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Der letzte Sommer
Der letzte Sommer
Ich habe einen Traum.
Darin fliege ich über den Wolken. Über mir eine harte lila Sonne. Dann und wann reißen die weißen Berge unter mir auf und ich sehe das Meer leuchten. Mich zieht es hinab. Ich will eintauchen. Will kühles Nass auf meiner Haut spüren.
Haut die brennt.
Ich wache auf. Es ist noch früh am Morgen. Ich habe noch Zeit bevor ich aufstehen muss. Meine Tochter muss zur Schule. Sonst könnte ich liegen bleiben. Den Morgen verschlafen.
Ich döse noch ein bisschen. Genieße den Augenblick. Im Halbschlaf kann ich meine Träume steuern.
Fliege durch die Wolken. Unter mir sehe ich einen Schwarm Fische. Sie springen aus dem Wasser. Ihre silbrigen Leiber blenden mich.
Ich möchte sie mir näher ansehen. Doch die Fische sind zu flink. Ihre Schuppen schillern. In allen Farben.
Die Farben explodieren hinter meinen Augenlidern, als meine Tochter zu mir ins Bett schlüpft. Ihre Beine sind eiskalt. Ich weiß, was sie sagen wird.
„Guten Morgen, Mama.“
„Guten Morgen, mein Kind.“
Sie ist ebenso trunken wie ich. Ich fühle ihre andere Schläfrigkeit, als sie an mir kuschelt, mit ihren Händen nach mir patscht und ihr Gesicht ganz nah an meines legt.
„Kannst du Frühstück machen?“, fragt sie leise.
Ich nicke, was sie nicht sehen kann, weil ihr langes Haar, wie ein Fächer über das Gesicht gefallen ist. Ich schiebe sie ein wenig von mir, wie um ihr klar zu machen, dass die Distanz ein Ja bedeutet.
Ich stehe auf. Erwarte das übliche Chaos vorzufinden, das mein Mann mir jeden Morgen in der Küche hinterlässt. Es stört mich nicht, als ich sein benutztes Geschirr einräume, den Müll in den Eimer werfe. Im Gegenteil. Die Handgriffe sind mir vertraut. Helfen mir, mich zurechtzufinden.
Während ich das Frühstück bereite, macht Marianne sich für die Schule fertig. Ich decke für uns den Tisch, obwohl ich keinen Hunger verspüre.
Ich bin immer noch müde. Mir ist kalt. Ich ziehe meinen Morgenmantel über die Brust. Meine Fingerspitzen entdecken ihn sofort. Ich denke an meinen Traum.
Vielleicht sollte ich verreisen?
„Hast du alles gepackt?“, holt mich die Frage meiner Tochter zurück.
Ich sehe, sie hat ihr neues Sommerkleid an.
„Ja, es liegt alles bereit“, antworte ich und streiche ihr über das Gesicht.
„Ich kann die erste Stunde ausfallen lassen“, sagt sie.
„Die Lehrer würden es verstehen.“
„Nein lieber nicht“, sage ich, obwohl ich es nicht meine. „Mein Taxi kommt um zehn Uhr und holt mich ab.“
Marianne steht vor mir, dreht mit den Fingern eine Strähne ihres Haares. Wie damals. Beim ersten Mal.
Ich sitze im Wartezimmer des Krankenhauses. Eigentlich weiß ich nicht, ob ich ängstlich oder wütend sein soll.
Ängstlich, weil die letzte Bestrahlung so schmerzhaft gewesen ist, dass ich nächtelang nicht schlafen konnte. Dabei hatte ich gedacht, die Chemotherapie ist am schlimmsten.
Meine Hände sind eiskalt. Meine Füße scharren über den Fußboden.
Alles noch ein Mal. Alles in mir weigert sich, die Wahrheit zu sehen. Ich möchte aufstehen aus diesem Zimmer gehen. Ich möchte diesen Knoten nicht spüren. Doch weiß ich:er ist da. Und dieses Mal ist es schrecklicher, ihn zu fühlen.
Ich sehe Klaus`Gesicht vor mir, als ich es ihm gesagt habe. Wie sein Lächeln aus seinen Gesichtszügen verschwunden ist. Jenes befreite Lächeln, als der Arzt nach Abschluss der Behandlung gemeint hat: „Alles wird gut. Wir haben rechtzeitig gehandelt.“
Ich habe es geglaubt. Auch in der Rehabilitation, als mir Vorschläge zu Veränderung meines Lebensstiles gemacht worden sind. Vieles von dem, habe ich umgesetzt. Und nun? Wofür? Ich habe die Schmerzen in meinem Arm ertragen. Bin zur Drainage gegangen. Ich bin für mich da gewesen. Habe Sport getrieben, mir Hobbys gesucht.
Ich fühle mich stark.
Das sind meine Worte gewesen.Aus einer anderen Zeit? Aus einem anderem Leben? Umsonst?
Ich sehe Marianne vor mir. Viel zu ernst für ihr Alter. Mein Gott, wo ist ihre Kindheit geblieben? In der Zeit wo ich nicht ihre Mutter sein konnte, hat sie wie selbstverständlich Rücksicht genommen. Andere Mädchen in ihrer Klasse gehen auf Partys. Sie sitzt zu Hause und lernt. Und wenn sie nicht lernt, hilft sie mir bei der Hausarbeit.
Ich will das alles nicht.
Und doch bleibe ich hier sitzen. Warte. Wie lange werde ich noch warten können? Wie viel Lebenszeit habe ich noch? Ganz dumpf in mir lauert etwas. Ich kann es nicht greifen. Aber es greift nach mir.
Es ist dunkel.
„Frau Lange?“ Ich sehe die Schwester, die meinen Namen aufgerufen hat. Sie ist neu hier, denke ich, weil ich sie vor zwei Jahren, während meiner Behandlungszyklen nie gesehen habe.
„Kommen Sie, bitte!“, sagt sie zu mir.
Ich folge ihr. Ihre Absätze klappern auf dem Gang. So untypisch, schießt es mir durch den Kopf. Ich habe den schlurfenden Gang der anderen Schwestern noch sehr gut in Erinnerung. Da ich weiß, was auf mich zukommen wird, habe ich um ein Beruhigungsmittel gebeten. Die Krankenschwester überreicht mir ein kleines Plastikglas, einem Schnapsglas sehr ähnlich. Ich trinke die rosige Flüssigkeit. Sie schmeckt angenehm. Ich muss mich ausziehen.
Langsam fährt die schmale Bahre in die Röhre hinein. Es ist eng. Aber ich bin wohlig schläfrig. Wie aus weiter Ferne höre ich die Schwester zu mir sprechen. „Denken Sie an etwas Schönes!“, sagt sie, als ich sie nicht mehr sehen kann.
Ich denke an meinen Traum von heute Morgen.
Denke an meinen Mann, den ich gestern Abend gebeten habe, heute zur Arbeit zu fahren. Denke an meine Tochter, die ich gebeten habe, mich zu wecken, damit ich ihr das Frühstück machen kann.
Denke an Normalität.
Wünsche mir alles, was ich bisher nicht gemacht habe, sofort zu erledigen. Wünsche mir, die Abitursfeier von Marianne erleben zu dürfen. Wünsche mir, mit Klaus im Orient Express zu sitzen.
Und wenn er nicht mitfahren will, werde ich alleine reisen.
Unzählige Steine prasseln herunter. Kieselsteine, die auf Blech klicken. Um mich herum ist es laut. Ich habe das Gefühl, eingeschlafen zu sein. Die Bahre fährt wieder aus. Nur langsam erkenne ich das Gesicht, das ich vor mir sehe, als ich aus der Röhre herausfahre. Ich sehe, dass Klaus nachgekommen ist. Er weint. Fragt nicht: „War es schlimm?“
Das hat er beim ersten Mal schon gefragt. Er kennt doch die Antwort, denke ich. Wie um ihn zu entschuldigen.
Aber kennt er sie wirklich? Vor zwei Jahren ist es schlimm gewesen. Heute ist es anders. Ich versuche meine Angst zu überwinden.
Ich weine nicht, weigere mich sie zu fühlen.
Wir verlassen die Radiologie. Wir müssen bis morgen auf das Ergebnis warten.
Der Blick des Arztes hat den meinen gesucht. Ich wollte ihn nicht ansehen. Hoffnung, Zuversicht, all dies habe ich schon gehört.
„Danke, dass du noch gekommen bist“, sage ich zu Klaus.
Sage es, obwohl ich spüre, es ist nicht wahr. Ich will ihn jetzt nicht bei mir haben. Seine Anteilnahme lastet auf mir. Den Weg, den ich gehen muss, werde ich alleine gehen müssen. Ich bin wütend.
Wütend, weil ich finde, dass er rücksichtslos ist. Ich finde er soll stark sein. Er soll endlich seinen Hintern bewegen und zeigen, dass er sich ein Leben ohne mich vorstellen kann.
„Wollen wir etwas essen?“ fragt er mich.
Ich winke ab.
„Klaus, bitte.“
Seine Mundwinkel verraten ihn. Nur ein bisschen schiebt er die Unterlippe vor. Zeigt mir: Ich bin zu schroff. Dennoch habe keine Lust, auf seinen Vorschlag einzugehen.
„Was möchtest du?“, fragt er in die Stille hinein. Eine Stille, die ich zwischen uns noch nie so stark empfunden habe wie jetzt.
Ich sehe seine Angst. Eine Furcht, die er mit mir teilen möchte. Aber nicht kann, weil es nicht die meine ist.
„Ich finde, du solltest dich öfters mit deinen Freunden treffen“, sage ich zu ihm.
„Wie kommst du denn plötzlich darauf?“ ,sagt er.
Er begreift es nicht, denke ich.
„Nur so", meine ich. „Du könntest auch Sport in einem Verein treiben.“
„Ulla, was soll das? Ich bin für dich da, wenn du krank bist. Und du ...“
„Ich will nicht, dass du für mich da bist“, sage ich. „Du hast mich gefragt, was ich möchte. Das ist meine Antwort. Wenn sie dir nicht gefällt, warum hast du mich gefragt?“
Ich weiß, dass ich ungerecht bin. Aber das Dunkle in mir, zwingt mich, es zu sagen.
Zwingt mich, ihn stehen zu lassen und alleine weiter zu gehen.
„Ich werde jetzt an den Strand fahren“, sage ich. „Allein.“
Ich habe es getan.
Übermütig laufe ich über den Sand. Springe zurück, wenn die Wellen anlanden. Quietsche vor Vergnügen, weil das Wasser noch eisig ist, meine Zehen ganz weiß werden von der Kälte.
Es ist Sommeranfang. Vielleicht ist es der letzte Sommer meines Lebens.