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Der Leichenwagen
Heute morgen stand ich verhältnismäßig früh auf, denn ich hatte einiges zu erledigen. Ich schwang mich also behände auf mein metallenes Ross und setzte mich in Bewegung.
Wohl gelaunt durch angenehme musikalische Untermalung spürte ich die Begrüßung des Windes, der mein Gesicht sanft streichelte. Die Sonne geleitete mich ebenfalls auf meinem Weg, nur selten verschwand sie unaufgefordert. So manch Motorisierter überholte mich lässig oder genervt, doch es kümmerte mich nicht.
Da wälzte sich ein tiefschwarzer Kombi an mir vorbei, dessen Auffälligkeit darin bestand, dass hinter seiner Heckscheibe ein Sonnenstrahlenähnlich geformter Vorhang aufgespannt war, der zu verkünden schien:” Auch du seiest hier herzlich willkommen!”. Zusätzlich prangte eine Aufschrift in breiten schwarzen Lettern auf der Scheibe. Des weiteren schien die Karosserie in die Länge gezogen und dadurch deformiert zu sein. Es bestand also kein Zweifel, dass es sich hier um eine Limousine der Toten, das letzte Geleit der Verblichenen, die Kutsche des Sensenmanns, um einen Leichenwagen handeln musste.
Dieser in der Tat nicht sonderlich bemerkenswerte Zufall erwies sich schnell als vergessen, auch wenn sich jenes Gefährt meiner Meinung nach bedrohlich nahe an mir vorbei geschoben hatte und sich mir die Frage einer gewissen Absichtlichkeit des Verhaltens vonseiten des Leichenchauffeurs wohl nicht völlig unbegründet stellte. Der makabere Gedanke, das Totengeschäft liefe momentan nicht allzu befriedigend und dem müsse daher etwas nachgeholfen werden, zauberte ein breites Grinsen in mein Gesicht. Doch ebenso wie der Leichenwagen entschwand auch mein schelmischer Gesichtsausdruck nach wenigen Augenblicken.
Die weitere Fahrt verlief ruhig und ereignislos. Ein altes Mütterchen versprach kurzweilige Ablenkung; zwei beidseitig getragene, voll gestopfte Tüten veranlassten sie zu einem skurrilen Balanceakt, der seine Formvollendung in einem beispielhaften Watschelgang fand. Für mich stellte diese kurze Episode einmal mehr den ungewollten und unterschwelligen Humor des Alltags dar.
Wenig später fuhr ich in einen Kreisverkehr ein. Ein kurzer Blick zur Linken, ein angedeuteter zur Rechten und schon befand ich mich im Strudel der allmächtigen StVO. Im selben Moment schob sich ein mir wohlbekanntes Gefährt in den Kreisverkehr und ich erhaschte einen Blick auf die blasse Gestalt am Lenkrad, die aber verschwommen und unwirklich erschien, wie gewisse im Fernsehen durch Mosaiktechnik verunkendlichte Körperteile des Menschen. Es wollte mir nicht gelingen, die mysteriöse Gestalt in meinem Hirn zu etwas bildlichem zu manifestieren.
Dieser Vorfall beunruhigte mich jetzt doch ein wenig. Doch als rational agierendes Wesen reagierte ich wie es jeder an meiner Stelle getan hätte: mit Verdrängung. Für gewöhnlich Allzweckmittel gegen aller Herren unerwünschter Empfindungen, sollte sie sich nach einem nervösen Blick über die Schulter als zwecklos erweisen.
Wenige Meter hinter mir sah ich mich zu meinem Schrecken vom selben schwarzen Ungetüm verfolgt, welches ich zuvor noch milde belächelt hatte. Mein Körper schüttete plötzlich zu viel Adrenalin für meinen Geschmack aus, Panik kam allmählich in mir auf. Ich begann, kräftiger in die Pedale zu treten, dabei aber den Anschein der Gelassenheit zu wahren, denn mein Kontrahent sollte nicht von meiner Furcht profitieren, ich wollte den Überraschungseffekt auf meiner Seite wissen.
Vollkommen außer Atem und cholerisch warf ich nun mit Blicken um mich, als könnte ich Blitze aus meinen Augen schleudern und damit meine Feinde vernichten. Und tatsächlich! Als ich um eine Ecke gebogen war, war keine Spur mehr von meinem Peiniger auszumachen. Ich hatte mich mit bloßer Muskelkraft als der Überlegenere erwiesen, der Mensch obsiegte über die Maschine. Welch epochaler Triumph! Nun würde ich mich wieder auf die Erledingungen des Tages konzentrieren und mich Belangloserem als nacktem Selbsterhaltungstrieb widmen können.
Für eine undefinierbare Zeitspanne umhüllte mich tiefes, unendliches Schwarz, und eine seltsame, nie empfundene Gleichgültigkeit überkam mich. Als ich die Augen wieder aufschlug, um meine Lage und Umgebung zu inspizieren, fiel mir zunächst die Traube menschlicher Leiber auf, die mich umringte. Dann wurde mir schmerzlichste bewusst, dass ich mich auf dem Rücken ausgestreckt auf dem Asphalt befand und der metallene Geschmack in der Mundhöhlengegend kündete von dem Zwischenfall, der meine momentane Situation verursacht hatte.
Und bevor ich mein Bewusstsein vor Erschöpfung und unerträglichem Schmerz endgültig verlor, blitzte etwas in meinem Augenwinkel auf, das meine Aufmerksamkeit erregte.
Unendlich langsam drehte ich meinen Kopf zur Linken, um meine Neugier zu befriedigen. Aus weiter Ferne war das hysterische Heulen eines Krankenwagens oder Polizeivehikels zu vernehmen, wer weiß das schon so genau?
Mit qualvoller Disziplin vollendete ich die Drehung meines Schädels, sodass ich die Herkunft dessen erspähen konnte, was mich zur Selbstmarterung verleitet hatte. Gegen die Sonnenstrahlen, die sich im schwarzen Stahl eines schwarzen, länglichen Wagens spiegelten und mir so die Sicht erschwerten, erkannte ich die Silhouette eines lässig und verwirrend teilnahmslos an das Gefährt gelehnten Menschen. Das letzte, was ich vernahm, war, wie sich die lahmen Mundwinkel meines Peinigers zu einem zufriedenen, grausamen Lächeln hoben.