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Der Lieblingskunde

MiK

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12.03.2006
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Der Lieblingskunde

Da ist er: Adolf. Das heißt, sein Name ist nicht wirklich Adolf, oder noch besser gesagt, ich weiß gar nicht wie er heißt. Aber er sieht aus wie Adolf Hitler. Die Frisur, der kleine Schnauzer, der irre Blick in den Augen, der emotionslose Gesichtsausdruck, selbst die Malerhose passt irgendwie, wenn auch nur bedingt. „Geht denn das nicht schneller? Warum müssen Sie denn bei dem Zeug gucken, was es kostet? Bringen sie euch denn nichts bei, bevor sie euch da hin setzen? Und hör auf, mich so bescheuert anzuglotzen“, schnauzt er mich wie gewöhnlich an. „Mach endlich weiter. Verdammt, was ist das für ein scheiß Laden? Früher hat es so etwas nicht gegeben.“ Wahnsinn, selbst das r rollt er leicht über seine Zunge. Ich springe hinter meiner Kasse auf, reiße meinen rechten Arm hoch und schreie:
„Jawohl, mein Führer!“
„Was? Was soll das? Wollen Sie mich verarschen?“, fragt er.
„Jawohl, mein Führer!“
„Das ist ja eine Unverschämtheit! Machen Sie sich über mich lustig?“
„Jawohl, mein Führer!“
„Der Kunde ist König. Davon haben Sie wohl noch nichts gehört? Ich bin Kunde. Bringen Sie mir sofort den Marktführer.“
„Jawohl, mein Führer!“ Ich beuge mich zum Mikrofon, drücke den Knopf und sage: „Achtung! Achtung! Der Führer hat die Marktführung an den Kassenbereich befohlen.“ Ich sehe ihn an. Er ist ganz rot im Gesicht und schnauft. So muss Hitler ausgesehen haben, als Rommel damals in Afrika seinem Befehl nicht gefolgt war und nicht bis zum letzten Mann kämpfte. „Sofort!“, sage ich in das Mikrofon und grinse ihn an. Er wirft seine Bierflaschen auf den Boden und geht.
„Warten Sie!“, rufe ich ihm nach. „Ich will Sie noch zu meinem Lieblingskunden kühren.“ Zu spät.
Heute ist mein letzter Tag in diesem verdammten Job. Ab morgen finanziere ich mein Studium ausschließlich als freier Journalist. Also, warum soll ich meinen Abschied nicht mit ein bisschen Gonzo-Journalismus begehen? Was würde also Hunter Thompson jetzt machen? ... Nein, diese Art von Drogen sind auch heute noch schwer zu kriegen und an den Lautstärkeregler der Beschallungsanlage komme ich auch nicht ran.
Aber Musik ist gut. Seit einer Stunde habe ich einen Ohrwurm. Irgend so ein Kommerzkram. In solchen Fällen ist es immer gut einen Notfallohrwurm zu haben und was könnte an diesem Tag besser passen, als „Sympathy for the Devil“ von den Stones. Alt, aber gut, denke ich. In meiner imaginären Dukebox suche ich nach der Sechs-Minuten-Version und drücke den Play-Button.

Please, allow me to introduce myself. I'm a man of wealth and taste. I've been around for a long, long year. Stole many a man's soul and faith ...

„Guten Tag“, begrüße ich den nächsten Kunden. „Kannst du nicht antworten, du alter Suffkopp?“
„Guten Tag“, sagt er schließlich.
„Du bist doch schon das dritte Mal in meiner Schicht hier und kaufst zwei Flaschen von diesem Gebräu. Kannst du denn nicht alles mit einmal kaufen?“
„Schuldigung“, flüstert er.
„Achtundsiebzig Cent, bitte.“ Er gibt mir wortlos das Geld. „Danke. Und nimmt mal wieder ein Bad. Du stinkst!“ Er hastet zum Ausgang. „Du schaffst es nie zu meinem Lieblingskunden.“

... Pleased to meet you. Hope you guess my name. But what is puzzling you, is the nature of my game ...

Eine ältere Dame packt ihren Einkauf auf das Band. „Guten Tag, junger Mann.“ Sie lächelt mich an, beugt sich ganz nah zu mir und flüstert: „Ich habe nur zwölf Mark mit.“
„Zwölf Mark, he?“
„Ja, könnten Sie bei zwölf Mark aufhören?“
„Kein Problem.“ Ich zeige auf das Display. „Hier sehen Sie bei welchem Betrag wir gerade sind.“ Elf Euro dreiundsechzig sind erreicht, aber es sind noch drei Artikel auf dem Band.
„Können Sie das beiseite legen? Ich hole es dann morgen.“
„Geht klar.“
Sie packt ihren Einkauf ein und ich begrüße die nächste Kundin.
„Ich nehme das da auch noch“, sagt die junge Frau und zeigt auf die drei Artikel, die die Dame zuvor nicht bezahlen konnte.
„Auf Wiedersehen“, sagt die Dame.
„Warten Sie.“ Die junge Frau hält die Dame am Arm. „Ich mach das für Sie.“
„Was?“ Sie begreift nur langsam. „Nein, das müssen Sie nicht.“
„Lassen Sie gut sein. Ich weiß doch wie schmal Ihre Rente ist.“ Sie nickt mir zu. Ich ziehe die drei Artikel und ihren Einkauf über den Scanner. Dann höre ich plötzlich ein, an diesem Ort, ungewöhnliches Geräusch. Ich sehe zu der Dame. Sie weint.
„Dass es so etwas heute noch gibt“, schluchzt sie, sieht die junge Frau an, bedankt sich und läuft zum Ausgang.
„Oh nein, jetzt lässt sie auch noch die Hälfte liegen“, sagt die junge Frau. Das Portemonnaie der Dame und die drei Artikel liegen noch auf dem Kassentisch. Ich kassiere sie schnell ab, damit sie der Dame folgen kann. Sie hätte es verdient, meine Lieblingskundin zu werden, aber schon sie ist weg.
Ich höre jemanden eine Melodie pfeifen und weiß sofort wer es ist. Nein, kein Kandidat für den Lieblingskunden.

... I stuck around St. Petersburg. When I saw it was a time for a change. Killed the Czar and his ministers. Anastasia screamed in vane ...

“Herr Knof, Herr Knof, Herr Knof. Heute wieder im Stress?” Das ist der übliche Beginn seiner Konversationsbemühungen.
„Herr Mühlner, Herr Mühlner, Herr Mühlner. Sie sehen aber heute schnuckelig aus. Soll ich Ihnen den Einkauf nach Hause tragen?“ Ich ziehe meine Augenbrauen hoch, aber er sieht mich irritiert an. „Warum denn so schweigsam? Sie sind doch sonst so geschwätzig.“
„Das kann ich über Sie gar nicht sagen.“
„Was haben wir denn heute so gekauft? Hm, Rasiercreme? Sie sollten mal beim Rasieren etwas näher an die Klinge treten. Sie sehen ja immer aus wie ein Kaktus.“
„Sie mögen es wohl nicht, wenn es kratzt?“
„Belgisches Konfekt? Ich hoffe, das wollen Sie nicht alles alleine essen. Das macht Sie sonst noch runder.“
„Wie wär-“
„Wen wollen Sie denn damit bezirzen?“
„Kommen Sie doch später auf ein Stündchen vorbei.“
„Um acht habe ich Schluss.“ Er kritzelt etwas auf ein Stück Papier und schiebt es mit dem Geld für seinen Einkauf über den Kassentisch.
„Stimmt so. Bis später, mein Schöner.“
„Habe ich Grund zur Eifersucht?“, höre ich jemanden hinter mir sagen. Ich zerknülle den Zettel und werfe ihn in den Papierkorb. Dann drehe mich grinsend um. Es ist Sandra, meine Freundin. Sie versucht, ihr Lachen hinter ihrer Hand zu verbergen.
„Das war im Namen all meiner Kollegen“, rechtfertige ich mich.
„Ich wette, dass er es kaum erwarten kann, deinen süßen Hintern zu betatschen.“
„Du bist eifersüchtig.“
„Nein, mein Schatz, das war eben sehr gut. Ich wette, der Fleischer erhebt dich in den Heldenstand, wenn er davon erfährt.“
„Rächer der Belästigten im Einzelhandel. Ja, das gefällt mir gut.“
„Aber was ist mit denen, die deine Kolleginnen pausenlos anbaggern?“
„Mal sehen, was ich heute noch tun kann.“
„Und fragst auch immer hübsch die Leute, ob sie die Treuepunkte sammeln?“
„Natürlich.“
Sie küsst mich auf den Mund und verschwindet lachend zwischen den Regalen.

... Just as every cop is a criminal and all the sinners saints. As heads is tails. Just call me Lucifer. I'm in need of some restraint ...

“Adolf!”, rufe ich, als er wieder den Markt betritt. Mit einem Stahlrohr? Er kommt auf mich zu und holt zum Schlag aus. Was würde Doctor Thompson jetzt tun? - Ducken! Das Rohr saust über meinen Kopf und schlägt in die Tastatur der Kasse ein. Ich ziehe es vor, die Kabine auf allen Vieren zu verlassen.
„Bleib hier, du feiges Schwein!“
„Das ist kein Grund, die Führung über sich selbst zu verlieren.“

... I rode a tank. Held a general's rank. When the blitzkrieg raged and the bodies stank ...

Ich versuche ins Marktinnere zu flüchten. Er schneidet mir den Weg ab und verfehlt mich wieder nur knapp. Dafür zerlegt er das Regal mit der Quengelware. Ich entreiße einer Kundin den Einkaufswagen und ramme ihn Adolf in die Seite. Er strauchelt und reißt im Fallen ein Regal an der Nachbarkasse mit sich zu Boden. Ich will in den hinteren Teil des Marktes zum Fleischstand. Der Fleischer wird ein Werkzeug haben, dass Adolf zur Besinnung bringt. Aber ein heftiger Schmerz im Rücken reißt mich von meinen Füßen und in ein Regal mit Damenhygieneartikeln. Ich krümme mich auf dem Boden.
„Was ist? Sind dir die Sprüche ausgegangen?“ In der Tat will mir auf einmal nichts witziges mehr einfallen. Er tritt mir mit seinen Arbeitsschuhen in die Seite. „Was ist los? Hältst wohl nichts aus? Früher wurden solche wie du einfach aussortiert.“ Ich versuche aufzustehen. Er schlägt mich mit dem Stahlrohr wieder zu Boden. „Diese Weiberarbeit hier hat dich wohl verweichlicht?“ Ich versuche mich am Regal hoch zu ziehen. Wieder streckt er mich mit dem Stahlrohr zu Boden. Dieses Mal kann ich das Knacken einer meiner Rippen hören. Ich rolle mich auf den Rücken und lache, obwohl das den Schmerz noch zu verstärken scheint. „Was ist so lustig?“, will er wissen.
„Hiermit ernenne ich dich, Adolf Hitler, zu meinem Lieblingskunden.“
„Was?“ Er tritt mir gegen den Oberschenkel. „Willst du mich verarschen?“
„Jawohl. Mein Führer.“ Ich lache weiter. „Das ist so gonzo.“

... So, if you meet me, have some courtesy. Have some sympathy, and some taste. Use all your well-learned politesse. Or I'll lay your soul to waste, um yeah ...

“Warum lachst du?“ Er steht über mir und zielt mit einem Ende des Rohrs auf mein Gesicht.
„Weiß du, warum dich niemand ernst nimmt?“ Er zieht das Rohr zurück und beugt sich weiter zu mir herunter.
„Warum?“
„Es ist nichts persönliches.“ Ich huste und spucke etwas Blut auf den Boden. „Auch wenn ich Gefahr laufe, wie John Wayne zu klingen, aber du bist in der falschen Stadt.“
„Was soll das heißen?“
„Ganz einfach, nach zwei totalitären Staatsformen sind die Menschen gegen Tyrannen wie dich immun geworden. Sie haben gegen die Sozialisten gewonnen, ohne dass auch nur ein einziger Schuss gefallen ist. Die Staatsgewalt war ohnmächtig. Wie kämpft man gegen Kerzen, he?“
„Du hast nicht mal eine Kerze und jetzt sieh dich an, du Schwätzer. Du bist nur einer dieser studierten Klugscheißer.“
„Du kannst mich schlagen, mich töten, aber ich werde dennoch Sieger bleiben. Denn du, Adolf, erinnerst sie an das was einmal war und wogegen sie sich aufgelehnt haben. Du, der Tyrann, bist der Garant für die Freiheit. Der Grund, dafür zu kämpfen. Deshalb lache ich und deshalb ernenne ich dich zu meinem Lieblingskunden.“ Er holt erneut mit dem Rohr aus.
„Lass es fallen, oder du musst es mit uns allen aufnehmen“, sagt der Fleischer. Adolf sieht sich um und lässt das Rohr sinken. Er geht auf die Menschentraube zu. Sie machen ihm Platz.
„Ach, sagen Sie“, ich kann es mir einfach nicht verkneifen, „sammeln Sie eigentlich unsere Treuepunkte?“

 

Hallo MiK!

Ich weiß nicht. Die Geschichte hat mich echt amüsiert bis zu dem Punkt, an dem Adolf mit dem Stahlrohr kam. Da hab ich mich erwischt wie ich noch am Lachen war und dann gemerkt hab: Ups, okay, nicht mehr lachen. ;)
Es ist schon ziemlich krass was du da schreibst, aber mir hätte es als Satire vielleicht besser gefallen, auch ohne den Zeigefinger am Ende.
Ich hab mich schon während des Lesens gefragt, wie du das wohl enden lässt, ich konnte mir nämlich nix denken, auch was die Rubrik "Gesellschaft" gerechtfertigt hätte. Und das Ende hat mich dann ein bisschen enttäuscht. Der Mittelteil hat richtig Tempo und für mich zumindest war es witzig, gerade durch diese Ironie und durch die Lockerheit, die der Protagonist ausstrahlt, und das Ende hat dem Ganzen schon einen Dämper versetzt. Obwohl es passt und alles, weil ohne das Ende wäre die Geschichte wohl etwas ziel- und bedeutungslos, eine Supermarktbegebenheit, aber mein Geschmack ist es nicht, irgendwie. Schade eigentlich.

Liebe Grüße,
apfelstrudel

 

Hallo MiK
Hab mich während des Lesens bei deiner Geschichte köstlich amüsiert und musste an manchen Stellen sogar fast laut lachen. Deshalb habe ich mich auch lange Zeit gefragt, warum das Thema jetzt bei Gesellschaft eingeordnet war. Wie Apfelstrudel, will mir das Ende nicht so wirklich gefallen, es fehlt noch einmal dieser Bäng Effekt, nach irgendetwas, was vielleicht weniger moralisch, als vielmehr witzig sein sollte. Aber bis zum Ende durchwegs witzig, vielleicht überarbeitest du sie ja nochmals ;)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo ihr Lieben,

Danke für lesen und kommentieren erst einmal. Die Kritik ist berechtigt und am Ende gefeilt. Ich weiß aber nicht, ob es witzig ist.

@ Are-Efren: Schöne Metapher, oder ist es eine Allegorie? Egal. Ja, es sollte noch eine Supermarktgeschichte werden. Aber sie sollte nicht so werden wie die erste. Die Geschichten haben nur den Ort gemeinsam.

@ apfelstrudel: Danke fürs lachen und krass finden, denn das ist die Absicht einer Gonzo-Geschichte. Was die "Gesellschaft" betrifft, war ich mir auch nicht sicher. Ich fand aber, dass hier der beste Platz dafür ist.

@ Q.E.D.: Nur fast laut gelacht? Naja, immerhin. ;)

Ciao

MiK

 

Hallo, MiK! Da bleibt mir doch schon das Lachen im Halse stecken, und am Ende denke ich: Eine tolle Geschichte, voller verrückter,couragierter, humorvoller Möglichkeiten, die ein Supermarkt bietet, wenn man seinen letzten Tag dort hat...doch das der Gute noch sooo viel Humor aufbringt nach den Stahlrohrschlägen, und das Adolf einfach so rausmarschiert, erscheint mir unmöglich. Der Fleischer hätte ihn doch zumindest verkloppt, oder?
LG,
Jutta

 

Hey Miky

“Herr Knof, Herr Knof, Herr Knof. Heute wieder im Stress?” Das ist der übliche Beginn seiner Konversationsbemühungen.
„Herr Mühlner, Herr Mühlner, Herr Mühlner. Sie sehen aber heute schnuckelig aus. Soll ich Ihnen den Einkauf nach Hause tragen?
:D

Diese Supermarkt-Geschichte ist dir gelungen. Liest sich flüssig und locker. Die Stimmung ist angenehm, der Leser am grinsen, und die Figuren gut ausgearbeitet. Du hast also dein Versprechen gehalten. ;)

Aber bleiben wir mal auf dem Teppich, das Ende ist nämlich grausig. Das geht echt überhaupt nicht. Zuviel Dramatik, zu effektheischend, zu blutig, das geht, finde ich, in eine falsche Richtung. Ich könnte dir aber jetzt auch nicht sagen, wie man es besser machen könnte. Ich sage nur, dass das Ende dem Anfang nicht gerecht wird.

Fazit: Schöne Idee, lustig umgesetzt, gegen Ende läuft etwas schief.

JoBlack

 

@Jutta: Wahrscheinlich hab ich in meiner Jugend zu viele Bruce Willis Filme gesehen. ;)
@Jo: Ich denke, ich hab ganz sicher zu viele Bruce Willis Filme gesehen. :D
Danke euch beiden fürs lesen und kritteln. Die nächste Geschichte wird komplett lustig und spielt nicht in einem Supermarkt.

 

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