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Der Lottoschein
Der Lottoschein
Samstagmorgen, acht Uhr, verschlafen sitzt Werner am Frühstückstisch und schlürft müde seinen Kaffee. Wie jeden Samstag eben! Vor ihm auf dem Tisch der Lottoschein. Um halb neun macht der Laden an der Ecke auf, Werner ist fast immer der erste Kunde. Meistens jedenfalls. Frisch geduscht, duftend nach dem After Shave, welches seine Frau Arlette ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat, hört sich Werner noch kurz die Wettervorhersage im Radio an. Dann macht er sich bereit. Jacke über, Schuhe an, Kontrollblick in den Spiegel, perfekto! Leise geht er aus der Wohnung, Arlette schläft nämlich noch. Das Treppenhaus hinab, auf dem Bürgersteig entlang, so schreitet Werner seines Weges.
Das Schaufenster der Lottoannahmestelle ist schon hell erleuchtet. Routiniert eingetreten, Lottoschein auf den Tresen, Euros aus der Geldbörse kramen, passend bezahlen, Werner hat gute Laune, denn alles läuft wie immer. Die Zahlen auf dem Scheinchen sind immer die gleichen. Hochzeitstag, Geburtstage, Anzahl der Hühneraugen, Strafzettel während einer halben Führerscheinperiode, Abmahnungen, etc..
Entgegen der sonstigen Regelmäßigkeit legt Werner seinen Schein heute nicht auf das Sideboard, denn Arlette hat Einmachgläser darauf gestellt. Er legt ihn in die Küche neben den Karton Altpapier, weil ihm kein besserer Platz einfällt. Später möchte er ihn aber auf jeden Fall sicherer verwahren. Man kann eben nie wissen.
Des Weiteren verläuft dieser Tag ähnlich wie die bisherigen Samstag, und die, die noch folgen werden.
Gemeinsames Frühstück, Wochenendeinkauf, Autowaschen, Rasenmähen, und so weiter und so gut, pardon, sofort.
Punkt neunzehn Uhr nimmt Werner seine Samstagabendposition auf seinem Fernsehsessel ein. Chips und Malzbier stehen auf dem Tisch. „Wie es sich gehört!“, Werner ist zufrieden.
Arlette ist aus, wie jeden Samstag mit ihren Freundinnen zum Bridge verabredet.
Natürlich läuft der Flimmerkasten, die wohlbekannt nette Dame, die Bälle rollen, die erste Zahl steht fest. Hat er! Die zweite Kugel rollt in den Auffangtrichter und zeigt die nächste, auch die hat er! „Mal wieder ein Dreier oder sogar Vierer?“ Wieder ein Treffer! Und noch einer? Ungläubig starrt Werner auf die Mattscheibe, ein Schauer läuft ihm den Rücken hinunter. Fast wie im Trance nimmt der die letzten Zahlen wahr und kann es absolut nicht fassen! Alle Zahlen stimmen mit den seinen überein.
Geschlagene zehn Minuten sitzt Werner und guckt wie ein Gockel, wenn es donnert. Fassungslos, sprachlos und völlig fertig wagt er kaum zu atmen.
Weitere zehn Minuten vergehen. Langsam müht sich Werner aus seinem Sessel und wankt in die Küche. Er will das nun wertvolle Stück Papier holen. Erwartungsvoll schaut er auf die Stelle, wo er heute Morgen den Schein abgelegt hat.
Leere!!!!! Kein Schein, kein Papier, kein Krümel. Der Karton mit Altpapier steht ausgeleert daneben.
„Oh Graus!“, Werner kann es gar nicht glauben, „Arlette muss das Altpapier heute entsorgt haben! Und bestimmt“, ihm stockt völlig der Atem, “hat sie den Schein unbeabsichtigt oben drauf gelegt!“ Panik erfasst jede Zelle seines Körpers. Hastig streift er die Hausschuhe über und hetzt aus der Wohnungstüre, das Treppenhaus hinunter, zur Haustüre hinaus und hin zur blauen Altpapiertonne. Mit zitternden Händen reißt er den Deckel nach oben und starrt hektisch in ihr Inneres. Nichts von einem Lottoschein zu sehen. „Scheiße!“ Wild vor Wut und Panik wühlt er sich durch die ersten Papierschichten, aber nichts zu sehen. Dann stülpt er die gesamte Tonne um, wahnsinnige Kräfte hat er auf einmal entwickelt. Der Inhalt fällt abrupt auf das Pflaster und breitet sich über einen Meter als Haufen aus. Auf allen Vieren durchjagt Werner die Papiere, Kartons, Zeitungen und Zettel. Nichts! Nichts! Nichts?
„Suchen Sie was?“, Frau Bergmann von oben steht neben Werner und wundert sich über das seltsame Verhalten ihres Nachbarn. „Meine Frau hat was Wichtiges versehentlich weggeschmissen.“ Mehr kann und will Werner jetzt nicht sagen.
„Die Tonne ist doch heute Vormittag erst geleert worden, danach habe ich jede Menge aus meinem Keller hinein geworfen, denn vorher war sie einfach zu voll.“
Völlig entsetzt schaut Werner auf den Berg von Altpapier und kann seine Wut und Verzweiflung kaum zügeln. Ohne auf Frau Bergmann weiter zu achten rennt er zu seinem Auto, stürzt sich hinein, lässt den Motor an und fährt mit quietschenden Reifen los.
Wohin?
Natürlich zur Mülldeponie!
Dort angekommen fragt sich Werner durch, bis er den Bereich erfährt, den die entsprechenden Müllfahrzeuge anfahren. Ein schier unüberwindlicher riesiger Mammut von Müllberg. Immer noch in Hausschuhen fängt Werner wie ein Irrer an, sich durch ihn hindurch zu wühlen. Fast drei volle Stunden geht das so. Neben tausenden Papierfetzen übernetzt ihn Druckerschwärze von oben bis unten mit Staub und Dreck. Wie ein Schornsteinfeger sieht er nun aus.
Aber, er findet ihn nicht, den Lottoschein.
Das Ticket zum Reichtum, die Lösung all seiner Probleme, die gesicherte Zukunft, das neue schicke Auto, das schnieke Reihenhaus, die neu gewonnenen Freunde, Ansehen, Ruhm und Ehre.
Inzwischen haben sich jede Menge Stadtbedienstete eingefunden, Müllmänner, Fahrer und auch private Müllentsorger, die erstaunt den Herren beobachten, der da so in Hausschuhen, dreckig und auf allen Vieren durch den Müllberg krabbelt. Keiner weiß, was hier passiert, aber der Anblick alleine reicht völlig aus, um bei den Leuten Verwunderung und Neugierde aufkommen zu lassen.
Werner ist nun vollkommen erschöpft. Die Arme und Beine tun ihm höllisch weh. Er spürt jeden einzelnen Muskel seines Körpers. Hinzu kommt, dass er auch nicht mehr der Jüngste ist.
Wie ein Häufchen Elend sitzt er regungslos auf dem Müll und schaut wie tausend Jahrhunderte Regenwetter.
„Alles ist aus! Alles! Alles war völlig umsonst! Keine Zukunft mehr, keine Freude, alles verloren, für immer!“, Werner mag kaum noch daran denken.
Ein freundlicher Müllentsorger steht mit einem Mal neben ihm und fragt ganz besorgt: „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“
Nach nahezu zehn Minuten des resignierten Schweigens bittet Werner ihn, ihn zu seinem Auto zu helfen.
Er fährt nach Hause. Ganz mechanisch, zu keinerlei inneren Überlegung imstande. Angekommen schleppt er sich unendlich traurig und müde die Treppenstufen hinauf. Oben angekommen steht Arlette schon im Türrahmen.
Bestürzt schaut sie auf den Menschen, der wohl mal ihr Mann gewesen ist. „Werner? Bist du es?“
Ein gequältes „Ja!“ kann sich Werner noch abringen. Er tritt ein und schließt resigniert die Türe.
„Mensch Werner, ich habe mir solche Sorgen gemacht!“ Arlette rümpft die Nase, denn Werner riecht sehr streng.
„Ich habe den Lottoschein gesucht, ich mache dir keinen Vorwurf, lasse mich einfach nur duschen und dann ab ins Bett!“
„Der Lottoschein? Na, den habe ich doch auf das Sideboard gelegt, bevor ich das Altpapier weggebracht habe, damit er nicht verloren geht, mein Schatz!“