Der letzte Brief
Er fühlte sich anders-Anders, seit Sie da war!
Gleich den leichten, schwebenden Schritten, die man geht in einem Traum -in einem Traum vielleicht von tanzenden Goldfischen-, so ging er ohne bestimmtes Ziel einfach nur gerade aus, mal rechts, mal links, einfach nur um nachzudenken.
Von denen Bäumen des Parks herab fielen die roten, fielen die gelben Blätter, fielen auf den Boden, die schmutzige Erde, um dort Tag für Tag ihr Leuchten, ihre Farbe zu verlieren, schließlich vom Schnee begraben zu werden.
Er fühlte sich wie diese Blätter an jenem Tag. Würde er sein Leuchten verlieren, das Leuchten seiner Augen, wenn er an Sie dachte?
Tief atmete er die kühle Herbstluft ein, bis sie in seinen Lungen brannte, fing eines der herabfallenden Blätter auf, betrachtete es nachdenklich, und ließ es gedankenlos wieder fallen.
In der Ferne, hinter den Bäumen, nein, gar noch hinter Wolken, sah er die Sonne, fühlte Reste ihrer Wärme auf seiner Haut. Dann dachte er wieder an Sie. Hatte er je damit aufgehört?
Manchmal erschreckte er sich, dass er für einen kurzen Moment vergass, wie Ihr Gesicht aussah, wie Sie lächelte, wie Ihre Stimme klang. Es fiel ihm wieder ein, und ihm war, als wäre Sie schon immer da gewesen.
Je länger er an Sie dachte, desto verwirrter fühlte er sich, konnte seine Gefühle nicht fassen, und plötzlich war ihm als hätte ihn jemand gefragt, was er empfinde. Er drehte sich um, doch auch hinter ihm war niemand zu sehen.
Und wieder atmete er tief ein, sekundenlang. Könnte doch nur die vom Duft des Laubes getränkte Herbstluft die Leere in seinem Herzen füllen!
Er streckte seine Hand aus um nach einem Blatt zu greifen, um Ihre Berührung zu spüren, doch nur den einsetzenden Regen fühlte er auf seiner Haut.
Er breitete die Arme aus, und versuchte zu fliegen. Fühlte er nicht seit Tagen, dass dies möglich sein müsste? Hatte er nicht geträumt zu fliegen?
Mit schnellen Schritten erreichte er ein Café in der Nähe des Parks.
Er setzte sich an einen Tisch am Fenster, bestellte einen Tee, und öffnete sein Notizbuch, gefüllt mit Gedichten und Texten, die ihm nichts bedeuteten. Würde er über Sie schreiben, was er für Sie empfand, vielleicht würde er Sinn finden.
Er erschrak, als er merkte das die Buchstaben sich vom Papier zu lösen schienen, Wörter lösten sich auf, Gedanken zerbrachen, und wie in einem großen Schwall rannen unzählige Konsonanten, Kommas und Vokale über seinen Arm, das Hemd, auf den Boden. Erschrocken sprang er auf, warf seinen Stuhl um, und erntete nur verständnislose Blicke.
Es war gerade noch genug Zucker übrig um seinen Tee angenehm zu süßen, er trank einen Schluck, fühlte die Wärme, eine andere, als die, die er suchte, und sah aus dem Fenster.
Der Regen hatte sich gelegt und einige Fußgänger trauten sich wieder auf die Straße. Er betrachtete jedes vorbeigehende Gesicht genau und versuchte sich vorzustellen, wohin sie ihre Schritte, die langsamen, wie die hektischen, führten. Versuchte sich vorzustellen, ob auch diese Menschen fühlten, was er fühlte. Er konnte es nicht, trank seinen Tee aus, bezahlte und ging selbst.
Ging ohne Eile, doch nicht mehr schwebend die Allee entlang. Auch hier unzählige Laubblätter. Der abfließende Regen hatte sie zusammengetrieben, auf einen unansehnlichen Haufen.
Ein unaussprechlicher Haufen von Gefühlen begleitete ihn auf seinem Weg nach Hause. Auf der anderen Straßenseite gingen zwei Menschen Arm in Arm. Er sah sie nicht. Vielleicht war Sie eine von beiden, vielleicht sollte Er aufhören zu fühlen.
Vielleicht, dann wäre es leichter, konnten seine Gefühle doch nur bedeuten, dass er verletzt werden würde.
Nur in seinen Träumen würde er der Gewinner sein, der Gewinner eines Spiels, das mehr bedeutete. Vielleicht nur für ihn.
Ohne einen Zeitraum benennen zu können, hatte er doch weder auf die Zeit geachtet, noch auf den Weg den er ging, die Straßen, in die er einbog, ohne also genau zu wissen wann, stand er plötzlich vor seinem Briefkasten.
Er wischte das nasse Laub beiseite, dass an der vorderen Seite des Briefkastens klebte, drehte den Schlüssel, nahm den Brief heraus, nur den einen, als wusste er genau, dass er ihn dort finden würde.
Er wusste es.
In der Wohnung öffnete er den Umschlag, fühlte das Papier, spürte ohne zu lesen die Worte, die die Antwort auf seinen Brief bedeuteten, den er schrieb um Ihr seine Gefühle zu verdeutlichen, fühlte, dass er nicht das lesen würde, was er sich erhofft hatte.
Er las die Zeilen, spürte jedes Wort, fühlte, dass etwas zerbrach. Ein schwaches Gerüst aus unklaren Hoffnungen, Emotionen und Wünschen, sah ihr Lächeln vor sich, anders als bisher, fremder.
Er fühlte sich anders?
Anders, seit sie schrieb.
Er ging mit schweren Schritten wieder die Allee entlang, im Café saß das Paar, der junge Mann auf seinem Platz, einem Platz, den er vielleicht nie hätte beanspruchen sollen. Er hatte sein Notizbuch dort vergessen, die junge Frau las seine letzte Geschichte. Sie handelte von ihr.
Er ging vorbei, zurück in den Park, fühlte, dass der Wind nun deutlich kühler war, schaute in den Himmel und wußte, bald würde es schneien.
[Beitrag editiert von: Salinger am 21.02.2002 um 15:00]