- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Der letzte Kuss
Nur schwach durchdrangen die Scheinwerfer den Nebel. Der Fahrer beugte sich über das Lenkrad, um nicht vom Weg abzukommen. Als der Fahrer auf die Bremse trat, gruben sich die groben Reifen des Geländewagens tief in den morastigen Untergrund. Der Wagen schlingerte und blieb stehen. Vor der Motorhaube erhob sich eine Wand aus Büschen und niedrigen Bäumen. Der Weg endete hier. Der Fahrer stieg aus und watete durch knöcheltiefen Matsch zum Heck des Wagens.
Die Heckklappe glitt zischend nach oben und gab die Sicht auf einen zusammengerollten Teppich frei. Mit Schwung lud er sich diesen auf seine Schultern und verschwand damit hinter den Büschen.
Der Geruch von feuchtem Torf und faulenden Pflanzen ließ den Atem stocken. Nachtschwarze Tümpel säumten den schmalen Weg auf dem er jetzt stand und der scheinbar ins Nichts führte. Nebelschwaden hingen wie Geister in der Luft.
"Jakob, Jakob!", hörte er sein Mutter schreien. "Verschwinde! Geh draußen spielen!" Der Vater war arbeiten und sie bekam ihren "Besuch" .Jakob flüchtete. Sein Vater fuhr für eine Spedition LKW, deshalb kam es recht häufig vor, dass er Reißaus nehmen musste, um nicht von den versoffenen Kerlen seiner Mutter verprügelt zu werden.
Das Moor wurde seine Zuflucht, sein zweites Zuhause.
Am meisten liebte er die Stille. Nur der Wind war zu hören, wenn er sanft durch das Schilf strich und seine traurige Melodie spielte.
In einem selbstgebauten Unterstand hatte er sich einen Schutz vor Kälte und Regen gebaut. Als er älter wurde, rauchte er hier seine erste Zigarette und erbrach danach sein Mittagessen in dem Tümpel. Er schenkte dem Moor seinen ersten Samenerguss und noch viele weitere sollten folgen.
Jedes Mal wenn er hierher kam, fühlte er sich frei. Unendlich frei.
Jakob legte den Teppich auf dem Weg ab. Wie bei einer Zeremonie faltete er ihn auseinander. In dem milchigen Licht stach der bleiche Körper der Frau vom dunklen Untergrund des Teppichs deutlich hervor. Sie war schön, sehr schön. Zu schön! Jakob kniete sich neben sie und streichelte über die kalte wachsartige Haut. Sanft berührte er ihre Scham und zog seine Hand zurück.
Er hatte sie geliebt! Er glaubte fest daran sie geliebt zu haben.
Doch irgendwann hätte sie ihn verlassen. Irgendwann hätte sie ihn alleine gelassen und sich vergnügt, mit andern Männern. Sie hätte über ihn gelacht. Ja, gelacht hätte sie! Wie seine Mutter über ihren Vater gelacht hatte.
Nein, das konnte er nicht zulassen!
Sie sollte nicht leiden. Nein. Und sie sollte ihre Schönheit behalten. Ein Gläschen Wein, versetzt mit KO-Tropfen und dann ein Kissen auf ihr Gesicht gedrückt. Sie hatte nicht gelitten. Sie hatte nicht einmal mitbekommen, was mit ihr passierte.
Die Sonne senkte sich dem Horizont zu. Jakob wusste, er musste bis Sonnenuntergang wieder hier raus sein, denn bei Dunkelheit verlor selbst er die Orientierung. Ein falscher Schritt und...
Er nahm den toten Körper auf seine Arme und ging auf dem morastigen Pfad tiefer ins Moor hinein.
Wie Klauen, die auf Beute lauern, ragten hier und da Äste aus dem Wasser. Jakobs Stiefel sanken tief in den Boden ein und erschwerten das Vorwärtskommen. Er blickte sich um. Der Nebel hatte den Weg nun vollends bedeckt. Fünf Schritte weiter ragte ein Baumstumpf aus dem weißen Teppich. Er hatte es gleich geschafft. Der Weg endete an einem Teich. Die Nebelschwaden warfen geisterhafte Schatten auf die Oberfläche. Blasen stiegen aus dem moorigen Wasser empor und verströmten einen fauligen Gestank. Linker Hand ragten einige abgestorbene Bäume, bedeckt mit einer braunen Plane bizarr in die Luft. Dies war sein Unterstand. Hier würde sie niemand finden. Hier waren sie sicher.
Vorsichtig legte er seine Freundin ab. Seine erste richtige Freundin. Im Licht der untergehenden Sonne sah es aus, als ob sie schliefe. Wie kleine Flüsse durchzogen dünne Adern, die nun ohne Funktion waren, die Seiten ihrer zarten Brüste und ihr flacher Bauch zeigte nur den Makel, dass er sich nicht hob und senkte. Er kniete sich neben sie und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Willkommen zuhause, mein Schatz.“ Er schob seine Arme unter ihren Körper und stemmte sie hoch über seinen Kopf.
Ihr linker Arm fiel in seinen Nacken, rutschte in seinen Mantel und blieb darin hängen. Er stieß sie mit aller Kraft nach vorne. Doch sie fiel nicht in den Teich, sondern schlug ihm vor die Brust und blieb mit weit geöffneten Augen an ihm hängen, den Arm wie in einer Umarmung in seinem Mantel steckend. Durch den Schwung verlor er das Gleichgewicht, machte einen großen Schritt nach vorne und gemeinsam stürzten sie in den Tümpel. Die Nebelschwaden stieben auseinander. Eine Gischt aus Wasser und Morast spritzte auf und der Baumstumpf schwankte wie eine Boje hin und her.
Frank versuchte die Leiche von sich zu lösen, doch sie hatte sich so sehr in seinem Mantel verfangen, dass er nicht von ihr los kam. Ihr Körper drückte sich gegen ihn und es schien, als hätte sich ihr Mund zu einem Lächeln verzogen. Je tiefer sie im Morast versanken, desto näher kamen ihre Lippen den seinen. Er stöhnte, er schrie: „Nein, nein, Hilfe!“ Niemand konnte ihn hören. Er versuchte sich auf den Rücken zu legen, um an den Baumstumpf heran zu kommen. Doch ihr Arm in seinem Nacken hinderte ihn daran. Sie sanken tiefer und tiefer. Das Moor drückte ihre Körper enger aneinander. Als nur noch ihre Köpfe heraus schauten, pressten sich ihre Lippen aufeinander. Fauliges Wasser drang in seine Nase. Er hustete und würgte, doch er bekam keine Luft mehr. Langsam versanken sie vollends im Moor.
Es kehrte wieder Stille ein! Die Stille die er so geliebt hatte! Die Wellen auf dem Tümpel glätten sich und der Nebel verteilte sich gleichmäßig auf ihm.
Sanft strich der Wind durch das Schilf und spielte seine traurige Melodie.