. Auf dem harten Asphalt prallte sie auf, beinahe vor den Füßen des Hausmeisters, dessen Frau, zwei Gläser Champagner in der Hand, gerade mit diesem anzustoßen gedachte. Sie war sofort tot. Die Raketen knallten weiter munter durch den Nachthimmel.
Der Hausmeister stürmte zu seiner Wohnung, suchte nach der Nummer, die Frieda W.s Sohn ihm vor einigen Wochen einmal für eventuelle Notfälle hinterlassen hatte, fand sie schließlich und wählte die Ziffern. Es tat sich nichts, das Telefonnetz war zusammengebrochen. Er versuchte es wieder und wieder, bis sich endlich eine Stimme meldete, die ziemlich angetrunken klang und ihm ein „Fröhliches neues Jahr“ entgegenlallte und noch bevor er auch nur einen einzigen Ton hätte sagen können, fortsetzte:
„Das Feuerwerk ist einfach gigantisch, man muss es einfach sehen. Einzig die Kleine hatte geweint, der ganze Lärm hat ihr wohl Angst bereitet. Meine Frau hat sie aber eben ins Bett gebracht und ihr gesagt, dass dieses Knallen doch etwas Wunderschönes sei. So ist es doch, nicht wahr?“
Derweil sammelte sich eine Gruppe von Menschen um den toten Körper der alten Dame. In den Taschen ihrer Weste fanden sie alte Schwarzweissfotos und ein paar Socken.