Der Mann der Tat
Er war einer derjenigen, die nicht nur von der Dorfgemeinschaft als Trottel bezeichnet und behandelt wurden, sondern der dafür auch ein medizinisches Attest hatte. Auf dieses Attest war Raffaele mächtig stolz. Er wedelte es durch die Lüfte, als handele es sich dabei um einen eben erst bestandenen Führerschein.
„Guarda! - Schau her, komm, guck doch mal!“ rief er immer wieder und zeigte es jedem, von dem er meinte, dass es ihn interessieren könnte.
Ich weiß nicht, ob er sich wirklich nicht bewusst war, was in diesem Schrieb stand; ich weiß nur, dass Raffaele ziemlich gerissen sein konnte und dass es ihm Spaß machte, die anderen Hops zu nehmen. Nichts anderes hatte er schließlich von ihnen gelernt.
Als ich in jenes Dorf kam, war Raffaele schon eine schillernde Figur in der Gemeinde und Garant für immer wieder neue, unvorhersehbare Ereignisse.
Meistens hatten alle ihren Spaß mit ihm. Aber er konnte auch anders. Dann stand er brüllend morgens, mittags, abends oder mitten in der Nacht splitternackt auf seinem Romeo-und-Julia-Balkon und schmiss alles über die Brüstung auf die Straße, was in seiner Wohnung nicht niet- oder nagelfest war.
Er hatte keine Zähne mehr im Mund, sprach nur in heftigstem ligurischen Dialekt, lachte meistens während er sprach und war alles in allem nahezu unverständlich. Niemanden störte das.
Raffaele war kein Mensch vieler Worte - er war ein Mann der Tat.
Wie so oft saß ich mit meinen Kindern am Meer. Es war August. Der Strand war brechend voll.
Mir war langweilig; die Hitze quälte; das Gedudel von zig verschiedenen Melodien, die aus zig Radios dröhnten, nervte ebenso wie die Kinderstreitereien und das Gekreische der Mütter, die meinten, der Wert einer Erziehung zeige sich in der Lautstärke, mit der diese vermittelt wurde.
Ich wollte gerade zum Heimgang blasen, da sah ich, wie Raffaele sich von Weitem näherte.
Auf Badeschlappen und nur mit einem weiblichen, feuerroten Spitzentanga bekleidet schritt er gemächlich über die Mole und reckte wohlgelaunt die behaarte Brust über die gewaltige Rundung seines Bauches, der das Vorderteil des Tangas beinahe verdeckte.
Ein Ruck ging durch die Menge der dort im Schatten sitzenden Gesellschaft. Alte Frauen bekreuzigten sich. Junge Frauen kicherten oder wandten sich angewidert ab. Männer empörten sich oder feixten. Raffaele schritt von all dem unberührt fröhlich pfeifend voran, erreichte die Stufen, die von der Mole hinunter zum Strand führten, stieg langsam, beinahe andachtsvoll hinab, tauchte einen, dann den anderen großen Zeh ins Wasser - und ließ sich dann mit seinem gesamten Körpergewicht und einem wohligen Aufschrei ins Nasse fallen. - Platsch!
Da lag er nun, in der Umarmung der Wellen, auf dem Rücken. Prustete und schnaubte, wackelte mit den Füßen, trällerte und pfiff und rief: „Che beeeeello! - Wie schöööön!“ . Immer wieder.
Ein Inbild des friedvollen Genusses, der Wonne, des Glücks - und prompt war da wieder eine, die nach den Carabinieri schrie. Sie rannte zu den Badeaufsehern und beschwerte sich über diesen „Scandalo!!“.
Die Badewärter waren Einheimische. Sie kannten Raffaele. Sie feixten. Die Signora geriet außer sich. Sie lamentierte weiter und lautstark in die Runde und bald hatte sie einige Mitstreiter gefunden.
Gemeinsamkeit macht stark und als sie androhten, dieses Strandabteil zu verlassen, wenn nicht sofort etwas gegen den „Wüstling“ unternommen werden würde, da sahen die Badeaufseher ihren Verdienst schwinden und sich somit genötigt, die Polizei zu rufen.
Raffaele planschte derweil fröhlich weiter in seiner großen Wanne.
Es dauerte gut eine halbe Stunde, ehe die beiden Dorfpolizisten anrückten.
Auf dem Weg von der Promenade zum Ufer schwappte der heiße Sand in ihre geschlossenen Schuhe. Auf den Hemden machten sich schnell Schweißflecken breit. Beim Badewärter angekommen zog der eine seine Uniformkappe vom Kopf und fuhr sich mit der Hand durch die total verklebten Haare.
„E allora, Giorgio“, sagte er schlapp zum Bademeister, „wo brennt´s denn?“
Sofort fiel die Signora aufgebracht über ihn her, palaverte wild gestikulierend auf ihn ein, steigerte sich an ihren eigenen Worten immer weiter in Hysterie und verlangte endlich „im Namen aller“, dass „jenes Individuum“ aus dem Wasser und vom Strand zu entfernen sei.
Marcello, der Carabiniere, wandte sich um, betrachtete und erkannte „das Individuum“, fuhr spontan mit der Hand zur Stirn und stöhnte: „Oh nein! Raffaele … nicht schon wieder!“
Sein Kollege kicherte.
Die Signora krisch: „So tun Sie doch was!“ und Marcello bat sie höflich - sehr höflich, ja, äußerst, geradezu ungemein, um nicht zu sagen „mühsam beherrscht“ höflich - nun doch bitte auf ihr Badetuch zurück zu kehren. Das Weitere ginge sie nichts mehr an. Er werde sich darum kümmern.
Marcello atmete dreimal tief durch, dann machte er sich langsam, sehr langsam auf in Richtung Raffaele.
Auch Raffaele hatte Marcello erkannt und rief fröhlich: „Ey Marcello! Wie geht´s, Kumpel?!“
„Gut, Raffa, gut.“
„Ist dir das nicht zu heiß hier am Strand mit deiner Uniform?“
„Doch … es ist verdammt heiß.“
„Na, dann zieh sie doch aus und komm rein! Ich kann dir sagen: es ist herrlich!“ - und er drehte sich wogend auf den Bauch, plantschte, streckte den Hintern wackelnd in die Höhe, pupste lautstark - und prustete.
Marcello verdrehte die Augen.
„Los, Raffa - mach kein Scheiß. Komm raus!“
„Wieso das denn?! Es ist doch gerade soooo schön hier!“
„Ich hab dir schon 1000mal gesagt, du sollst nicht immer in Damenwäsche rumlaufen. Das gibt nur Ärger!“
„ Was denn fürn Ärger? Ich bin nicht ärgerlich. Ich bin glücklich. Es ist wunderbar hier. - Nein. Ich komm nicht raus!“
„Mensch, mach kein Quatsch!“
Raffaele versank bis zum Kinn im Wasser. Er fixierte Marcello lauernd. Seine Augen wurden schelmisch und klein: „Ho-Ho-Hoo! … Hol mich doch …!“
Marcello stöhnte, nahm erneut die Kappe ab. Strich sich wieder über Kopf und Stirn.
„Raffaele - bitte! Oder willst du, dass ich hier einen Hitzschlag bekomme?“
Raffaele schien zu überlegen, ob er das wollte. Dann fragte er: „Was krieg ich dafür?“
„Wenn du jetzt kommst, dann lass ich dich morgen früh wieder raus.“
„Jaja, das kenn ich schon. Aber … WAS krieg ich dafür??“
Marcello griff sich mit der Rechten an die Augen und erinnerte in dieser Position an Obelix und dessen fingernägelknabberndes „Gnagnagna …!“ - Dann sagte er müde: „Abendessen. Das weißt du doch.“
„Selbst aussuchen!!“
„Ok!“
„Egal, was?!“
Marcello blickte zu seinem Kollegen. Der Kollege zuckte die Schultern.
„Ja. Herrgottnochmal!“
„Oh fein!“ freute sich Raffaele und patschte in die Hände. - „Und sonst?“
Marcello verlor die Geduld. Er schnaubte.
„Und sonst?!“ wiederholte Raffaele mit verstärkter Betonung.
„OK!! Flasche Wein - aber nur eine!“
„… und auch eine Zigarre?!“
„Ja, verdammt! - Aber nur, wenn du jetzt sofort rauskommst!“
Raffaele feixte. Sein Gesicht leuchtete.
Ohne große Eile schwamm er ans Ufer, entstieg gemächlich den Fluten, winkte der Signora - die mit stocksteif aufgerichtetem Rücken alles von ihrem Badetuch aus beobachtet hatte - noch freundlich zu, hakte sich bei Marcello unter, ließ sich fröhlich „abführen“ - und war sichtlich zufrieden mit dem Verlauf dieses Tages.