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Der letzte Tag

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19.07.2010
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Der letzte Tag

Ein Tag verblasst im Angesicht eines ganzen Lebens, wird zu einer Nichtigkeit, die kaum eine Bedeutung trägt. Nur wenige Tage bleiben in unserem Gedächtnis.
Ein Tag hat 24 Stunden. 1440 Minuten. 86.400 Sekunden.
So viele Augenblicke, unmöglich sie zu zählen.
Wenn einem nur noch ein Tag bleibt, was würde man tun?
Ich weiß nicht, ob morgen die Sonne wieder aufgehen wird. Vielleicht werde ich es nicht mehr erleben. Jeder Tag könnte mein Letzter sein.
Die Ärzte gaben mir drei Monate, das war vor drei Monaten und zwei Tagen. Als ich an diesem – dritten Tag über meiner Zeit – die Augen aufschlage, brennt mir die Sonne in den Augen. Für einen Augenblick weiß ich nicht mehr, wo ich bin, bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch bin. Vielleicht ist das hier schon der Himmel – diese wunderbare Wärme, die mich einhüllt, die Helligkeit, das Vogelgezwitscher – all das erscheint mir unwirklich und surreal.
Ich blinzle einige Male und richte mich dann langsam auf. Etwas rutscht meinen Körper herunter. Ich verdrehe mich, wende mich zu diesem Etwas und sehe Lars, der hinter mir liegt. Nackt. So wie er daliegt, dieser fremde, schöne Körper tut es mir leid. Tut mir die letzte Nacht leid. Bald bin ich nicht mehr hier, nicht mehr Teil dieser Welt. Wie kann man so grausam sein, jemanden in einem solchen Moment an sich zu binden.
Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, dann schlägt er die Augen auf und lächelt. Mir ist nach Weinen zumute. Ich hätte ihm wenigstens sagen sollen, was mit mir los ist.
Er streicht über meine Hüfte, malt mit seiner Handfläche Formen auf meine Hüfte und berührt vorsichtig die Narben auf meiner blassen Haut.
Seine Augen folgen seinen Taten nicht, halten meinen Blick fest und sprechen eine fremde Sprache, die ich nicht verstehen kann oder will. Langsam richtet er sich auf, streicht mir mein Haar aus dem Gesicht und küsst meine Lippen. Vielleicht ist das der letzte Kuss. Vielleicht ist das der letzte Augenblick.
Als er sich von mir löst atme ich noch, lebe noch.
„Guten Morgen.“, flüstert er mir ins Ohr. Seine Stimme klingt rau und auf eine unbestimmbare Weise vertraut.
Zum Frühstück gibt es hartes Baguette und Frischkäse, dazu Bier und Orangensaft. Die Reste von gestern. Wir sitzen am Ufer des kleinen Sees und beobachten zwei Enten, die im hohen Schilf schwimmen.
„Warum bist du gestern zu mir gekommen?“, fragt Lars irgendwann und mir fehlen die Worte.
Ich hatte gehofft, ich würde in seinen Armen einschlafen und am nächsten Morgen einfach nicht mehr aufwachen. Ein grausamer Gedanke. Ein schrecklicher Gedanke, von einer Frau, die immer gesagt hat, dass es ihr egal ist, wie sie stirbt. Aber wenn man weiß, wie lange man noch zu leben hat, ist das fast eine größere Qual, als das Sterben als Solches.
„Weil ich es wollte.“, antworte ich schließlich und schaue ihm dabei in die Augen.
Er stellt keine Fragen. Akzeptiert, dass ich nicht reden will oder es nicht kann. Warum er das tut ist mir schleierhaft. Ich musste schon immer alles sofort und ganz genau wissen. Warten war nie meine Stärke. Vielleicht geschieht es mir ganz recht, dass ich nun auf meinen Tod zu warten habe.
„Lass uns schwimmen gehen.“, sagt er nach einer Weile und steht auf. Er hält mir seine Hand entgegen und ich nehme sie.

Als die Sonne untergeht liegen wir engumschlungen am Seeufer im Gras und sehen zu, wie die Sonne hinter den Bäumen verschwindet – der Tag seinen Tod findet.
Ich warte lange genug, bis ich sicher bin, dass er eingeschlafen ist und befreie mich aus seiner Umarmung. Meine Kleider liegen als kleiner Haufen neben einem Baum. Bevor ich gehe schaue ich ihm noch etwas beim Schlafen zu – präge mir jedes Detail ein. Das Muttermal unter dem Bauchnabel, die Narbe am Arm, die langen Wimpern, das dunkle Haar.
So hatte ich mir das sterbe nie vorgestellt. Ich hatte immer gedacht ich würde bei einem Unfall sterben oder als alte Frau, wenn sich schon lange keiner mehr an mich erinnerte. Auf dem Weg nach Hause breitet sich das Stechen in meiner Brust immer weiter aus und zwingt mich zu Boden. Ich lehne mich an einen alten Baum, den ich kenne seit ich klein bin und schließe die Augen.

Daraus, daß die Sonne bisher jeden Tag aufgegangen ist, folgt logisch nicht, daß sie es morgen wieder tun wird.

- Carl Friedrich von Weizsäcker

 

Hallo Regenatage und willkommen auf kg.de

Du wagst dich an ein schweres Thema. Schwer deswegen, weil zum einen schon oft bedient, zum anderen, weil es eine immense Tiefe benötigt, um das Drama glaubhaft und damit mitfühlbar zu gestalten.*
In meinen Augen ist dir das nur an wenigen Stellen richtig geglückt. Ungeshickt finde ich den Einstieg. Da bedienst du sehr ausgetrampelte Pfade, indem du einfach die Zeit aufrechnest. Der wahre Fehlgriff liegt aber darin, in diesem allgemein gehaltenen Ton zu sprechen. "Was würde man tun?" das ist völlig unerheblich. Es geht um deine Protagonistin und die sollte sich das selbst stellen. Wenn der Autor das gut anstellt, dann rattert es beim Leser ganz von allein, was er wohl tun würde, wenn es nur noch einen Tag gäbe. Indieser Form jedoch oktroierst du das zu sehr.*

Die Passage mit Lars finde ich an sich ganz gut, allerdings verspielst du das wahre Potebtial dadurch, dass du zu sehr an der Oberfläche bleibst. Gerade ein Mensch, der jeden Moment mit dem Ableben rechnet, wird jedes noch so winzige Detail in sich aufsaugen. Damit geizt du aber sehr. Als sie ihn verlässt machst du einen Versuch, aber "die Narbe am Arm" ist wie braunes Haar ein zu großer Algeneinplatz. Da kommt die nötige Nähe nicht auf. Gleiches gilt für die Prota insgesamt. Kein Bild und kaum Ton.*
Ändern würde ich in jedem Fall auch den Titel. Der nimmt alles vorweg und nimmt der vorhersehbaren Geachichte auch ihren letzten Touch des Geheimnisvollen.*

Grüßlichst
Weltenläufer

 

Hallo Regentage und herzlich willkommen im Forum,

Dein Text hat Potential - das Du leider nicht ausschöpfst.
Die Protagonistin befindet sich in einer Situation, die ein moralisches Dilemma aufwirft, aus dem sich viel Kapital schlagen ließe. Sie hat nur noch kurz zu leben und fragt sich, wie sie diese Zeit am Besten nutzen soll, was sie noch erleben möchte, wie sie ihren Rest an Leben und ihr Sterben gestalten möchte.
Als Erzähler könntest Du die Frage aufwerfen, wie weit man in einer solchen Situation gehen kann und darf. Berechtigt einen die Tatsache, dass man nicht mehr lange leben wird, dazu, andere Leute tief zu verletzen? Hat man in Extremsituationen des Lebens absolute Narrenfreiheit, egal wer von den späteren Hinterbliebenen emotional auf der Strecke bleibt? Oder auch wenn es nicht um fragwürdige Eskapaden geht, kann und darf man sich noch jeden Wunsch erfüllen, auch wenn es für andere schmerzhafte Konsequenzen mit sich bringt?

Thematisch reißt Du das wohl an, die Geschichte bleibt aber auf dem Niveau der Schilderung eines melodramatischen Erlebnisses.

Auch frage ich mich, ob Du Dir Gedanken über die Erkrankung Deiner Protagonistin gemacht hast. Mir fällt jedenfalls keine ein, bei der die verbleibende Lebenszeit so klar für Mediziner abschätzbar ist, die sich jedoch im Äußeren des Betroffenen so wenig niederschlägt, dass die Umwelt nichts von der Ernsthaftigkeit des Zustandes bemerkt.

Spannend wäre übrigens auch, wenn die Protagonistin ihre Todesprognose nun um Jahre überlebt (so was gibts immer wieder) - und selbst mit den Konsequenzen ihrer vermeintlich letzten Handlungen umgehen muss. Aber das ist eine andere Geschichte.

LG, Pardus

 

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