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Der letzte meiner Art
Es war der dritte Abend, an dem meine Frau nicht zu hause war, weil sie bei meiner Tochter im Krankenhaus wachte. Die Arme hatten einen Magen und Darm Infarkt und war an einem Tropf gefesselt.
Ich war also daheim und nur das Schnarchen meines treuen Hundes und das Grunzen meines drei Wochen alten Sohnes war zuhören. Auf TerraNova lief eine Reportage über die Alpen. Sie zeigten Bilder von schneebedeckten Bergen und saftige, grüne Täler. Vereinzelte Gämse und einige Steinböcke sprangen in der noch fast unberührten Natur umher. Ein Erzähler berichtete, dass dort wohl die letzten Steinböcke der Alpen grasten und ihre Population sich immer mehr verringerte. Sie waren vom Aussterben bedroht. Genau wie der Steinadler und die Murmeltiere. Der Mensch raubte ihnen immer mehr Lebensraum.
Ich wurde traurig. Ich erinnerte mich, dass ich mit neunzehn Zeuge eines Naturspektakels war. Ein Turmfalke hatte eine Taube direkt vor meiner Haustüre geschlagen. Wann hatte ich zuletzt einen Falken, oder einen Bussard gesehen? Wann das letzte Mal den Ruf des Kuckkuck? Ich weiß, dass ich ihn während meiner Schulzeit öfter gehört habe. Heute höre ich auf den Straßen nur noch Boshido und Sido.
Die Kamera fuhr weiter über die Spitzen der Berge. Bären waren auch schon lange nicht mehr hier. Bis auf Bruno, aber der war ja schnell erlegt. Knut, hm, der süße Eisbär hinter dem Sicherheitszaun, der demnächst seine Art in Zoos weiter bringen soll. Naja, die Eisschollen sind auch bald weg getaut, dann ist es besser man lebt im Zoo, als im offenen Meer. Ob Orcas gerne Eisbären fressen. Gibt es noch Orcas?
Irgendwie ergriff Sehnsucht besitz von meiner Seele. Wo waren die Adler hin, oder wie Helloween fragten: Where the eagles fly?
Plötzlich spürte ich einen Schmerz in der Wirbelsäule. Ich zuckte wie auf Turky, meine Arme krümmten sich und meine Hände bohrten sich in meine Schulterblättern und wuchsen dort fest. Mein Gesicht wurde in die Länge gezogen, die Nase und die Oberlippe wurden eins und verfärbten sich zart gelb. Ein heller Schrei entlud sich meiner Kehle und meine Knie verwuchsen mit meinem Bauch. Meine blanken Füße wurden zu Klauen und ich hüpfte wie ein Huhn umher. Mein Körper brannte und juckte wie der schlimmste Ausschlag. Ich sprang auf den Glastisch und krächzte. Meine Brille fiel von meiner Na… nein, meinem Schnabel und ich konnte besser sehen, als je zuvor. Federn bohrten sich durch meine Haut und bedeckten den ganzen Körper. Ich hatte Schwingen. Jeweils zwei Meter lang, mit glänzenden, braunen Federn. Ich hob vom Tisch ab und flog über meinen Hund hinweg, der nicht recht wusste, ob er knurren, oder piepsen sollte. Ich landete auf dem Rand des Babybettchens. Ich schaute auf das kleine Etwas, was da seicht atmete und fühlte, dass ich nichts gemein mit ihm hatte.
Der Stolz auf meinen Jungen war verflogen. Ich gehörte nicht mehr zur seiner Art. Ich war, ich war…Was war ich? Ich hüpfte zum Spiegel, vor dem sich meine Kleine immer bestaunte und sah, dass ich ein riesiger Steinadler war.
Eagle fly free! Dröhnte es durch meinen Verstand. Instinkt!
Ich nahm Anlauf, breitete meine Schwingen aus und krachte durch die Glasscheibe. Ich landete auf der Hofmauer. Mein Junge schrie, mein Hund bellte und mein italienischer Nachbar steckte seinen Kopf aus dem Fenster. „Ute, alora, da sitzde große Vogel und de Bambini vonde Bekloppte schreite wie wild.“ Dann verfiel er ins Italienische und schmiss einen Stein nach mir.
Ich erhob mich in die Lüfte und flog davon. Es war mir egal, dass das Baby schrie. Sollte es verhungern, sollte der Hund es fressen. Sollte meine Frau ohne mich verrückt werden. Sollte alles nach mir untergehen!
Ich gehörte nicht mehr zu ihnen. Ich war frei. Ein König der Lüfte.
Der letzte meiner Art.