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Der letzte Tag eines Selbstmörders

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29.01.2007
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Der letzte Tag eines Selbstmörders

„Verdammte Träumerei“, murmelt er noch und tut den Schritt, den er so oft schon erwogen, ja sogar ersehnt hatte, aber erst jetzt, nach sieben Jahren wirklich durchführt: den Schritt, der alles beenden wird.

Er konnte nicht mehr genau sagen, wie lange er schon auf der Straße war. Die Jahre waren bedeutungslos für ihn geworden. Bernd vermutete eine erheblich lange Zeit dahinter.
Das Wenige, das an Erinnerungen übrig blieb, begann zu verblassen und der Rest ging in der Dunkelheit der Selbstzweifel verloren.
“Du weißt ja Bernd, wie dankbar ich dir deshalb bin?” Lou stand auf und ging.
Bernd war wieder allein. Die Einsamkeit wirkte vertraut und Bernd überlegte sich, ob man überhaupt einsam sein kann, wenn die Einsamkeit einem vertraut ist. Mag sein, dass die Flasche Rat weiß, dachte sich Bernd und nahm einen Schluck um die Nüchternheit erträglicher zu gestalten.
Eine Taschenlampe richtete sich auf ihn. „Na Freundchen, was machen wir denn mitten in der Nacht hier draußen?“ Bernd schirmte das Licht mit seiner rechten Hand ab und ordnete die fremde Stimme einem der zwei Polizisten zu. „Was geht Sie das an?“, fragte Bernd ernst.
„Pass mal auf, Freundchen, du hast hier nichts zu suchen.“
Wo denn dann?, dachte sich Bernd.
Er packte sein Rucksack und verschwand durch den Busch.


Er tritt ins Leere. Im ersten Moment zweifelt er an seiner Entscheidung, doch der Wind und die neu gewonnene Freiheit des Vergänglichen und des bevorstehenden Todes stimmen ihn um. Wie lange habe ich darauf gewartet? Wie viel soziale Fußtritte, wie viel Erniedrigungen musste ich erleiden? Das Leben ist umso schöner, je mehr es von seiner Vergänglichkeit preisgibt. Indem man die Zeit gnadenlos verschwendet spürt man das Leben, nicht der Gesellschaft, seiner Geldbörse und Karriere, nicht dem Streben nach Macht, nach Intellekt wegen erreicht man das Leben, nur wenn man mit ihm schwimmt, sich auf ihm treiben lässt, lebt man. Bernd weiß aber wohin dieser Lebensstil führt, ja das ist sogar der Grund dieses Schrittes, sozusagen das Schaumkrönchen auf dem Bier seines Lebens. Hat nicht alles darauf hingezielt, ist der Selbstmord nicht hinreichende Folge dieses Lebens, oder sogar seine Verwirklichung?


Bernd verließ das Gestrüpp und schaute sich um. Einen Moment lang blieb er stehen um sich neu zu ordnen. Er hatte in den sieben Jahren gelernt, wie wichtig die Fähigkeit der Neuordnung und dem pragmatischen Vorausdenken für einen Obdachlosen ist. Alle Gedanken geordnet entschied er sich für den Nächstliegendsten: Haus der Wanderer. Dort würde er vielleicht noch etwas zu essen bekommen und könnte sich aufwärmen.
Ein vorübergehendes Kind an der Hand seiner Mutter musterte Bernd. Es beobachtete interessiert den heruntergekommenen Mann, der dort an einer Straßenlaterne lehnte und ihm schnell zuzwinkerte. Bernd schaute in den Himmel, der neue Tag brach an. Er wusste, wie die Situation enden wird. Die Mutter, auf Bernd durch die Blicke des Kindes aufmerksam geworden, zieht es weiter, fort von dem potentiellen Sicherheitsrisiko, das da am Straßenrand steht. Sie wird das Kind zurechtweisen und ihm erklären, dass man niemals leichtfertig Vertrauen Fremden gegenüber aufbauen dürfe. Nicht einmal nach dieser langer Zeit auf der Straße hatte sich Bernd an die Art der Erniedrigung gewöhnt. Andere haben es da leichter, Lou zum Beispiel war immer arm und wird immer arm bleiben. Lou hatte sich längst damit abgefunden der untersten, dreckigsten und verdrängten Schicht der Gesellschaft anzugehören. Doch Bernds Fall war groß, einst in Reichtum lebt er jetzt in völliger Isolation. Sein Vater erzog ihn unter dem dauernden Druck des Erfolges, er hat Bernd stets eingebläut, wie die Trennlinie zwischen Gut und Böse verlief. Gut war der Reichtum, der Wohlstand und der Luxus, sowie die Macht, schlecht die Armut, Abhängigkeit und linke Utopien. So einfach war das. Bernd wurde damit in die für ihn vorherbestimmte Ecke gedrängt, er sollte die Firma seines Vaters übernehmen. Eingezwängt und unfrei, ohne jeglichen Handlungsspielraum verfiel Bernd einer Erlösung auf Zeit, während der er die Möglichkeit hatte die Realität zu verlassen und sie von außen zu beobachten: Die verbotene Bewusstseinserweiterung. Der Vater war natürlich intolerant, wer konnte schon ein schwaches Kind gebrauchen, ein Sohn der aufgrund der Droge unwiderruflich verloren war? Er warf ihn raus, und Bernd, eingeschüchtert und sich wertlos fühlend, war auf der Straße.
Das Haus der Wanderer war so alt wie die Hoffnungslosigkeit seiner Besucher und klein, wie deren Selbstwertgefühl. Bernd mochte es, weil es authentisch war und in seine Welt passte. Er hatte auf dem Weg dorthin eine Zeitung gefunden, die er sich für später aufbewahren wollte. Als er eintrat, den vertrauten Moder roch und in die bekannten Gesichter Gleichgesinnter blickte, fühlte er sich zufrieden. Die Monotonie der Stimme des Nachrichtensprechers aus dem Fernseher in der Ecke wurde gelegentlich durch das Schnarchen eines in einen Schlafsack vermummten Wesens unterbrochen. Bernd setzte sich und dachte nach.
Er hatte Lou gedeckt. Das Gericht hatte ihn, im Namen des Volkes, zu zwanzig Tagessätzen verurteilt, die zwar für Bernd geringer ausfielen, da er Obdachloser war, trotzdem nicht leicht aufzutreiben waren. Er musste den Gürtel eben noch enger schnallen. Bernd fragte sich, ob der Richter in seiner Situation anders gehandelt hätte. Er glaubte es nicht. Man sollte eher denjenigen bestrafen, der Lou in dieser Situation nicht geholfen hätte.
Aus dem Fernseher dröhnte die Stimme eines Nachrichtensprechers: „...Steuerreform angepackt. Bundesfinanzministerin Riet setzt sich für eine radikale Kürzung der Sozialausgaben ein. Dabei ...“, wieder kam in Bernd eine Welle der Wertlosigkeit hoch und seine neu gewonnene fröhliche Grundstimmung ertrank darin.


Das ist für seinen Vater, das ist für alle, die Armut als selbstverschuldet ansehen und Schwäche als untolerierbar. Bernd beugt sich diesem Klischee, der Gesellschaft und ihren Erwartungen und er macht es aus freiem Willen. Schwäche ist der neue Preis der Freiheit und Bernds Sehnsucht nach dieser könnte man auf seinen unterdrückten Freiheitsdurst in der Kindheit zurückführen. Der Wind, der stärker und stärker auf Bernds Gesicht klatscht, konfrontiert ihn mit der Realität und dem sicheren Wissen, dass der Wind in wenigen Sekunden durch harten Beton ersetzt werden wird.


Bernd saß immer noch im Haus der Wanderer. Er las die Zeitung, die er gefunden hatte. Das war immerhin eine Möglichkeit sich der kalten Realität für einen Moment zu entziehen. Als er sie durchblätterte entdeckte er einen Artikel mit dem Thema „Brauchen wir sie? Eine Abrechnung mit Sozialschmarotzern“. Seine Entscheidung war gefallen. Er machte sich auf den Weg. Die Kirche hatte einen sehr hohen Turm. Am Eingang des Turmes, der zur Besichtigung frei gegeben wurde, saß eine ältere Frau um das Eintrittsgeld in Empfang zu nehmen. Bernd lief an ihr vorbei, er hörte nicht auf die energischen Schreie der Frau. Er lief einfach weiter. Stufe um Stufe. Im Gehen fiel Bernd etwas ein. Er griff in die rechte Jackentasche und holte daraus etwas Kleingeld hervor, das er der keuchenden Frau hinter ihm übergab. Sie murmelte etwas, Bernd verstand nur einzelne Fetzen, wie „Verbrecherpack“ und „Gesindel“.


Seine Gedanken schweifen. Er ist nackt und steht auf einer Bühne, die Menschen sind gut gekleidet, hier und dort sieht man sogar einen Frack aufblitzen. Die Menge mustert ihn emotionslos, aber leicht kritisch. Er entspricht offensichtlich nicht ihren Erwartungen. Aber was haben sie erwartet? Einen Künstler, einen Unterhalter oder einen Anführer? Er ist nichts von diesem, er hat keine einzige Erwartung erfüllt, dabei sind hier tausend Menschen, tausend Erwartungen und die Anzahl der Menschen scheint sogar noch anzusteigen. Es klirrt und Bernd sieht schemenhafte Umrisse, die ihn entfernt an das Haus der Wanderer erinnern. Doch er ist kein Mensch mehr. Er blickt an sich herab und bemerkt, dass er eine Schabe ist. Woher kennt er das? Woher weiß er, dass der Mensch, der auf ihn zugeht ein Journalist ist? Vielleicht an dem Notizblock oder an dem gierigen Blick mit dem er Bernd mustert. Bernd ist für ihn nur ein Motiv, ein Gegenstand der Abschreckung. Das werden die Leser lieben. Der Journalist hebt die Kamera und noch bevor es blitzt, ist Bernd tot.

Christian Mayer

 

Hallo Zweig
und herzlich willkommen :)

Ich fang mal damit an, am Text entlang zu gehen:

Das Wenige, das an Erinnerungen übrig blieb, begann zu verblassen und der Rest ging in der Dunkelheit der Selbstzweifel verloren.

Bin mir nicht ganz sicher ob das hier ein Tempusfehler ist, müsste es nicht heißen „das an Erinnerungen übrig geblieben war" ?

Hat nicht alles darauf hingezielt, ist der Selbstmord nicht hinreichende Folge dieses Lebens, oder sogar seine Verwirklichung?

Sich treiben zu lassen und nicht gesellschaftskonform zu leben gipfellt zwangsläufig im Selbstmord? Das wage ich zu bezweifeln. :dozey:

Sie wird das Kind zurechtweisen und ihm erklären, dass man niemals leichtfertig Vertrauen Fremden gegenüber aufbauen dürfe.

Das find ich zu pauschal, die Mutter wird ihrem Kind, verständlicher Weise, raten nicht mit jedem x-beliebigen Menschen mitzugehen, aber kaum ein Problem damit haben das es Vertrauen zu Fremden aufbaut (ist ja nunmal ein fundamentaler Bestandteil allen sozialen Lebens). Ich weiß freilich was du meinst und die soziale Isolation ist hier ein wichtiger Aspekt, ich würde es aber anders formulieren bzw. ein anderes Beispiel wählen.

Doch Bernds Fall war groß, einst in Reichtum lebt er jetzt in völliger Isolation.

Ein großer Fall? Eher tief, oder? Ach ja, und noch ein Tempus-Fehler: „lebte"
(Ich glaube kein Einzelfall, diesbezüglich solltest du nochmal drüber lesen, die meiste Zeit schreibst du in der Vergangenheit, hältst es aber manchmal nicht ein und ich meine jetzt natürlich nicht die Stellen des akuten Suizids.)

Als er eintrat, den vertrauten Moder roch und in die bekannten Gesichter Gleichgesinnter blickte, fühlte er sich zufrieden.

„Gleichgesinnte" ist hier vielleicht nicht das Richtige Wort, mir scheint es geht hier wenig um Gesinnungsfragen.

Das Gericht hatte ihn, im Namen des Volkes, zu zwanzig Tagessätzen verurteilt, die zwar für Bernd geringer ausfielen, da er Obdachloser war, trotzdem nicht leicht aufzutreiben waren.

Ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, das Obdachlose ohne jegliches Einkommen zu Geldstrafen verurteilt werden, es gibt ein Minnimum, das jedem zum Leben zusteht und ich bezweifle, das er das überschreitet. Folglich würde er wohl im Knast landen oder es würde gar nichts passieren.

Schwäche ist der neue Preis der Freiheit

Nö, sehe ich nicht so :p

Als er sie durchblätterte entdeckte er einen Artikel mit dem Thema „Brauchen wir sie? Eine Abrechnung mit Sozialschmarotzern". Seine Entscheidung war gefallen.

Wie? Das war jetzt die Schlüsselschtelle? Ich find das geht so nicht, viel zu aprubt und unnachvollziehbar. :susp:

So, jetzt zum allgemeinen Teil:
Ich glaub ich werde nie so richtig verstehen warum Selbstmordstorys in diesem Forum der große Renner sind, wenn du eine Zeitlang hier regelmäßig reinschaust wirst du bemerken, das sie sehr häufig sind. Zu gute halten kann ich dieser hier, dass die Gegenüberstellung von der akuten Tat und dem Prozess wie es dazu gekommen ist, stilistisch eine gute Idee ist. Das du das ganze gesellschaftskritisch angehst ist natürlich auch ein Plus (viele schildern einfach nur ein Wrack, das sich in Selbstmitleid suhlt). Sprachlich ist die Sache ok, wenn auch noch nicht ganz fehlerfrei, ließ es sich recht flüssig lesen - ein Umstand, der keineswegs selbsverständlich ist. :Pfeif:
Das größte Defizit sehe ich in der Nachvollziehbarkeit des Protagonisten und den Umständen die zu seinem Selbstmord führen. So wie ich dich verstanden habe, ist sein Dilemma, das er ein Mensch ist, der die gesellschaftlichen Konventionen und Wertvorstellungen nicht ablegen kann, aber trotzdem verachtet (ansonsten hätte er kaum den „Aubruchversuch" aus der Familie gewagt). Ich weiß ehrlich gesagt nicht so recht, ob es eine gute Idee war deinen Prot als ehemals reichen Mann anzulegen. Das macht zwar die Härte seines Falls intensiver, aber die rein gesellschaftlichen Aspekte, wie diese mit Menschen, die nicht ihren Vorstellungen folgen, umgehen werden dadurch entschärft. Mich hätte der allgemeinere Fall mehr interessiert.
Aber gut, das ist sehr subjektiv, gravierender finde ich, dass die Situationen welche zu seinem Selbstmord führen, für mein Verständniss nicht heftig genug sind. Ich konnte keinen wirklichen Prozess erkennen, der zwangsläufig im Selbstmord enden muss und dass ist nun mal leider den Hauptanspruch, den eine, vor vornherein auf Suizid angelegte, Geschichte an sich selbst stellt.
Aus diesem Grund konnte mich die Geschichte inhaltlich nicht überzeugen, denn das tut sie nur dann, wenn ich die Verzweiflung und Ausweglosigkeit des Prots wirklich emotional verstehen kann. (Das zu erreichen ist freilich ziemlich schwer)

Dran bleiben. ;)

Gruß, Skalde.

 

Hi Skalde,
ich danke dir erstmal für deine sehr konstruktive Kritik. Ich möchte mich gar nicht so sehr rechtfertigen, weil das im Nachhinein alles sehr plausibel klingt, was du geschrieben hast. Das Problem beim Geschichtenschreiben ist (soweit ich das richtig beurteilen kann, das war meine Erste...), dass man selber die Handlungen der Personen natürlich sehr gut nachvollziehen kann, während Leser hier ohne die ideell gebliebenen Gedanken des Autors auskommen müssen.
Die Zeitfehler entstanden dadurch, dass ich die ganze Geschichte zuerst im Präsenz geschrieben habe, aber du kannst dir vorstellen, dass das wegen der inneren und äußeren Handlung nicht gepasst hat. Beim Umschreiben war ich dann wohl nicht konsequent genug.
Gibts hier echt mehrere Suicid- Geschichten? Hab mich noch gar nicht so umgeschaut.

Na ja, ich muss gehen, meine Kumpels warten.
Viele Grüsse
Christian

 

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