Der Mann mit der Mundharmonika
Neben dem Brunnen, dessen Wasser unermüdlich floss und kleinen Kinder von Zeit zu Zeit ein fröhliches Lachen entlockte, saß ein Vagabund und trank Bier.
Keines dieser upper class Biere, sondern ein in der Anschaffung wenige Cents kostendes Wässerchen mit wild blubbernden Bläschen und dem kaum fassbaren Beigeschmack handelsüblichen Bieres.
Der Vagabund genoss jeden Schluck, während er die Menschen betrachtete, die, mal in Form eines frisch verliebten Pärchens, mal schweigend, mal kichernd, meistens aber mit der im Gesicht lesbaren Erkenntnis, dass sie mit dem anderen so ganz und gar nichts anzufangen wussten, an ihm vorbeischlenderten, joggten, walkten, gingen.
Ein kleines Mädchen kam auf ihn zu und blieb direkt vor ihm stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, schaute ihm in die glasigen Augen und stellte ihm eine Frage, die nur ein Kind stellen würde.
„Warum sitzt du hier so alleine?“
Der Mann zog die Stirn in Falten.
Ja, gute Frage.
Sollte er diesem unschuldigen Kind erklären, dass man ihn hatte entlassen müssen, dass seine Frau ihn deshalb – und nach Jahren sich steigernder Alkohollust – hatte verlassen müssen und dass er auf die Frage hin, was genau er denn in Zukunft würde tun wollen, hatte passen müssen?
Konnte er diesem Mädchen die Bösartigkeit der Welt der Erwachsenen erklären?
Wahrscheinlich nicht.
Und wenn er es sich recht überlegte, dann war das auch nicht seine Aufgabe.
Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass die Welt, in der er lebte, eine sich selbst erklärende war.
Mit jedem Jahr, das man braucht um dem unweigerlichen Ende näher zu kommen, erfährt man etwas Neues über Erwartungshaltung und Hilfsbereitschaft dieses Konstrukts bitterster Hoffnung.
Das Mädchen lehnte sich ein Stück weit nach vorne.
„Wie heißt du denn?“, fragte es.
„Franz.“, antwortete er mit heiserer Stimme, „Und du?“
Er war es kaum mehr gewohnt zu sprechen und erst jetzt, in Anbetracht dieses Kindes, stellte er sich die Frage, ob man es wohl wieder verlernen konnte.
Das Mädchen lächelte über das ganze Gesicht, als wäre es stolz darauf ihren Namen sagen zu dürfen. Franz musste bei diesem Gedanken grinsen.
„Elena.“
„Nett dich kennenzulernen, Elena.“
Er nahm noch einen kräftigen Schluck an der Flasche aus dunklem Glas.
Sie lachte und ihr dunkles langes Haar wippte vor und zurück, fiel ihr ins Gesicht, sodass es mit jenem kindlichen Hang zur Übertreibung, beinahe theatralisch, zurechtgerückt werden musste.
„Und“, sie zog dieses Wort sehr lang, „Warum sitzt du hier Franz? Wo sind deine Freunde?“
Franz dachte dach.
Dann antwortete er: „Meine Freunde sind verreist. In Urlaub sozusagen. Ich sitze hier, weil ich gerne das Wasser fließen höre, wenn ich nachdenke.“
„Worüber denkst du denn nach?“, fragte Elena.
„Wahrscheinlich“, sagte er mehr zu sich als zu ihr, „über meine Freunde.“
„Über meine Freunde denke ich eigentlich nie nach. Ehrlich. Meistens sind sie bei mir oder ich bei denen. Wir sind jeden Morgen in der Schule zusammen und danach gehen wir eh immer raus spielen.“
„Und wo sind deine Freunde jetzt?“
Er setzte das Bier an, doch die Flasche war leer. Gedankenverloren kramte er in seiner zerschlissenen Reisetasche und förderte eine neue zutage.
„Die kommen bald. Dann spielen wir Ball oder sowas. Ich mag Verstecken ja am liebsten, aber die Susie“ Sie machte eine kurze Pause „Die Susie sagt immer Verstecken ist langweilig. Und die anderen sagen dann immer Ja und geben ihr Recht.“
Der Vagabund nickte.
Er öffnete die mit lauwarmen Bier gefüllte Flasche, setzte sie an und trank die Hälfte.
„Ich mag Verstecken.“, sagte er dann.
„Komm doch mit!“, rief Elena, „Komm mit und sag der Susie, dass du Verstecken magst. Wenn die anderen das hören, werden sie mit uns spielen wollen.“
„Das halte ich für keine gute Idee.“
„Aber ich dachte du magst das auch?“, fragte das Mädchen.
Franz erhob sich schwerfällig, er taumelte bereits ein wenig und, als er das bemerkte, setzte er sich wieder hin, trank den Rest der Flasche leer und sagte: „Ihr könnt doch hier spielen. Und ich bin Schiedsrichter.“
Das Mädchen schüttelte den Kopf, sah sich dann um und schüttelte erneut ihr langes Haar.
„Aber hier gibt es doch kaum Verstecke. Komm mit, ich zeig dir, wo wir uns immer treffen und dann kannst du immer noch Nein sagen.“
Elena hielt ihm die Hand entgegen.
Wie lange war es her, dass jemand ihm die Hand hatte reichen wollen?
Seine Finger zitterten tonlos zu einem unbekannten Takt, als er sich erhob und seine behaarte Pranke in die kleine Hand des Mädchens legte. Ihm wurde schwindelig, doch er wusste nicht, ob das nur vom Alkohol kam, oder ob da nicht ein Gefühl in seinem Innersten keimte, eines, von dem er nicht gedacht hätte, dass er dazu noch fähig wäre.
Er ging mit dem Mädchen und sie ging mit ihm.
Gemeinsam schlenderten sie den Weg entlang und als sie an einer Eisbude vorbeikamen, kratzte er tatsächlich die letzten Cents, die er noch besaß zusammen, um ihr eine Waffel gefüllt mit einer einzigen winzigen Kugel zu kaufen.
Noch nie hatte Franz gesehen, dass ein Mensch sich so sehr über eine Kleinigkeit freute.
Obwohl...
Vielleicht stimmte das ja gar nicht.
Vielleicht.
Ob die beiden tatsächlich Verstecken spielten, oder ob Franz, der vom Leben gezeichnete Vagabund, doch nur den Schiedsrichter mimte, ist mir leider nicht bekannt.
Ich weiß nur, dass sein Platz am Brunnen wenige Minuten nach seinem Verschwinden wieder besetzt war.
Ein Vagabund saß lange Zeit einfach nur da und betrachtete die Menschen.
Er trank Wein und rauchte selbstgedrehte Zigaretten.
Und als er dessen überdrüssig geworden war, weil ihn niemand bemerkte, spielte er eine traurige Melodie auf seiner verbeulten Mundharmonika.
Diese Melodei klang noch lange nach, sieben, vierzehn, einundzwanzig, ganze achtundvierzig Jahre nach diesem Tag, aber kaum Jemand nahm sie wahr.
Niemand verstand jene Töne, die allen galten und nicht nur einem.