- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 1
Der letzte Abend
Der letzte Abend
Es war der letzten Abend. Draußen hatte ein heftiger Schneefall eingesetzt, der mich in meinem Hotelzimmer festhielt. Eigentlich hatte ich noch ausgehen wollen. Aber nun sah es so aus, als wenn ich diesen letzten Abend mit mir alleine feiern müsste …
Jemand klopfte an die Tür. Vielleicht schickte die Hotelleitung eine kleine Aufmerksamkeit vorbei, was allerdings von diesem Laden kaum anzunehmen war. Oder die Zeugen Jehovas hatten ein neues Aufgabenfeld entdeckt. Missmutig ging ich zu Tür und öffnete sie. Davor standen drei vor sich hin kichernde Schulgören, die sich hoffentlich nur einen schlechten Jux gemacht hatte und diesen durch zügiges Verschwinden wieder gutmachen würden. Ein leichter Alkoholgeruch stieg mir in die Nase. Jede von ihnen hielt ein prozentuales Getränk in den Händen. Ich wusste, dass sie zu der Klasse gehörten, die ein Stockwerk unter mir hauste und die allabendlich immer in sämtlichen Hotelfluren herumlungerte. Ein verstohlenes, mit Alkohol versetztes, kicherndes „Hallo“ reichte mir verbal die Hand. Immerhin schienen sie noch einigermaßen bei Besinnung zu sein. Unaufhörlich glucksten sie vor sich hin und sahen mich an, als wäre ich ein Kamel. Das machte mich fast wahnsinnig. Sie sahen weiß Gott nicht schlecht aus. Aber trotzdem hätte ich am liebsten die Tür gleich wieder zugeschlagen und sie von Innen mit sämtlichem Mobiliar als Bollwerk vor den Eindringlingen verriegelt. Doch plötzlich animierte sie irgendetwas auf dem Gang dazu hastig in meine vier Wände einzudringen. Einem rebellischen Überfallkommando gleich. Auf mich, als Opfer nahmen sie dabei keine Rücksicht. Die Annektierung war erfolgt. Beinahe friedlich. Ich raffte mich wieder vom Boden auf …
Ich betrat das besetzte Territorium, das vormals unter meiner Pachtherrschaft gestanden hatte. Sie waren gerade dabei, sich einzuleben und damit beschäftigt, den als Minibar getarnten Kühlschrank zu filzen. Ihr eingeführter Vorrat hatte sich nämlich beträchtlich geleert und mein eigener entpuppte sich als wesentlich härter und exotischer.
„Was haste denn so alles?“, fragte die Blondeste von den dreien, die mich bei jedem Blickkontakt, den wir hatten, herausfordernd ansah. Sämtliche Flaschen und der spärliche Fresskram, wurden aus dem Versorgungslager, also dem zweckentfremdeten Kühlschrank, hervorgeholt.
„Ich fände es echt klassen, wenn ihr hier wieder verschwinden würdet. Ihr seit zwar erst ein paar Sekunden hier, aber trotzdem geht ihr mir schon tierische auf die Nerven“, sagte ich.
Meine Rede konnte sie von ihrem Feldzug, der im Wesentlichen darin bestand mein Zimmer zu erobern, nicht abhalten. Immerhin geschah es friedlich und ohne Kampfhandlung Ich nahm es so passiv, wie möglich hin …
Erneut klopfte es an der Tür. Ich dachte, nun stünde die Polizei davor, um mich wegen angeblicher unzulässiger Verführung in Handschellen aus dem Hotel zu führen. Die Titelseite einer großen, landesweit erscheinenden Zeitung, war mir so gut wie sicher. Aber als ich die Tür öffnete standen drei Kerle davor, die sich ebenfalls Inventar dieser berüchtigten Klasse entpuppten und von denen ich mindestens anderthalb bis zwei zur alternativen Gattung zählte. Ich vermutete, dass in weniger als einer Viertelstunde auch der Rest dieser Klasse eintrudeln würden. „Peace!“ …
Allmählich fand ich daran gefallen, dass mein Zimmer nun dafür herhalten musste, dass übliche Programm einer Klassenfahrt zu entschädigen.
„Habt ihr keinen Schiss, dass eure Lehrer hier bald vor der Tür stehen?“
Damit konnte ich ihnen nur ein Lachen entlocken.
„Alter, die interessiert nicht wirklich, wo wir sind“, klärte mich einer der Neuankömmlinge auf und musste sich dabei so vor Lachen schütteln, dass mir seine langen verfilzten Haare in die Visage schlugen.
Einer von den Jungs holte eine Packung Zigaretten hervor, nahm sich selbst zuerst eine heraus und reichte sie dann an die anderen weiter. Ich musste trotz der eisigen Kälte draußen die Fenster aufreißen, weil es im Zimmer so aussah, als wäre eine Dampflokomotive mit voller Kraft durchgerauscht. Draußen fiel der Schnee. Kleine weiße Flocken verirrten sich ins Hauptquartier, drohten mir Kälte, schmolzen aber umgehend in der Wärme dahin. Es begann gemütlich zu werden. Die Mädchen hingen in den Sesseln ab, während die Jungs in sich querbeet im ganzen Raum breit machten. Auf dem Teppichboden lagen bereits die Zeugnisse ihrer ernährungsfreudigen Kultur.
Ich war froh darüber, dass sie meine Gegenwart im Zimmer zumindest ansatzweise wahrnahmen. Immerhin zeigten sich die Rebellen als äußerst gesprächig. Sie erzählten mir, was sie schon alles von der Stadt gesehen hatte und was ihnen noch blühte. Ungefähr die Hälfte davon fanden sie „zum kotzen“. Der Rest war „ganz okay“. Sie waren Oberstufenschüler, die das Glück hatten, für eine Woche dem Schulalltag den Rücken kehren zu dürfen. Dementsprechend „dankbar“, verhielten sie sich. Nur dem Lehrkörper schien dies schwer zu fallen …
Der nächste Gegenstand im Zimmer, der ihr Interesse weckte, war der Fernseher.
War es ein besonders gut gemeinter Zug der Direktion des Hauses an meine Wenigkeit, oder doch nur ein Versehen? Beim Bedienen einer kleinen, harmlos wirkenden Gelben Taste, die mit „Service“ überschrieben war, gelangte man zu einem Kanal, der ausschließlich nacktes menschliches Fleisch für seine Unterhaltung verwendete. Ein aufragender Phallus, der in seinem monströsen Ausmaß fast drohend wirkte und an dem ein weißlicher, zähflüssiger Saft langsam in die Tiefe hinab glitt, erschien auf der Bildfläche. Eine sinnlos liebende Frau, gab sich ihm mit aller Hingabe ihrer Zunge hin. Schön schaurig. Offenbar genügte das ihren Ansprüchen. Meinen Geschmack würde es aber erst dann treffen, wenn er so tief gesunken wäre, dass er in Australien wieder herauskäme. Die Frau stöhnte. Die Jungs im Zimmer ahmten den Urschrei nach. Die Mädchen hielten ihre Münder offen.
Die Konversation kam kurzfristig zum erliegen …
Das Revolutionskomitee einigte sich schließlich einvernehmlich darauf, doch lieber nach solider Fernsehunterhaltung Ausschau zu halten. Gefunden hat es nichts, was ihm als solide genug erschien. Immerhin wurde das Angebot eines Musiksenders als Hintergrundunterhaltung angenommen.
„Wollt ihr nicht wieder auf eure Zimmer gehen“, fragte ich.
„Wir pennen heute Nacht bei dir!“, war die Antwort. Das hatte ich befürchtet.
Wieder begannen die friedlichen Rebellen das Feuer der Hoffnung zu legen. Mysteriöses Brennmaterial verschwand in selbstgedrehten dicken Röhrchen. Das Zeug stammte vermutlich aus dem Urwald. Jedenfalls sah es so aus. Vieles flog auf den Fußboden, der im Prospekt scherzeshalben mit dem Prädikat „einladend“ versehen worden war. Gewaltige Tüten waren es, die dort in Flammen aufgingen.
Ein süßlich riechender Nebel stieg auf. Von allen Seiten erhielt ich das Angebot selbst mal einen Zug zu nehmen, was aber nicht mehr nötig war. Der Rausch stellte sich schon vom Zusehen ein. Je mehr von diesen trichterförmigen Schloten umhergereicht wurden, desto zufriedener wurde die Stimmung im Raum …
Während ich noch betäubt, auf dem Fußboden vor mich hinschaukelnd saß und aus dem Fenster sah, bereitete der Rest der Kommune das Nachtlager vor. Es machte ihnen nichts aus, das die Decken und die Matratze nicht für alle reichte. Sie nahmen sich, was sie kriegen konnten. Es war selbstverständlich, das ich als „Gastgeber“ zurückhielt.
Schon bald razzten kreuz und quer in meinem Zimmer zusammengekauerte Gestalten. Für mich blieb so gut wie kein Platz mehr. Ich würde vermutlich auf das Badezimmer ausweichen müssen, so schien es mir.
Es war mein letzter Abend im Hotel.
Copyright Stefan P2005