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Der letzte Sommer

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19.03.2003
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Der letzte Sommer

Der letzte Sommer


Ich habe einen Traum.

Darin fliege ich über den Wolken. Über mir eine harte lila Sonne. Dann und wann reißen die weißen Berge unter mir auf und ich sehe das Meer leuchten. Mich zieht es hinab. Ich will eintauchen. Will kühles Nass auf meiner Haut spüren.

Haut die brennt.

Ich wache auf. Es ist noch früh am Morgen. Ich habe noch Zeit bevor ich aufstehen muss. Meine Tochter muss zur Schule. Sonst könnte ich liegen bleiben. Den Morgen verschlafen.
Ich döse noch ein bisschen. Genieße den Augenblick. Im Halbschlaf kann ich meine Träume steuern.
Fliege durch die Wolken. Unter mir sehe ich einen Schwarm Fische. Sie springen aus dem Wasser. Ihre silbrigen Leiber blenden mich.
Ich möchte sie mir näher ansehen. Doch die Fische sind zu flink. Ihre Schuppen schillern. In allen Farben.
Die Farben explodieren hinter meinen Augenlidern, als meine Tochter zu mir ins Bett schlüpft. Ihre Beine sind eiskalt. Ich weiß, was sie sagen wird.
„Guten Morgen, Mama.“
„Guten Morgen, mein Kind.“
Sie ist ebenso trunken wie ich. Ich fühle ihre andere Schläfrigkeit, als sie an mir kuschelt, mit ihren Händen nach mir patscht und ihr Gesicht ganz nah an meines legt.
„Kannst du Frühstück machen?“, fragt sie leise.
Ich nicke, was sie nicht sehen kann, weil ihr langes Haar, wie ein Fächer über das Gesicht gefallen ist. Ich schiebe sie ein wenig von mir, wie um ihr klar zu machen, dass die Distanz ein Ja bedeutet.
Ich stehe auf. Erwarte das übliche Chaos vorzufinden, das mein Mann mir jeden Morgen in der Küche hinterlässt. Es stört mich nicht, als ich sein benutztes Geschirr einräume, den Müll in den Eimer werfe. Im Gegenteil. Die Handgriffe sind mir vertraut. Helfen mir, mich zurechtzufinden.
Während ich das Frühstück bereite, macht Marianne sich für die Schule fertig. Ich decke für uns den Tisch, obwohl ich keinen Hunger verspüre.
Ich bin immer noch müde. Mir ist kalt. Ich ziehe meinen Morgenmantel über die Brust. Meine Fingerspitzen entdecken ihn sofort. Ich denke an meinen Traum.

Vielleicht sollte ich verreisen?

„Hast du alles gepackt?“, holt mich die Frage meiner Tochter zurück.
Ich sehe, sie hat ihr neues Sommerkleid an.
„Ja, es liegt alles bereit“, antworte ich und streiche ihr über das Gesicht.
„Ich kann die erste Stunde ausfallen lassen“, sagt sie.
„Die Lehrer würden es verstehen.“
„Nein lieber nicht“, sage ich, obwohl ich es nicht meine. „Mein Taxi kommt um zehn Uhr und holt mich ab.“
Marianne steht vor mir, dreht mit den Fingern eine Strähne ihres Haares. Wie damals. Beim ersten Mal.

Ich sitze im Wartezimmer des Krankenhauses. Eigentlich weiß ich nicht, ob ich ängstlich oder wütend sein soll.
Ängstlich, weil die letzte Bestrahlung so schmerzhaft gewesen ist, dass ich nächtelang nicht schlafen konnte. Dabei hatte ich gedacht, die Chemotherapie ist am schlimmsten.

Meine Hände sind eiskalt. Meine Füße scharren über den Fußboden.
Alles noch ein Mal. Alles in mir weigert sich, die Wahrheit zu sehen. Ich möchte aufstehen aus diesem Zimmer gehen. Ich möchte diesen Knoten nicht spüren. Doch weiß ich:er ist da. Und dieses Mal ist es schrecklicher, ihn zu fühlen.

Ich sehe Klaus`Gesicht vor mir, als ich es ihm gesagt habe. Wie sein Lächeln aus seinen Gesichtszügen verschwunden ist. Jenes befreite Lächeln, als der Arzt nach Abschluss der Behandlung gemeint hat: „Alles wird gut. Wir haben rechtzeitig gehandelt.“

Ich habe es geglaubt. Auch in der Rehabilitation, als mir Vorschläge zu Veränderung meines Lebensstiles gemacht worden sind. Vieles von dem, habe ich umgesetzt. Und nun? Wofür? Ich habe die Schmerzen in meinem Arm ertragen. Bin zur Drainage gegangen. Ich bin für mich da gewesen. Habe Sport getrieben, mir Hobbys gesucht.

Ich fühle mich stark.
Das sind meine Worte gewesen.Aus einer anderen Zeit? Aus einem anderem Leben? Umsonst?

Ich sehe Marianne vor mir. Viel zu ernst für ihr Alter. Mein Gott, wo ist ihre Kindheit geblieben? In der Zeit wo ich nicht ihre Mutter sein konnte, hat sie wie selbstverständlich Rücksicht genommen. Andere Mädchen in ihrer Klasse gehen auf Partys. Sie sitzt zu Hause und lernt. Und wenn sie nicht lernt, hilft sie mir bei der Hausarbeit.

Ich will das alles nicht.

Und doch bleibe ich hier sitzen. Warte. Wie lange werde ich noch warten können? Wie viel Lebenszeit habe ich noch? Ganz dumpf in mir lauert etwas. Ich kann es nicht greifen. Aber es greift nach mir.

Es ist dunkel.

„Frau Lange?“ Ich sehe die Schwester, die meinen Namen aufgerufen hat. Sie ist neu hier, denke ich, weil ich sie vor zwei Jahren, während meiner Behandlungszyklen nie gesehen habe.
„Kommen Sie, bitte!“, sagt sie zu mir.
Ich folge ihr. Ihre Absätze klappern auf dem Gang. So untypisch, schießt es mir durch den Kopf. Ich habe den schlurfenden Gang der anderen Schwestern noch sehr gut in Erinnerung. Da ich weiß, was auf mich zukommen wird, habe ich um ein Beruhigungsmittel gebeten. Die Krankenschwester überreicht mir ein kleines Plastikglas, einem Schnapsglas sehr ähnlich. Ich trinke die rosige Flüssigkeit. Sie schmeckt angenehm. Ich muss mich ausziehen.
Langsam fährt die schmale Bahre in die Röhre hinein. Es ist eng. Aber ich bin wohlig schläfrig. Wie aus weiter Ferne höre ich die Schwester zu mir sprechen. „Denken Sie an etwas Schönes!“, sagt sie, als ich sie nicht mehr sehen kann.

Ich denke an meinen Traum von heute Morgen.
Denke an meinen Mann, den ich gestern Abend gebeten habe, heute zur Arbeit zu fahren. Denke an meine Tochter, die ich gebeten habe, mich zu wecken, damit ich ihr das Frühstück machen kann.

Denke an Normalität.

Wünsche mir alles, was ich bisher nicht gemacht habe, sofort zu erledigen. Wünsche mir, die Abitursfeier von Marianne erleben zu dürfen. Wünsche mir, mit Klaus im Orient Express zu sitzen.
Und wenn er nicht mitfahren will, werde ich alleine reisen.
Unzählige Steine prasseln herunter. Kieselsteine, die auf Blech klicken. Um mich herum ist es laut. Ich habe das Gefühl, eingeschlafen zu sein. Die Bahre fährt wieder aus. Nur langsam erkenne ich das Gesicht, das ich vor mir sehe, als ich aus der Röhre herausfahre. Ich sehe, dass Klaus nachgekommen ist. Er weint. Fragt nicht: „War es schlimm?“

Das hat er beim ersten Mal schon gefragt. Er kennt doch die Antwort, denke ich. Wie um ihn zu entschuldigen.
Aber kennt er sie wirklich? Vor zwei Jahren ist es schlimm gewesen. Heute ist es anders. Ich versuche meine Angst zu überwinden.
Ich weine nicht, weigere mich sie zu fühlen.
Wir verlassen die Radiologie. Wir müssen bis morgen auf das Ergebnis warten.
Der Blick des Arztes hat den meinen gesucht. Ich wollte ihn nicht ansehen. Hoffnung, Zuversicht, all dies habe ich schon gehört.


„Danke, dass du noch gekommen bist“, sage ich zu Klaus.
Sage es, obwohl ich spüre, es ist nicht wahr. Ich will ihn jetzt nicht bei mir haben. Seine Anteilnahme lastet auf mir. Den Weg, den ich gehen muss, werde ich alleine gehen müssen. Ich bin wütend.
Wütend, weil ich finde, dass er rücksichtslos ist. Ich finde er soll stark sein. Er soll endlich seinen Hintern bewegen und zeigen, dass er sich ein Leben ohne mich vorstellen kann.
„Wollen wir etwas essen?“ fragt er mich.
Ich winke ab.
„Klaus, bitte.“
Seine Mundwinkel verraten ihn. Nur ein bisschen schiebt er die Unterlippe vor. Zeigt mir: Ich bin zu schroff. Dennoch habe keine Lust, auf seinen Vorschlag einzugehen.
„Was möchtest du?“, fragt er in die Stille hinein. Eine Stille, die ich zwischen uns noch nie so stark empfunden habe wie jetzt.
Ich sehe seine Angst. Eine Furcht, die er mit mir teilen möchte. Aber nicht kann, weil es nicht die meine ist.
„Ich finde, du solltest dich öfters mit deinen Freunden treffen“, sage ich zu ihm.
„Wie kommst du denn plötzlich darauf?“ ,sagt er.
Er begreift es nicht, denke ich.
„Nur so", meine ich. „Du könntest auch Sport in einem Verein treiben.“
„Ulla, was soll das? Ich bin für dich da, wenn du krank bist. Und du ...“
„Ich will nicht, dass du für mich da bist“, sage ich. „Du hast mich gefragt, was ich möchte. Das ist meine Antwort. Wenn sie dir nicht gefällt, warum hast du mich gefragt?“

Ich weiß, dass ich ungerecht bin. Aber das Dunkle in mir, zwingt mich, es zu sagen.
Zwingt mich, ihn stehen zu lassen und alleine weiter zu gehen.
„Ich werde jetzt an den Strand fahren“, sage ich. „Allein.“

Ich habe es getan.

Übermütig laufe ich über den Sand. Springe zurück, wenn die Wellen anlanden. Quietsche vor Vergnügen, weil das Wasser noch eisig ist, meine Zehen ganz weiß werden von der Kälte.

Es ist Sommeranfang. Vielleicht ist es der letzte Sommer meines Lebens.

 

Hallo Goldene Dame,

das Thema deiner Geschichte ist sehr traurig. Sie hat mich sehr bewegt zurück gelassen und plötzlich kann ich mich gar nicht mehr über die Lappalie, die mich gerade noch so sehr aufgeregt hat, ärgern.
Ich konnte deine Prot. sehr gut verstehen - das die Anteilnahme der anderen so sehr auf ihr lastet. Das die Trauer der anderen auf ihr Lastet. Neben der Bürde ihrer Krankheit muss sie auch noch die der Schuld tragen. Sie ist schuld, dass es ihrem Mann so schlecht geht... Sie ist schuld, dass ihre Tochter viel zu erwachsen ist.

Im Anfangsteil kommt es mir so vor als hätte die Prot. sich mehr oder weniger mit ihrem Tod abgefunden. Das habe ich an der Stelle herausgelesen, wo du schreibst, dass sie möchte dass ihr Mann etwas selbständiger wird.
Am Ende wurde meiner Theorie wiedersprochen, denn du schreibst, dass sich erst noch herausstellen wird, ob es Metastasen sind.
Ich kenne mich zwar mit dem Krankheitsverlauf nicht so gut aus, aber ich dachte immer, dass man Krebs nur in Verbindung mit diesen Metastasen hat. Sollten die jedoch noch gar nicht da sein - warum ist die Patientin sich ihres nahenden Todes so gewiss?
Womöglich habe ich das auch falsch verstanden, aber es wäre nett, wenn du mich da noch einmal aufklären könntest.

Die Sprache fand ich sehr gefühlvoll und der Geschichte angemessen.

LG
Bella

 

Hallo Goldene Dame

Ich habe die gleiche Meinung zu deiner Geschichte wie Bella.

Gruss aus der schönen Schweiz :-)
Dominik 2004

 

Liebe Bella,
Danke fürs Lesen und deine Gedanken. Tatsächlich wollte ich das Gefühl vermitteln, dass die Prot sich einerseits mit dem Tod abgefunden hat, ein Teil von ihr jedoch noch rebelliert. Sie möchte sich von Zwängen befreien, die sie, wie sie meint, abstreifen muss, um Frieden zu schließen.

Krebs ist furchtbare Krankheit, die immer wieder aufflackern kann. Bei vielen Krebserkrankungen werden zuerst die Metastasen entdeckt, weil der ursprüngliche Tumor unerkannt gestreut hat.

Danke auch dir Dominik.


Goldene Dame

 

servus G.D.,

wunderschön geschrieben, die gedanken und die haltung deiner heldin sind nachvollziehbar - für mich jedenfalls; genau so wie das unverständnis und die enttäuschung von klaus, der - ganz mann - probleme lösen möchte, die sich ihm aber vollkommen entziehen. sehr berührend fand ich auch deine beschreibungen der tochter, jenes kleine menschlein, das sich plötzlich in einer situation findet, der es gar nicht gewachsen sein kann.

und minikritik am rande: als ein wenig störend empfand ich beim lesen die vielen, vielen absätze - was war dein hintergedanke bei dieser aufbereitungsform?

lg p.

 

Hi Goldene Dame,

ich habe die erste Fassung der Geschichte damals gelesen.
Du hast sie erweitert mit dem Strandspaziergang und den scheinbar harten Worten, die dein Prot für ihren Mann hat. Das finde ich sehr gut.
Ich kann deine Prot verstehen.

Ich habe überlegt, wie ich in dieser Situation reagieren würde.
Vielleicht anders? Vielleicht auch nicht!

Aber ich glaube, dass niemand, der nicht schon einmal in dieser Situation war, auch nur erahnen kann, wie er reagiert.

Mag sein, dass deine Prot das allein sein wählt, weil sie bisher immer für ihre Familie da war. Sie muß damit rechnen, dass sie sterben kann und möchte endlich einmal ihr eigenes Leben leben, auch ohne dabei ihre Familie zu verlassen. Letztendlich, wenn es ihr dann wirklich einmal schlechter gehen wird, wird sie froh sein, Mann und Tochter um sich zu haben.
Wobei ich mir auch vorstellen kann, dass es furchtbar sein muß, das Leid der Familie zu sehen. Zu wissen, dass Hoffnung und Zuversicht fruchtlos sein werden. Denn meist weiß der Betroffene rein intuitiv, ob er leben oder sterben wird.
Ich weiß noch, dass ich bei deiner ersten Version, nicht verstehen konnte, dass der Mann seine Sachen in der Küche einfach stehen lässt.
Das sehe ich immer noch so. Selbst, wenn er den Hintergedanken dabei hätte, dass seine Frau den tägl. Rhytmus, zur Ablenkung braucht.

ihren Händen nach mir patscht
Hier vermittelst du mir den Eindruck, dass die Tochter noch ein kleines (3-5j.)
Mädchen ist.

Eine sehr einfühlsame Geschichte, die du mit klaren "tiefen" Sätzen, wunderbar geschrieben hast. :)

Für mich mal wieder ein Grund, Typische Frauendiskussionen über ein paar Pfund zu viel auf den Rippen, im Keim zu ersticken.

Vielen Dank für deine "Aufwachgeschichte"

ganz lieben Gruß, coleratio

 

Hallo journey2heaven,

Danke vielmals für dein Lob, welches natürlich mein Herz erfreut.
Zur Minikritik: Die vielen Absätze sollen die Sprunghaftigkeit der Gedanken hervorheben. Sinn: Die Tiefe der Sätze soll hervorgeboben werden, um im Fließtext nicht unterzugehen.
Aber du hast recht. Ich übertreibe es manchmal. ;)

Liebe Coleratio,

ich habe die erste Fassung der Geschichte damals gelesen.
Du hast sie erweitert mit dem Strandspaziergang und den scheinbar harten Worten, die dein Prot für ihren Mann hat.
Ja, die Geschichte hat sozusagen eine Verlängerung bekommen.

Die innere Zerrissenheit meiner Protagonistin wollte ich deutlicher machen. Sie erklären lassen, warum sie so müde, so traurig, so wütend und doch auch hoffnungsfroh ist.
Ich habe mich lange geziert, das Thema Krebs und Tod so offen mitspielen zu lassen, weil es wie du sagst:

Aber ich glaube, dass niemand, der nicht schon einmal in dieser Situation war, auch nur erahnen kann, wie er reagiert.
auch nur der Versuch ist, sich in die Rolle eines todkranken Menschen zu versetzen.
Ich weiß nicht, ob die Gefühle, die ich beschreibe tatsächlich gefühlt werden. Es ist nur dass, was ich mitfühlen konnte. :(

Ich weiß noch, dass ich bei deiner ersten Version, nicht verstehen konnte, dass der Mann seine Sachen in der Küche einfach stehen lässt.
Das sehe ich immer noch so. Selbst, wenn er den Hintergedanken dabei hätte, dass seine Frau den tägl. Rhytmus, zur Ablenkung braucht.
Es ist ein Ärgernis für die Prot, liebe coleratio, welches sie sich schönredet. Die Wirklichkeit nicht sehen will.

Zitat:
ihren Händen nach mir patscht

Hier vermittelst du mir den Eindruck, dass die Tochter noch ein kleines (3-5j.)
Mädchen ist.


Das wollte ich auch. Die Frau empfindet, die Hand ihrer Tochter so. Soll auch hier zeigen, dass sie die Wirklichkeit nicht wahrnimmt. Die Kleine ist groß!

Hab lieben Dank
Goldene Dame

 

Trauriges Thema. Ich finde du hast einen wirklich schönen Schreibstil, den du unbedingt beibehalten solltest!
Bis dann
reinsdyr

 

Hallo Goldene Dame,

Du beginnst Deine Geschichte mit einem Traum, der nächste Absatz handelt von der Realität. Interessant ist, dass sich dieser Gegensatz im zweiten Absatz wiederholt:
„Meine Tochter muss zur Schule. Sonst könnte ich liegen bleiben. ...
Im Halbschlaf kann ich meine Träume steuern.
Der erste Absatz enthält auch schon einen Gegensatz, den man im weitesten Sinne als Unterschied zwischen Surrealem und Realität auffassen kann:
„eine harte lila Sonne.
...
Will kühles Nass auf meiner Haut spüren.
Haut die brennt.“
Diese Gegensätze bauen Spannung auf, die in der Alltäglichkeit der nächsten Szene Auflösung findet. Aus, vorbei: Keine lila Sonnen, kein unentschiedenes Liegenbbleiben sondern Einbruch des Alltags. „Frühstück“, „das übliche Chaos“, „vertraute“ „Handgriffe.“

Doch geschickt baust Du in diese Normalität kleine `Unebenheiten´ ein (z.B. „„Hast du alles gepackt?“, holt mich die Frage meiner Tochter zurück.“). Dann der deutliche Schnitt durch den Ablauf des Geschehens, die Rückblende auf die Zeit, als man schon einmal „gepackt“ hatte. Jetzt wird vieles klar: Die unnatürliche (technische) lila Sonne, das Verlangen die Haut zu kühlen (kein banaler Sonnenbrandwunsch) und die psychischen Konsequenzen, die sich aus dem medizinischen Ablauf ergeben - der Wunsch nicht fremd- (krankheits) bestimmt zu sein. Selbst das Steuern der Träume ist ein Gewinn, auch jegliches Zurückgreifen auf frühere Normalität, selbst wenn es vertrautes Chaos ist.
Klar wird jetzt auch dieser Satz, der grammatikalisch zweideutig ist (auf was bezieht sich „ihn“?):
„Ich ziehe meinen Morgenmantel über die Brust. Meine Fingerspitzen entdecken ihn sofort.“
Was taugen „Vorschläge zu Veränderung meines Lebensstiles“, wenn doch nicht dieses Neue, sondern das Alte, Vertraute Garant für schöne Zeiten ist?

Treffend sind auch die aufkommenden Selbstzweifel („Mein Gott wo ist ihre Kindheit geblieben?“) im Wechsel mit der Erkenntnis der Machtlosigkeit („Ich kann es nicht greifen. Aber es greift nach mir.“).
Diese realistische Analyse der psychischen Zustände als Hintergrund für die Gefühlsäußerungen der Frau bewahrt den Text ins rein Gefühlsmäßige abzugleiten. Dieses Konzept ist auch erfolgreich, wenn die sterile Realität des Krankenhausbetriebs `klappernden Schritts´ das Leben der Frau in die Hand nimmt, ganz gleich, was sie fühlt, welchem Verlangen sie eigentlich nachgeben möchte. Sachlichkeit ist gefragt.
Dann aber auch wieder die Gefühlswelt, die Wut, weil „er rücksichtslos ist.“ Ist das nicht ungerecht, dem irgendwie helfen Wollendem gegenüber? Ja, normalerweise - aber nicht in dieser Normalität, da gibt es kein Recht, nur aufgezwungene Realität, auch ein Leben ohne die Partnerin „ein Leben ohne mich.“
Dann der Ausbruch, eigentlich ein Abstoßen am Partner, ein Überbordwerfen der Vernunft und Selbstbeobachtung, Rückfall in das Zeitalter kindlicher Geborgenheit, das man seiner Tochter so sehr gewünscht hat. Der Kreis schließt sich.
Ein gelungener Text der eine wirkliche Geschichte mit verschiedenen Handlungs- bzw. Erfahrungsebenen enthält und trotz des Ansprechens von Gefühlen nicht auf der Stufe eines Gefühlsprotokolls stehen bleibt. Die `Ungerechtigkeit´ der Frau, ihr `egoistisches´ Verhalten ist aus der beschriebenen Situation heraus nachvollziehbar, das ist eine der Stärken des Textes.

Ergänzung:

„Es ist Sommeranfang. Vielleicht ist es der letzte Sommer meines Lebens.“ - Das finde ich, sollte der Schluss sein, die `Erklärungen´ in den folgenden Sätzen sind dem Leser schon bekannt.

„Mein Gott wo ist ihre Kindheit geblieben?“ - Mein Gott - wo (oder Komma).

„Ich kann die erste Stunde ausfallen lassen“, sagt sie.
„Die Lehrer werden es verstehen.“

„Nein lieber nicht“, sage ich, obwohl es nicht stimmt.

- obwohl ich es nicht meine. („stimmt“ beurteilt den Wahrheitsgehalt einer Aussage, doch es wird nicht bezweifelt, dass die Lehrer „es verstehen“, oder? „Ausfallen lassen“ ist ein Vorschlag, nicht auf Wahrheit prüfbar).

Die ganzzeiligen Absätze könnten reduziert werden.

(Ich hatte ja auch mal eine Geschichte mit dem selben Titel, schon erstaunlich, wie unterschiedlich so ein Text bei gleicher Überschrift sein kann).

LG,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo reinsdyr,
Vielen Dank für dein Kompliment zu meinem Schreibstil :)

Hallo Woltochinon,

Ich hoffe es war nicht nur der Titel, der dich verleitet hat zu lesen. ;)
Deine Textanalyse hat mich natürlich außerordentlich erfreut. Wenn ich von dir nüchtern bescheinigt bekomme, dass meine Geschichte kein Gefühlsprotokoll ist, wachse ich :shy:

Ich habe den Schluss, wie du es vorgeschlagen hast, enden lassen. Ohne Pathos wirkt die Geschichte mehr.

Danke :)

Lieben Gruß an Euch

Goldene Dame

 

Hallo Goldene Dame,

"Ich hoffe es war nicht nur der Titel, der dich verleitet hat zu lesen. "

Mit Sicherheit nicht - reine Vergnügungssucht!
Finde es echt gut, dass man merkt, wie Du Deine Texte gestaltest, dass es Bezüge innerhalb des Textes gibt (und natürlich auch Gefühle... ;)).

LG,

tschüß... Woltochinon

 

Schwieriges thema sensibel umgesetzt - fand ich gut. Du verwendest eine schöne Bildersprache. Der Text ist teilweise fragmentarisch, teilweise ausführlicher, hat mich aber nicht gestört... wirkte viel eher wie ein schönes Stilelement. Probleme hatte ich mich dem Alter der Tochter - dass sie relativ alt sein muss, war klar, auch dass die Prot sie noch als viel jünger wahrnimmt. Aber ich bezweifle es trotzdem, dass ein pubertierendes Mädchen noch zu seiner Mutter ins Bett schlüpft... (und Wahnvorstellungen hat deine Prot ja wohl nicht) - die Figur der Marianne erschien mir also etwas zerissen zwischen dem kindlichen Erinnerungsbild und ihrem tatsächlichen Alter. Davon abgesehen jedoch eine schöne, stimmige Geschichte mit offenem Ende - ein Auszug aus dem Leben, ein kleines Eintauchen in die Welt der Prot.

 

Hallo Anea,

Vielen Dank fürs Lesen. Du hast Recht :Ein pubertierendes Mädchen schlüpft in der Regel nicht ins Bett der Mutter. Aber hier herscht eine Ausnahmesituation. Gerade, dass die Tochter nicht so ist, wie Gleichaltrige, verursacht bei der Mutter das Schuldgefühl, eine normale Kindheit der Tochter nicht zu ermöglichen. Wenn du so willst, hat die Tochter ein Rücksichtslos gezogen, weil sie mit Realität fertig werden muss: ihre Mutter ist sterbenskrank. Außerhalb der Familie merkt man diesen Kindern, die seelische Belastung kaum an.

 

Hallo Goldene Dame,

gestern erfuhr ich, dass der Mann meiner besten Freundin das Jahresende wohl nicht mehr erleben wird, da er schwer an Krebs erkrankt ist.
Ich hatte deine Geschichte schon früher gelesen und las sie nun nochmals. Schon damals war ich von deiner emotionalen Einfühlsamkeit beeindruckt. Nun, wo eine persönliche Betroffenheit da ist, empfinde ich das noch sehr viel mehr.
Es gelingt dir hervorragend, die Empfindungen deiner Prot wiederzugeben.
Der Begriff der 'Normalität' wird nie wieder so sein wie gewohnt.
Dinge nachholen, die man verpasst hat, vorbei. Wut, Resignation und Selbstzweifel wechseln.
Auch wie du den Traum eingebunden hast, gefiel mir sehr gut. Blaue Sonne- das Licht auf der Intensivstation ist auch blau, um die Keime abzutöten.
Wie gesagt, ich war beim ersten Lesen schon sehr beeindruckt und wollte es dir einfach sagen, diese Geschichte 'lebt'.

Liebe Grüße,
Jurewa

 

Hallo Jurewa,

Wie gesagt, ich war beim ersten Lesen schon sehr beeindruckt und wollte es dir einfach sagen, diese Geschichte 'lebt'.

So ein Kompliment. Danke.

Auch wenn der Anlass ein trauriger ist, meine Geschichte ein weiteres Mal zu lesen, bestätigt dein Kommentar, dass es mir gelungen ist, dir meine Prot nahe zu bringen.

Viel Kraft wünsche ich dir, deiner Freundin und ihrem Mann beizustehen.

Goldene Dame

 

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