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Der letzte Fahrgast
Vor dem kleinen Büro der Transportgesellschaft "Pajaro Blanco", die rund ein duzend kleine, in den Bergen Cordobas verlorene Dörfer verbindet, sieht ein Fahrer ungeduldig auf sein Handgelenk. 20:17 Uhr. Er geht die Unterlagen noch einmal sorgfältig durch. Es sind 16 Einträge auf der Liste und auch 16 Fahrscheine, die er inzwischen entgegengenommen hat. Dazu kommen 4 Postpakete . Victor freut sich auf seinen telefonischen Bericht in ca. 90 Minuten. "4 mal ausverkauft! keine Zwischenfälle!" wird er der Zentrale stolz mitteilen können. Danach wird er den Bus an den nächsten Fahrer übergeben und Feierabend machen.
- Die Dame im Büro meinte Sie seien voll belegt. Ich müsste aber dringend nach Cumbrecita. Sehen Sie eine Möglichkeit mich trotzdem mitzunehmen? Es ist sehr wichtig.Die tiefe, ungetrübte Stimme gehört einem ca. 40 jährigen Gendarmen. Er steckt in einer abgetragenen, dunkelblauen Uniform, die ihm zu eng geworden ist. Er sieht Victor an, als wüsste er bereits die Antwort auf die Frage, als kenne er die Zunkunft und deren wenig überraschende Wendungen.
Victors Augen lösen sich von der Gestalt in dukelblau, er denkt kurz nach und antwortet pflichtbewusst:
-Wenn es wichtig ist, kann ich die Postpakete in den Gang stellen. Dann können Sie bei der Eingangstür stehend mitfahren. Einverstanden?-
Vielen Dank! - Der Gendarm steigt ein und klemmt seinen Anorak am Feuerlöscher fest.
Die Tür geht zu, die Räder mit dem starken Geländeprofil setzten sich in Bewegung. Victors letzte Fahrt für diesen Tag beginnt pünktlich um 20:20 Uhr.
Die ersten Kilometer verlaufen noch auf Asphalt. Danach beginnt eine enge, in die felsige, trockene Landschaft geschlagene Schotterstrasse, auf der ununterbrochen zwischen 1ten und 2ten Gang geschalten wird. Victor ist stolz darauf Menschen und ihre Güter sicher und rechtzeitig durch diese Berge zu befördern. Wenn die Fahrgäste einsteigen, sind sie Fremde. Bis zur Endstation hat er sich ihre Gesichter, ihre Stimmen eingeprägt und verabschiedet sie mit strahlenden, wohlwollenden Augen, als habe sie diese Fahrt, dieses kleine Abenteuer, in Freundschaft verbunden.
Ehrfürchtig beobachtet er den Beamten. Etwas schüchtern und unbeholfen sucht er das Gespräch. Der Mann mit den abgehärteten, müden Augen minimiert gekonnt seine Beiträge zum Dialog. Er hat den Fahrer routiniert und kompromisslos als harmlosen, einfachen Gesellen eingestuft und lässt sich von ihm ein wenig unterhalten.
Victor weiss zu jeder Kurve der unwirtlichen Strasse eine Geschichte zu erzählen. Er scheint alles über die Zeit der ersten Siedler zu wissen, die noch mit Maultieren diese Strecke zurücklegen mussten, um sich mitten in den Bergen eine neue kleine Welt zu erschaffen. Er berichtet über Waldbrände, die ganze Landstriche auslöschten, über die Regenzeit mit ihren sintflutartigen Überschwemmungen, und über unzählige, durch Leichtsinn verursachte Unfälle.
Mit jeder Anekdote wird seine Stimme freier, lebhafter. Wenn der Zustand der Strecke es erlaubt, helfen seine Hände mit, beim Zeichnen seiner Bilder. Jede Erzählung scheint im Kern vom couragierten Einsatz, vom bedingungslosen Zusammenhalt der kleinen Gemeinden zu handeln.
Ein Anfall von Ungeduld lässt den Fahrer abrupt schweigen. Er will die Endstation erreichen, Feierabend machen. Wegen ihr.
Bestärkt von der ruhigen Aufmerksamkeit des Beamten, atmet er tief Mut ein und wechselt das Thema: Vor einem halbem Jahr sass ein besonderer Fahrgast in seinem Bus. Die wohl anmutige Frau aus der Stadt fuhr nach Cumbrecita und liess sich dort nieder. Sie hatte ihn lange schroff abgewiesen, sich über ihn lustig gemacht. Irgendwann aber begann sie seine Besuche zu schätzen. Sie nimmt nun seine kleinen Aufmerksamkeiten an und hört interessiert zu, wenn er von seinen Reisen berichtet. Für Victor ist jede Fahrt nach Cumbrecita etwas besonderes, eine neue Chance diese Frau zu beeindrucken, sie zu umwerben.
Verschämt sucht der Fahrer in den Augen des Beamten nach Verständnis und Sympathie. Er findet sie. Sichtlich erleichtert, schweigt er und sieht wieder auf die Strasse.
Victors Gesicht wird noch lange vom inzwischen nachdenklich gewordenen Gendarmen studiert. Seine eigene Existenz drängt sich auf: Er reisst ohnmächtig von Dorf zu Dorf, hört die verzweifelten Klagen der Opfer, die von ihm persönlich Gerechtigkeit fordern, und macht sich an seine Arbeit, wissend, dass das Resultat niemanden wirklich zufriedenstellen wird. Jeder Fall ist für ihn nurmehr eine weitere lange, kalte Nacht weit weg von zuhause.
-Bleiben Sie über Nacht?
-Wenn alles gut geht, fahre ich bereits im nächsten Bus zurück.
-Ist etwas in Cumbrecita passiert? Wissen Sie, wir bekommen selten Besuch von der Polizei. Der Gendarm sieht Victor an, lässt sich Zeit und beschliesst ihm einen Antwort schuldig zu sein:
-Haben Sie von der Bankräuberbande gehört? Eines ihrer Mitglieder soll sich hier aufhalten. Ich soll die Verhaftung durchführen.
-Bei uns? Unglaublich! Und, brauchen Sie dazu nicht eine Waffe?
Der Polizist verneint mit einer knappen Kopfbewegung, die wohl auch die Neugierde des Fahrers zurückdrängen soll. Seine Stimme klingt fast flehend:
-Erzählen lieber Sie weiter! Erzählen Sie, bitte!
Victor fährt fort: In 3 Jahren will er genug Geld gespart haben, um einen eigenen Bus zu erwerben und als Subunternehmer zu arbeiten. Der Chef habe bereits zugestimmt. Das wird der perfekte Zeitpunkt sein, um Isabel einen Antrag zu machen.
Irritiert unterbricht der Gendarm:
-Isabel? Isabel Cerna?
-Ja, Genau! Das ist sie! Und woher kennen Sie den Namen?
Ein Fahrgast steht auf und unterbricht das Gespräch. Victor hält an einer Kreuzung an und macht die Tür auf, dann wieder zu. Der Beamte sieht jetzt blass aus. Befangen bittet er Victor ihn zu entschuldigen, er wolle sich auf dem soeben freigewordenen Platz ausruhen. Er geht langsam in die Tiefe des Busses und verschwindet aus dem Rückspiegel.
Victor setzt die Fahrt fort und denkt an den Gendarmen, an das unerwartete Ende ihres Gespräches. Dann an Isabel und an all den Neuigkeiten, die er heute zu berichten hat. Allein sein Beitrag zur Verhaftung eines gefährlichen Gängsters ist mehr als aussergewöhnlich.
Es ist bereits dunkel geworden als sie die kleine Brücke, die den Rio del Medio überwindet erreichen. Draussen lassen sich ein paar Gestalten erkennen, die sich sichtlich freuen, dass der Bus heil angekommen ist. Die Tür geht auf, die Gäste steigen etwas benommen aus. Dann auch der Gendarm. Er scheint sich nicht erholt zu haben. Etwas hastig und distanziert bedankt er sich für die Fahrgelegenheit und geht die Hauptstrasse hinauf.
Victor sieht ihm kurz nach und macht sich wieder an die Arbeit. Er übergibt die Postpakete und reinigt den Bus. Der nächste Fahrer erscheint. Sie unterhalten sich kurz über den Zustand der Strecke. Dann telefoniert Victor mit der Zentrale und eilt davon.
Er steht jetzt vor ihrer Tür, richtet den Kragen seines Hemdes und versucht seinen Herzschalg zu beruhigen. Letzteres ist ihm vor dieser Tür noch nie gelungen. Er klopft an. Dann nocheinmal. Die Tür bleibt zu.
Eine leise, weibliche Stimme aus der Nachbarswohnung sagt:
-Victor, sie ist nicht da. Komm her, bitte!
-Wieso? Wo ist sie?
-Weisst du, sie wurde vor ein paar Minuten verhaftet.
Sein Hals schnürt sich zu. Seine Augen brennen, werden glasig. Er lässt etwas aus der Hand fallen, dreht sich um und geht ein paar Schritte. Dann rennt er, bis die inzwischen leergewordene Bushaltestelle zu sehen ist.