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Der letzte Gast
Der letzte Gast des Jahres kam an einem wolkenverhangenen Novembertag in unser Hotel.
Ich saß auf dem Bootsanleger, ließ meine Beine über dem Wasser baumeln und sah meinen Brüdern beim Spielen zu, als der schwarze Wagen wie ein Schatten aus dem Wald glitt.
Neugierig starrte ich dem Auto nach, das auf das Haus zusteuerte. Um diese Jahreszeit kamen sonst keine Gäste mehr und ich wollte sehen, welche Sorte Mensch sich da in unser kleines Waldhaus verirrt hatte.
Ich ließ das Knäuel meiner kleinen Verwandten im Wasser zurück und lief schnell zum Haus hinüber.
Der Mann, der an der Rezeption stand, sah zu mir herüber, als ich die Eingangstür aus Tannenholz aufdrückte. Seine grauen Augen erinnerten mich an die Gewitterfronten, die im Herbst die Wandertouristen vertrieben. Er musterte mich von oben bis unten und schien zu überlegen, ob er mich überhaupt beachten sollte. Nach einem letzten Blick in meine Augen, wandte er sich wieder Mutter zu, die sein Buchungsformular ausfüllte.
Er war ein wenig kleiner als sie, hatte dünnes, dunkles Haar, das seine Stirn nur unzureichend verdeckte. Die Brille rutschte immer wieder an seiner Nase herab, so dass er sie wieder herauf schieben musste. Sein blauer Anzug sah aus, als hätte er ihn schon vor langer Zeit gekauft. Mit der linken Hand umkrampfte er den Ledergriff eines glänzenden schwarzen Aktenkoffers.
Auf die Frage, wie lange er bleiben wollte, murmelte er etwas, das ich nicht verstehen konnte, unterschrieb dann das Formular und ging schnell zur Treppe hinüber. Am Fuß der Treppe blieb er stehen, drehte sich um und ging zurück zu meiner Mutter.
Sie gab ihm nach kurzem Gemurmel eine Wanderkarte des Tals und er ging auf sein Zimmer.
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Noch am selben Abend hatte ich meinem kleinen Bruder Luzius von unserem merkwürdigen neuen Gast erzählt. Er wurde sofort ganz neugierig und fand es schade, dass er am Nachmittag im Keller war, um sich auf seine Kommunion vorzubereiten. So schlichen wir beide in der Nacht in das leerstehende Zimmer neben dem vermieteten.
Im Laufe der Zeit hatten wir in vielen Räumen winzige Löcher in die Wände gebohrt, um bei Gelegenheit ein bisschen Spion zu spielen. Wenn Mutter uns je dabei erwischen sollte, dass wir die Gäste beobachteten, würde sie uns bei Wasser und Brot im Keller vergraben, hatte Luzius einmal gesagt. Aber der Reiz des Verbotenen überwog das Risiko.
Gerade als der Mann das Licht gelöscht hatte und nur sein Kopf wie der Vollmond im Dunkel strahlte, stieß Luzius mit einem seiner Arme gegen die kleine Kommode, die normalerweise die Öffnung verdeckte. Wir hatten sie vorher weggerückt und nun schob er sie mit einem Rumpeln gegen die Wand. Sogleich ging im Nachbarzimmer das Licht wieder an. Der Mann saß aufrecht in seinem Bett. Er konnte uns unmöglich sehen. Und doch verengten sich seine Augen und er schaute zu uns herüber, den Kopf geneigt, als lauschte er nach weiteren Geräuschen.
Eine ganze Weile saß er so da, lauschend, blass im Schein der Nachttischlampe. Schließlich wandte er sich dem Koffer zu, den er neben sich auf dem Bett liegen hatte und öffnete ihn.
Ich spürte, wie Luzius sich neben mir versteifte.
Nach einem Moment klappte der Mann den Deckel wieder zu, schaute noch einmal zu unserer Wand herüber, schüttelte den Kopf und löschte das Licht.
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Am nächsten Morgen, die ersten Sonnenstrahlen lugten über die Gipfel und ich stopfte gerade mein Laken unter die Matratze, sah ich durch das Fenster meiner Kammer, wie unser Gast zügig auf den Waldpfad am Rande des Sees zuging. Er trug immer noch den Anzug vom Vortag und hielt seinen Koffer im Arm. Er presste ihn an seinen Körper wie eine Mutter ihr Neugeborenes.
In der grellen Morgensonne wirkte der Mann auf mich seltsam fremd. Irgendwie fehl am Platz, wie alte Schwarzweiß-Sendungen im Fernsehen. Ohne sich umzuschauen, lief er direkt in den Wald.
In der Nacht hatten Luzius und ich noch lange herumfantasiert. Er dachte er sich allerlei Geschichten aus. Der Mann konnte ein geflohener Mörder sein oder ein Geisteskranker, der in seinem Koffer die Augen seiner Opfer aufbewahrte. Ich hatte ihn ausgelacht, schließlich war ich ein Jahr älter als er und musste vernünftiger sein.
Aber was war nur in dem Koffer?
Ich ging hinunter in den Gastraum, wo Mutter das Frühstück herrichtete und erzählte ihr von meiner Beobachtung. Wortlos den Kopf schüttelnd räumte sie den Tisch wieder ab.
Ich nutzte die Gelegenheit und fragte sie beiläufig nach dem Koffer, doch schien sie nichts darüber zu wissen.
Oder sie wollte mich nicht bei meinen Schnüffeleien unterstützen.
Sie war der Meinung, dass meine Neugier mich noch einmal in Schwierigkeiten bringen würde. Wie damals meinen Großvater. Er war oft nachts in eines der Dörfer geschlichen und hatte dort herumgestöbert. Eines morgens war er wohl zu lange dort geblieben.
Großmutter erzählte mir einmal, sie hätte an dem Morgen Feuerschein im Tal gesehen.
Nach einer Mahnung, mich nicht zu sehr um anderer Leute Angelegenheiten zu kümmern, schickte Mutter mich nach unten. Ich sollte meine Brüder zum Essen holen.
Beim Frühstück kam Luzius auf die Idee, dass sich im Zimmer des Mannes vielleicht ein Hinweis auf den wahren Grund seines Besuches fände. Zu dieser Jahreszeit bot die Gegend nicht viel außer spontanen Regengüssen und Temperaturstürzen und zum Wandern war er eigentlich auch nicht richtig angezogen. Da mein Bruder natürlich nicht am hellichten Tag im Hotel herumwuseln konnte, fiel mir die Aufgabe zu, den Raum zu durchsuchen.
Nach dem Frühstück brachen die Brüder unter lautem Kreischen und Zischen einen sinnlosen Streit vom Zaun und lockten Mutter von der Rezeption fort. Mit klopfendem Herzen schlich ich an den Empfang, stahl den Ersatzschlüsselring, der unter dem Tresen hing und ging wieder nach oben. Die Tür knarrte laut wie ein Traktormotor in meinen Ohren, als ich sie langsam aufdrückte und in den Raum spähte. Wie erwartet, war er leer und nach wenigen Minuten war mir klar, dass ich mich umsonst der Gefahr von Mutters Zorn ausgesetzt hatte. Der Mann hatte außer des einen Koffers keine weiteren Gepäckstücke mitgebracht, noch nicht einmal eine Zahnbürste lag im Bad. Nur die zerwühlte Bettwäsche deutete darauf hin, dass er überhaupt hier gewesen war.
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Am Abend, ich spielte mit meinen Brüdern am Wasser, kam unser Gast von seiner Wanderung zurück. Ich sah zu ihm herüber und stutzte. Etwas stimmte nicht. Lange sah ich ihn an. Er trug sein Jackett in der linken Hand und dunkle Flecken wuchsen unter seinen Armen. Die Haarreste klebten ihm in der Stirn und seine Lederschuhe waren verdreckt.
Ich kam nicht darauf, was mich an seinem Aussehen so beschäftigte bis Luzius fragte, was er wohl mir seinem Koffer gemacht hatte.
Natürlich! Der Koffer fehlte.
Ich musste in meiner Überraschung ein wenig laut geworden sein, denn in diesem Moment sah der Mann zu uns herüber und blieb stehen wie ein Reh im Lichtkegel eines heranrasenden Autos. Er konnte unmöglich gehört haben, dass wir über den Koffer gesprochen hatten und die Kleinen konnte er von dort auch nicht sehen. Er stand nur da und starrte unverwandt herüber.
Plötzlich dachte ich, er wusste, dass wir in seinem Zimmer gewesen waren.
Aber das war natürlich Blödsinn.
Ich setzte mein bestes Braves-Mädchen-Lächeln auf und winkte ihm zu. Schnell drehte er sich um und ging zum Haus.
Wie ich später, nachdem ich mich von den Brüdern verabschiedet hatte, von Mutter erfuhr, war der Gast nach seinem Ausflug direkt auf sein Zimmer gestürmt und hatte die Tür hinter sich verriegelt.
Mir kam er immer seltsamer vor. Mutter meinte, ich sollte mich lieber um meine eigenen schmutzigen Kleider kümmern, als unseren zahlenden Besuchern hinterher zu schleichen. Was sollte Vater denken, wenn er mich nachher so sähe.
Vater!
In all meinen Bemühungen, hinter das Geheimnis des Fremden zu kommen, hatte ich Vater glatt vergessen.
Er würde diesen Abend zu Luzius' Weihe kommen.
Ohne ein weiteres Wort ließ ich Mutter im Foyer zurück und rannte die Treppe hinauf, um mich umzuziehen.
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Den Abend verbrachte ich damit, ein für den Anlass passendes Kleid aus meinem Schrank auszugraben. Die ganze Zeit hatte ich in dem vermieteten Zimmer unter meiner Kammer Schritte und Gemurmel gehört. Mit dem Gast stimmte doch etwas nicht. So langsam wurde mir mulmig. Wir hatten während der Sommermonate oft Menschen hier oben, aber so merkwürdig hatte sich noch niemand aufgeführt. Ich nahm mir vor, mich noch einmal durch das Loch im Gemäuer zu vergewissern, ob mit ihm alles in Ordnung war.
Ob er normal war.
Als mir aus dem Spiegel schließlich ein zufriedenes Mädchen in einem dunkelgrauen Sommerkleid mit Polokragen entgegen blickte, war es draußen bereits dunkel und ich konnte durch das Rauschen des aufgekommenen Regens leise Musik hören. Die Feier hatte begonnen.
Auf meinem Weg in den Keller, machte ich einen Zwischenstopp und sah noch einmal durch das Guckloch. Der Mann saß auf seinem Bett und hielt sich die Hände auf die Ohren. Hin und wieder hob er sie ein Stück weg, presste sie aber gleich wieder an den Kopf. Als ich kleiner war, hatte ich solche Spiele auch getrieben: Meeresrauschen in den Bergen. Aber der Gast war doch zu alt für so etwas.
Vielleicht hatte Luzius recht und er war verrückt.
Ich sollte Vater davon erzählen. Er kam sicher dahinter.
Vater!
Ich lief ich hinunter ohne mich weiter um den Mann zu kümmern.
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Das Kommunionsfest war schöner als jedes, dass ich bisher miterlebt hatte. Mutter und Tante Freda hatten ein Festmahl gezaubert und sogar die Verwandten aus den Wäldern im Tal und vom Langen See waren gekommen.
Stunden tanzten wir um das Tor, lachten und sangen die alten Lieder. Meine Brüder und ihre Vettern tollten herum und schlängelten sich zwischen den Gästen hindurch. Ab und an sprangen sie in das Wasser und versuchten, Vater im Dunkel zu erspähen. Doch niemand konnte ihnen das ungestüme Toben an diesem Tag übelnehmen.
Als ein blasser, silberner Schimmer schließlich die Ankunft ankündigte, riefen alle voller Freude die alten Grüße und bejubelten sein Auftauchen.
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Aus den Augenwinkeln bemerkte ich eine Bewegung am Eingang des Domes. Unbemerkt hatte unser Gast sich in den Festraum geschlichen und beobachtete mit aufgerissenen Augen unsere Ausgelassenheit. Sein Kopf schnellte hin und her. Eben starrte er mich an, dann meine Brüder, die Cousins und Cousinen. Seine Hände zitterten und die Augenlieder flatterten auf und zu über diesen blassen trostlosen Augen.
Schließlich fand sein Blick Vater.
Gerade wollte ich Mutter auf ihn aufmerksam machen, da schallte auch schon Vaters Stimme durch das Gewölbe: „C'ah hlirgh! Ch'nog geb!“
Gesang und Lachen erstarben.
Aus dem Rot Seiner Augen wurde schwarz und Dunkelheit quoll daraus hervor. Dünne lange Schatten krochen aus dem Wasser über Boden, Wände und Decke auf den Mann zu, der noch bewegungslos dastand und Vaters Gestalt anstarrte.
Als die Schemen ihn fast erreicht hatten, drehte er sich um und lief hinaus.
Noch bevor ihn jemand erreichen konnte, war er durch die Tür verschwunden.
Mutter, einige Tanten und ich folgten ihm gleich die Treppe hinauf. Als wir das Foyer erreichten, hörten wir bereits Motorengeräusch von draußen. Durch die offenstehende Eingangstür sah ich den Schatten seines Wagens lichtlos auf den Wald zurasen.
Enttäuscht und ein wenig beunruhigt widmeten wir uns nach diesem merkwürdigen Ereignis wieder unserer Familienfeier. Doch es gelang uns lange nicht, den Mann aus unseren Gesprächen zu verdrängen.
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Am folgenden Morgen riss uns die Gendarmerie aus einem viel zu kurzen Schlaf. Das Fest hatte noch bis in die frühen Morgenstunden gedauert. Letztlich hatten die ersten Sonnenstrahlen dem Vergnügen ein Ende gesetzt und Vater war mit Luzius aufgebrochen.
Zwei Polizisten sprachen vor dem Haus mit Mutter. Ich stand hinter der Tür und konnte so einiges mithören.
Unser Gast war nach seinem überstürzten Aufbruch mit dem Wagen von der Straße abgekommen und in die Archenschlucht gestürzt. Die Feuerwehr hatte nur noch seine Leiche bergen können.
Von dem Geld, dass er zwei Tage zuvor in der Kantonsbank geraubt hatte, fehlte dagegen jede Spur.
Mutter berichtete wahrheitsgemäß, dass der Mann im Laufe der Nacht abgereist war, ohne seine Rechnung zu bezahlen. Sein merkwürdiges Benehmen auf der Feier erwähnte sie nicht. Die Polizisten durchsuchten das Zimmer, doch hatten damit genau so wenig Erfolg wie ich.
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Ich frage mich nun, wo der Mann wohl an jenem Tag gewesen war. Er war mit seinem Koffer in den Wald gegangen und ohne ihn zurückgekehrt.
Nun, wir haben viel Zeit, meine Brüder und ich. Wir werden den Koffer schon finden.
Und wenn nicht, kann Vater immer noch den merkwürdigen Gast selbst befragen.