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Der Mann im Bild
Wieder und wieder starrte ich auf das geöffnete Heft.
Es lag schon so lange aufgeschlagen da, dass es wieder von alleine aufklappte, wenn ich es zumachte. Das Bild von Seite 10 und den Text von Seite 11 kannte ich schon auswendig. Wieder und wieder gelesen. Mit wachsendem Unmut und Hilflosigkeit. Das Thema: Bilder in Worte übertragen. Malen Sie einen visuellen Eindruck phantasievoll aus und kleiden Sie ihn gekonnt in Worte.
Gar nicht so einfach.
Frust und ‚Ach, ich kann das sowieso nicht!’ beherrschten die Zeit, die ich für diese Aufgabe eingeplant hatte. Der Mann von Seite 10 saß die ganze Zeit schlaff auf einem Stuhl und je mehr ich grübelte, desto verlorener saß er da. Die arme Hauptfigur zu der Kurzgeschichte, die ich schreiben sollte. Nicht mal einen Namen hatte ich für ihn gefunden.
Konrad? Lothar? Horst? Konnte mich nicht entscheiden.
Die Figuren im Hintergrund, ein weißer Kittel, eine schwarze Uniform, als krasser Gegensatz zwischen Gut und Böse, zeigten sich nicht einmal. Nur Beine und ein halber Oberkörper.
Das Foto, vor mindestens 20 Jahren aufgenommen.
Ein graues altmodisches Jackett, graue Bügelfaltenhosen, gestreiftes Hemd. Konrad, Lothar oder Horst hatte schütteres, schwarzes Haar und einen Vollbart. Saß vorn übergebeugt auf seinem Stuhl. Warum? Wusste ich nicht, obwohl es mir meine Phantasie verraten sollte. Denkanstöße, wie es auf Seite 11 hieß.
Na, ja, denn noch mal von vorne. Zog die Stirn in Falten, kaute am Werbekugelschreiber der Wochenschau und ließ die Gedanken treiben. Horst, Konrad, Lothar oder wie wäre es mit Armin? Ein Justizirrtum, gequält von Arzt und Wärter? Nee, langweilig. Da, ich hab´ s! Das Bild ist eine Reihe von Bildern, die in einem alten, geheimnisumwittertem Haus gefunden wurden. Der Kittel wurde erkannt, ein Sadist aus dem Krieg!
Ne, gab´ s auch schon im Tatort neulich. Die weißen Papierknäuel häuften sich. Wenigstens in den Papierkorb treffen, dachte ich, doch die Papierbälle außerhalb siegten irgendwann.
Ach, verflixt, warum fiel mir nur nichts ein? Umfang: 250 Zeilen! Fast neun Seiten! So viel hatte ich ja noch nie geschrieben! Ne, so wurde das nichts.
Ich stand vom Schreibtisch auf, ging um den Esstisch herum, blieb vor der Standuhr aus Mooreiche stehen – das Hochzeitsgeschenk für meine Urgroßeltern anno 1920 – und beobachtete das Tannenholzpendel, das sanft hin und her schwang. Mit wuchtigen Schlägen kündigte die Uhr die nächste Stunde an. Neun Uhr abends. Dachte nach. Erfolglos.
Wieder am Schreibtisch.
Malte Kreise auf der Unterlage und beobachtete das Foto.
Warum saß er nur so gedemütigt auf diesen Stuhl? Was konnte bloß passiert sein? Ich warf wütend den Stift hin, stand ruckartig auf, dass der Stuhl hintenüber kippte, eilte in die Küche und schenkte mir zischend ein Glas Wasser ein. Schaute leer aus dem Küchenfenster, als ich es plötzlich hörte.
Jemand rief meinen Namen. Thomas. Es kam vom Flur her. Thomas.
Moment mal, ich war doch allein! Meine Freundin war mit ihrer Freundin im Kino!
Das Rufen wurde lauter, drängender. Doch nicht der Flur, es kam aus dem Esszimmer, in dem auch mein Schreibtisch stand.
Zögernd stellte ich das Glas Wasser auf den Küchentisch und schlich mich leise in den Flur. Thomas. Langsam betrat ich das Esszimmer und glaubte kaum meinen Augen zu trauen.
Die Figur von Seite 10 saß aufrecht in seinem Stuhl und sah mich direkt an! Der Kittel und die Uniform waren verschwunden.
„Na, das wird aber auch Zeit!“, fuhr mich der Bärtige an. „Wo warst du denn bloß?“
„Wer, ich?“, stammelte ich verdattert und schaute mich rasch nach allen Seiten um, doch ich war immer noch allein.
„Ja, wer denn sonst. Also, wird´ s bald? Ich hab nicht ewig Lust, hier herum zu sitzen!“
„Ehm ... was meinst du damit?“
„Na, du machst mir Spaß. Ich bin deine Hauptfigur, dein Protagonist und du lässt mich auf diesen Stuhl hier versauern. Bin schon ganz lahm gesessen.“ Der Bärtige stand auf und reckte sich, dass die Knochen knackten.
Ich sprach mit einem alten Foto! Gleich morgen, nahm ich mir vor, würde ich zum Arzt gehen und mich untersuchen lassen.
Der Fotomann schaute mich immer noch ungeduldig an. Er hatte inzwischen wieder Platz genommen, die Arme verschränkt und trommelte mit seinen rechten Fingern auf seinen linken Oberarm.
Ich beschloss, mitzuspielen.
„Ja, also, ich ... wie heißt du denn überhaupt?“
„Woher soll ich das wissen, Mann! Du bist der Autor!“, wurde ich angeschnauzt.
„Ach ja, dann nenn ich dich ... Konrad!“
Mich traf ein stechender Blick.
„Nein? Na gut, dann ... Horst!“
Das Stechen nahm zu.
„Lothar? ... Hans? ... vielleicht Robert?“
Volltreffer. Robert war gut.
„Also, Robert, wo bist du gerade?“
„Weiß nicht.“
„Schon verstanden. Du bist im Gefängnis und wirst verhört und ...“
„Im Gefängnis? Was soll das denn? Ich bin andauernd dort und will da nicht mehr hin! Lass dir gefälligst etwas anderes einfallen!“, motzte Robert, stand auf und verließ das Bild.
Ich schaute sprachlos auf den leeren Stuhl.
„Robert?“, flüsterte ich zaghaft und blickte mich schnell um.
Gott, wenn mich jemand sah.
„Komm schon, Robert. Zeig dich endlich!“
Nichts. Nur der Stuhl.
„Na schön, dann bist du eben nicht im Gefängnis. Zufrieden?“
Er lugte am linken Bildrand hervor. „Wirklich?“
„Ja, versprochen!“
Er glaubte mir, nahm wieder auf dem Stuhl Platz und schaute mich erwartungsvoll an.
„Was meintest du vorhin damit, dass du andauernd im Gefängnis bist?“, fragte ich ihn.
„Ich bin jetzt in so vielen Heften vertreten. Mich gibt´ s hundertfach, damit die angehenden Schriftsteller von mir inspiriert werden. Doch in den meisten Fällen fällt denen nichts besseres ein, als mich in einem Knast zu schreiben. Mir steht´ s bis oben hin!“
„Verstehe. Wer waren eigentlich die anderen beiden?“
Ein schiefer Blick und eine hochgezogene Braue.
Ja, ja, ich war der Autor.
Was sollte ich tun? Ich war offensichtlich dabei, den Verstand zu verlieren. Ich unterhielt mich mit einem altem Schwarzweißfoto. So weit war es schon mit mir gekommen. Verzweifelt hatte ich die vergangenen Wochen versucht, eine Idee zu entwickeln, sie auszubauen zu einer spannenden Geschichte, doch nichts war daraus entstanden.
Clustering - Methode. Nichts.
Auch der gute James N. Frey mit seinem verdammt guten Roman hatte mir nicht weiterhelfen können.
„Hallo?“, riss mich Roberts Stimme aus meinen Gedanken, „was ist denn nun?“
„Gut, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, du heißt Robert. Du sitzt auf einem Stuhl und hinter dir stehen zwei Männer, einer im weißen Kittel und der andere in einer schwarzen Uniform.“
Schwupps! Die beiden waren wieder da. Robert schaute sich verwirrt um.
„Der Raum ist weiß gestrichen und eintönig. Der Teppich ist dunkelgrau.“ Ich kaute wieder an dem Wochenschau-Kugelschreiber.
„Was steht sonst noch im Raum? Ein Tisch vielleicht? Oder ein Pult?“
Robert nickte.
„Also, ein Pult. Hält jemand eine Rede? Ein Wissenschaftler?“
Robert nickte wieder.
Moment mal, wieso nickte Robert? Woher konnte er wissen, was ich ihm alles andichten wollte? Ich fragte ihn, doch ich bekam nur ein schelmisches Grinsen zur Antwort.
„Robert! Du weißt, wie meine Geschichte laufen soll, nicht wahr?
„Ich? Nein, woher denn? Du sollst sie doch schreiben. Mir gefällt nur die Vorstellung mit dem Wissenschaftler, das ist alles?“
Ich war fassungslos. Ich sagte ihm, dass ich ihm nicht glaubte, doch er winkte nur zornig ab.
„Selbst wenn ich es wüsste,“ sagte er, „würde ich es dir nicht verraten. Du musst die Geschichte schon selbst schreiben, da hab ich keinen Einfluss darauf.“
„Du könntest mir wenigstens verraten, was andere so geschrieben haben.“, versuchte ich ihn aus der Reserve zu locken.
„Nein.“ Und dabei blieb es.
Ich seufzte. Ich hatte keine andere Wahl.
Also, wieder mal von vorne. Wie so oft.
Ich stellte mir vor, dass Robert Opfer eines durchgeknallten Wissenschaftlers sei, der an ihm irgendwelche Experimente durchführen ließ. Doch warum gerade Robert? Was hatte er Besonderes an sich?
Heftig riss ich das Stück Papier vom Block, zerknüllte es wütend und schmiss es in Richtung Papierkorb. Natürlich daneben.
Wahrscheinlich durchlebte ich gerade die viel zitierte Schreibblockade, unter der fast alle Schreiber von Zeit zu Zeit litten.
Ein schwacher Trost.
Verzweifelt sah ich Robert an, der stumm auf seinem Stuhl saß. Er war wieder allein. Die Männer im Hintergrund waren verschwunden. Meine Phantasie mochte die beiden nicht.
Was sollte ich bloß machen. Diese Aufgabe raubte mir noch den letzten Nerv.
Wieder stand ich auf und wanderte umher. Vom Ess- ins Wohnzimmer, in den Flur und von dort in das Schlafzimmer. Legte mich auf das Bett, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und starrte an die Decke.
Ein Bild, das sprechen konnte. Vielleicht sollte mir das eine Warnung sein. Oder war es ein Segen, dass meine Phantasie so reich an Vorstellungskraft sein konnte?
Zurück zum Text, von dem es nicht einmal eine Grundidee gab.
Ich hatte neulich einen Zeitungsbericht über einen spektakulären Bücherraub eines Angestellten der Kopenhagener Staatsbibliothek gelesen, der im Laufe von zehn Jahren über 3.000 wertvolle Exemplare gestohlen hatte, indem er täglich ein bis zwei Bücher in seiner abgewetzten Aktentasche mitnahm. Ob das eine Grundlage zu einer Geschichte sein konnte?
Ich seufzte tief, rappelte mich wieder hoch und schlenderte an meinem Schreibtisch zurück. Robert saß immer noch stumm auf seinem Stuhl und schaute mich nachdenklich an.
Plötzlich konnte ich seinen Anblick nicht mehr ertragen, schlug das Heft zu und legte den Duden drauf, damit es wieder nicht aufklappte. Sofort ertönte Gezeter und Geschrei aus dem Inneren des Heftes. Robert schimpfte, jammerte und flehte, ihn wieder aufzuschlagen doch teilnahmslos nahm ich es kaum wahr.
Doch auf einmal stutze ich, als Robert etwas von einem Geheimnis faselte, wie ich problemlos mit ihm als Hauptfigur eine gute Geschichte schreiben könne, so dass ich ihn wieder aufschlug.
Atemlos schaute er mich zornig an, die Haare zerzaust, das Jackett zerknautscht. Der Stuhl war umgefallen und er hatte einen Schuh verloren.
„Bist du verrückt geworden?“, fuhr er mich an, „ich wäre da drin fast erstickt!“
„Was für ein Geheimnis meinst du?“, unterbrach ich ihn.
Immer noch völlig außer Atem strich er sich die Haare glatt, zog seinen Schuh an und nahm wieder Platz.
„Du hattest übrigens Recht“, meinte er „ich kenne deine Story bereits. Bei jedem Kursteilnehmer, der mich mit dem Aufgabenheft erhält, weiß ich schon, wo seine Geschichte hinführt.“
Ich war fassungslos. Da zerbreche ich mir wochenlang den Kopf und diese kleine Papierfigur kennt schon die komplette Kurzgeschichte.
Ob er denn auch bei jeden anderem lebendig werde, fragte ich ihn doch er schüttelte den Kopf.
„Nur bei den hoffnungslosen Fällen. – Als letzte Chance, sozusagen.“, murmelte er undeutlich.
„Wie oft kam das bis jetzt vor?“
„Ehm .... Du bist der Erste.“
Na toll. Soeben wurde mein Traum von einem Schriftstellerleben über Bord gespült. Mein Selbstbewusstsein bekam einen gehörigen Knacks.
Ich holte tief Luft: „Na schön, dann erzähl mal.“
Doch dazu kam es nicht mehr. Als Robert gerade loslegen wollte, hörte ich, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und meine Freundin wieder nach Hause kam. Entsetzt blickte ich auf das Schwarzweißfoto, das sofort in seiner Ausgangsposition erstarrte.
„Und?“, erkundigte sich meine Freundin, „wie lief es bei Dir?“
„Gut.“, erwiderte ich tonlos und sackte kraftlos in mich zusammen, stellte damit ein schönes Ebenbild zur Fotografie dar.
Und so saß ich wieder an meinem Schreibtisch, kaute wieder an dem Wochenschau-Kugelschreiber und begann noch mal von vorne.