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Der letzte Tanz
Sie steht ihm gegenüber, ein Kreis im Sand markiert die Tanzfläche. Ihr Blick hängt an seinem, als seien sie einmal eine Einheit gewesen.
Sein langer Zopf ist aufgelöst, honigfarben fällt das Haar auf seine gebräunten Schultern. Sie blinzelt in der Sonne, pustet dorthin, wo eigentlich lose Strähnen hängen sollten.
Es ist ein Tanz auf Leben und Tod.
„Nur zu, zeig uns, was du sie gelehrt hast! Zeigt uns eure Magie!“, hört sie. Die Menge jubelt und kreischt.
Ihr Mund lächelt ihm zu, aber ihre Augen fühlen sich an, als müssten sie bersten, wie ein Wall aus Schnee, der eine Lawine aufhalten soll. Aber eine Lawine, in der Wüste?
Er sieht sie an, ihre zarte Gestalt, die hellen Augen halten seine gefangen. Das dunkle Haar ist streng zurückgebunden. Ihre Haut wird vom Sand geschluckt, die Farben gleichen einander, ihre Lippen und die silbrigen, schwarzgetupften Kreise ihrer Augen schweben vor dem Nichts.
Sein Hals fühlt sich an, als hätte er die Wüste geatmet. Der Tanz wird es entscheiden, wer von ihnen das, was gewesen ist, in die Welt hinausträgt.
„Nur zu, zeig uns, was du sie gelehrt hast! Zeigt uns eure Magie!“, die Stimme des Schahs. Die Menge jubelt und kreischt.
Die Sonne brennt auf sie beide herab, bleicht Farbpigmente aus seinem Haar. Er hat sie seine Kunst gelehrt, und sie war eine gute Schülerin gewesen. Sie ist ihm ebenbürtig, und es hat ihm Freude gemacht, ihr all das beizubringen, was er konnte. Er weiß nicht, ob das ein Fehler gewesen war.
Sie weiß nicht, wann ihr Herz begonnen hatte, für ihn zu schlagen. Vielleicht während der endlosen Übungsstunden im Garten, wo sie sich heimlich getroffen und sich gemeinsam an der Schönheit ihres Wirkens erfreut hatten. Zwischen den sorgfältig bewässerten Rosenbeeten hatten sie viel Zeit verbracht, in der kleinen Laube, von dichten Blättern vor neugierigen Blicken geschützt.
Er war ihr Freund gewesen in einer Zeit, wo sie einen gebraucht hatte, er hatte ihr geholfen, die Zeit zu überwinden, als sie sterben wollte. Ohne ihn wäre sie – ja, sie wäre nicht dort, wo sie heute steht.
Er weiß noch, als er sie das erste Mal gesehen hat. Er war an der Reihe gewesen, hinter dem Schah zu stehen, sein Tänzer, seine Wache.
Sie hatten sie vor die Sänfte gezerrt, ein zartes Wesen, in Lumpen gehüllt, die die Peitschenstriemen nur unzureichend bedeckten. Nur ein Kind, ihre knospenden Brüste unter dem zerfetzten Gewand deutlich zu sehen.
Ihr dunkles Haar hatte das Interesse des Schahs geweckt, denn dunkelhaarige Frauen waren selten in den südlichen Landen, wo die Menschen blond und dunkelhäutig waren. Einer der Männer, die sie umstanden, hatte an den Fesseln geruckt, aber sie hatte nicht den Kopf gehoben.
Also hatte der Sklavenhändler sie mit seiner Gerte geschlagen, und als auch das nichts genützt hatte, hatte er mit der Hand ihren Kopf grob an den Haaren hochgerissen und ihr Gesicht entblößt.
Ihre Züge waren feingeschnitten, wie ein Edelstein in einer geschmolzenen und verkratzten Fassung. Die Fassung war die Gleichgültigkeit in ihren Augen und der Schmutz auf ihrem Leib.
Durch seine Fürsorge hatte sie wieder leben gelernt. Er war kaum mehr als ein Knabe gewesen, ein Knabe, dem man Schreckliches angetan hatte, so, wie man auch ihr Schreckliches angetan hatte.
Sie erinnert sich vage an Bäder und duftende Öle, an seidene Bänder, die sie an hölzerne Stäbe banden.
Als der Schah zu ihr kam, erinnerte sie sich an die Wüste, den kratzigen Sand zwischen ihren Beinen, den Schmerz. Nachdem man sie verkauft hatte, hatte man sie wieder zugenäht, geschimpft, geschlagen.
Aber dieses Mal war es anders, dieses Mal wurde sie nicht wieder versiegelt. Als sie hinterher halb besinnungslos an den seidenen Bändern hing, hörte sie Stimmen, die befahlen, sie zu pflegen. Sie wäre teuer gewesen, eine echte Jungfrau eben.
Als sie dann die Augen aufgeschlagen hatte, hatte sie in seine geblickt, Honig, von Sorge bitter gefärbt. Er hatte sie liebevoll umsorgt, bis sie aus ihrer Apathie erwachte und wieder lächelte.
Er hatte sich gefreut, als der Schah ihm befohlen hatte, für das Kind zu sorgen. Aus ihrem Schoß sickerte Blut, und als er sie dort behutsam wusch, fand er die Reste von Fäden. Er entfernte sie vorsichtig, erzählte dem Schah nichts davon. Von da an fühlte er sich für sie verantwortlich, wenn er sie nicht beschützen würde, würde es niemand tun, dachte er.
Das Kind war zur Frau geworden. Er hatte die Sehnsucht in ihrem Blick gesehen, als sie ihn beim Tanz beobachtet hatte, als er die Energien zu einem einzigen Gitter um sich herum verwob und die schlummernde Zerstörung darin in den Wüstensand leitete.
Sie hatte ihn gebeten, es ihr zu zeigen, und er hatte ihr die Bitte nicht abschlagen können. Nur deshalb waren sie jetzt hier, nur deshalb würde einer von ihnen sterben.
Seine Hände umfassen den Griff seiner schimmernden Waffe, werden sie in einem Kampf um Leben und Tod führen, so wie sie einmal in einer Nacht über ihre Haut gestrichen waren, wie verletzte Schmetterlinge, die den bunten Staub von ihren Schwingen auf ihrem Leib zurückließen. Aber sie nahmen nichts dafür entgegen, sie konnten nicht.
Sie war erschrocken gewesen, als sie gesehen hatte, was sie ihm angetan hatten. Sein Schoß war fast völlig glatt, nur eine feine Narbe auf seiner dunklen Haut zeugte davon, dass er das nicht immer gewesen war.
Aber die Schmetterlinge verstreuten Zärtlichkeit über sie. Vielleicht hatte sie da gemerkt, dass sie ihn liebte. Er war ihr Freund gewesen. Er hat sie geliebt.
Und an seinen Augen sieht sie, dass er sie noch immer liebt.
Er steht ihr gegenüber im trockenen Wüstensand, der seine Zehen umschmeichelt, und macht den Tanz bereit für sich. Leben und Tod, die Freiheit liegt direkt vor ihm. Alles, was er tun muss, ist, sie zu töten.
„Jetzt fangt schon an!“ Der Schah ist ungeduldig, klatscht in die Hände.
Sie bewegt sich im Takt zu einer Musik, die nur sie hören kann. Langsam lösen sich kleine Lichter vom Wüstensand, sammeln sich an ihren Händen, die brennenden Fächern gleich die Luft durchschneiden.
Der Kreis begrenzt den Tanz, alles außerhalb ist sicher vor dem, was hier passiert. Blaue Funken stieben, als er den Klängen der unsichtbaren Saiten folgt. Sein ganzer Körper kribbelt jetzt, seine Haut ist so aufnahmebereit, dass die Reibung der Hose an seinen Beinen Schauer über seinen Rücken jagt.
Er spürt, wie sich die Energie verdichtet, Blau flimmert vor seinen Augen, sie verschwindet hinter einer Hülle aus flirrendem Silber. Zeit wird bedeutungslos.
Er formt mit den Händen ein Schwert, legt eine glänzende Rüstung um sich, die seine Haut sanft umschmeichelt, fast, als sei sie aus Seide.
Sie spürt, wie das Kleid sich an ihren Brüsten reibt. Schauer jagen über ihren Rücken, in ihrem Schoß sammelt sich klebrige Hitze. Der Tanz ist intensiv wie noch nie, und sie spürt, dass es das letzte Mal ist.
Nichts existiert mehr. Zeit wird bedeutungslos. Der Schah und die Zuschauer verkommen zu bloßen Statisten. Nur der Tanz ist wichtig, die fließenden Energien, und nur er, der ihr gegenüber im Kreis steht.
Er rüstet sich, und sie tut es ihm gleich, umgibt sich mit einem Kokon aus dem Silber. Ihre Gedanken, ihre Hände, formen einen Speer. Aber all das ist nur Blendwerk, nicht echt. Nicht die Waffen zählen, auch, wenn sie jetzt zischend aufeinandertreffen. Das eigentlich Wichtige ist der Tanz.
Er schlägt, sie pariert mit ihrer Lanze aus Licht. Leichtfüßig umkreisen die Tänzer einander. Die leise Musik nimmt zu, bis sie laut im Kreis erschallt. Während die Ekstase des Tanzes ihn mit sich reißt, hört er ihre Stimme, sie singt.
Der Boden ist jetzt nicht mehr mit Sand bedeckt. Leuchtender Stein in Silber und Blau bedeckt ihn. Die Umgebung des Kreises verschwindet, aber er schenkt dem, was sich um ihn herum aufbaut, keine Beachtung. Er hat schon andere beobachtet, er weiß, dass die Beobachter jetzt nur noch zwei flirrende Säulen sehen, die einander umkreisen. Er und sie sind jetzt an einem anderen Ort. Aber er sieht sie straucheln. Sie hat noch nie bis zum Ende getanzt, bis zum Ende, wenn einer der Tänzer stirbt. Er sieht ihre Schwäche, die Irritation, die ihre Schritte stocken lässt, und von der Macht in sich getrieben springt er auf sie zu, schlägt mit dem Schwert nach ihr. Taumelnd pariert sie, fällt beinahe, fängt sich wieder. Er sticht nach ihr, die wilde Energie lässt Kugeln aus Feuer aus seinen Augen schießen, die auf sie zufliegen.
Als sie beginnt, das Drängen in ihrem Inneren in Worte zu fassen, verschwimmt die Umgebung. Der Boden des Kreises ist nicht mehr federnd, unter ihren weichen Sohlen fühlt sie Stein. Als ein Schritt sie in eine Drehung zwingt, sieht sie einen fremden Himmel, eine unbekannte Welt.
Weit entfernt von ihrem Kreis sieht sie einige andere, leuchtend in den Farben ihrer Tänzer. Und auch das Rund auf dem Boden unter ihnen leuchtet, die Wände werden langsam in undurchdringliche, undurchsichtige Magie getaucht.
Sie ist irritiert, spürt ihre Schritte unsicher werden, ihre Bewegungen weniger fließend. Er schlägt mit seinem leuchtenden Schwert nach ihr, sie reißt in letzter Sekunde die Lanze hoch. Der Rest seiner Beherrschung bricht, er kann nicht mehr verhindern, dass Kugeln aus Feuer aus seinen Augen springen.
Sie ist noch nicht so weit. Mehr schlecht als recht pariert sie mit einem Schild, den sie in Sekundenschnelle erschafft. Sie umkreisen sie, fliegen um die Arena, lenken sie ab. Sie kann nicht die Energie sammeln, die sie braucht, so lange sie die Feuerbälle ablenken muss.
Er lässt sie verschnaufen, gibt ihr Gelegenheit, sich zu fangen. Sie dankt ihm mit einer Handbewegung, im Takt der Musik.
Kann sich alles ändern?
Muss wirklich einer von ihnen sterben?
Kann man den Tanz nicht auch anders tanzen?
Sie lässt die Lanze fallen, löst den Schild auf, streckt ihm die Hände entgegen. Es soll kein Tanz zwischen Feinden mehr sein, sondern einer zwischen Liebenden. So lange, wie sie noch Zeit haben. Sie hat noch nie bis zum Ende getanzt. Die kribbelnde Energie in ihr lässt ihr noch Raum.
Sie tritt auf ihn zu, fasst seine Hände. Das blaue Schwert zerreißt, fällt in unzähligen Funken auf den Boden.
Er neigt den Kopf, um sie zu küssen, in der Zeit, die ihnen noch bleibt. Ihre Lippen schmecken nach Zinn, der Kuss nach Tränen, es ist der letzte.
Sein Angriff hat ihn erschöpft. Er hat genug Zeit.
Sie hat sie nicht. Von einer unstillbaren Erregung getrieben stößt sie ihn von sich, tanzt zu der Musik wie ein befreiter Dschinn.
Er vollführt eine letzte abschließende Bewegung, seine Lippen bewegen sich, und sein letzter Angriff kommt. Es sind unzählige Nadeln aus Eis, die auf sie zufliegen.
Aber sie hält ihm stand, mühelos. Es ist Eis, das kennt sie, es ist nur gefrorenes Wasser. In seinen Augen sieht sie die Verwirrung, als seine Eispfeile an ihrer silbernen Rüstung schmelzen. Aber vielleicht ist es auch Befriedigung, vielleicht wollte er sie nicht treffen. Als hätte er nicht die Worte des Schahs gehört: Der Sieger ist frei.
Sie hat die Grenze ihrer Selbstbeherrschung erreicht, der Damm bricht, und zehn Strahlen aus Silber verlassen ihre Fingerspitzen, umkreisen ihn, er sieht das Entsetzen in ihren Augen. Was hat sie gedacht, was hat sie sich ausgemalt? Dass sie beide die Linie des Zirkels sprengen würden und den Schah und seine Soldaten mit ihrer vereinten Macht hinwegfegen?
So funktioniert es nicht, so hat es nie funktioniert. Er sinkt auf die Knie, er weiß, sie hat gesiegt. Seine Rüstung löst sich auf unter dem Druck der Strahlen. Als die Tränen aus ihren Augen rollen, lächelt er.
Sie unterbricht die Musik mit ihrem Schrei. Der Kreis wird gesprengt, die Mauer in Silber und Blau versickert im Boden.
Alles ist, als hätte es nie einen Tanz gegeben. Der Schah unter seinem Baldachin, die Soldaten um ihn herum, der Sand der Wüste.
Nur unter ihr ist ein Mosaik, silberne Steinchen formen ein Muster in aggressiver Symmetrie. Im Zentrum des Musters liegt seine Leiche, die Tränen lassen das Bild verschwimmen. Es sieht aus wie ein Honigklecks, der auf flüssigem Blei schwimmt.
Sie sitzt auf einem Pferd, auf den Weg in die nördlichen Lande. Sie trägt ein Schwert und eine Rüstung, der Schah hat sie großzügig mit Wasser ausgestattet. Sie reitet durch den goldenen Sand, denkt an bitteren Honig und weiß, dass sie nie wieder Met trinken und Honig essen kann, ohne dass Tränen ihm seine Süße nehmen.
Sie gibt dem Tier die Sporen, und es fällt in einen gleichmäßigen Trab. Ihr Weg führt zu den Schneefeldern im Norden, und sie trägt ein Schwert, weil sie ihren letzten Tanz getanzt hat.