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Der Mann
DER MANN
"Nun, beschreiben Sie den Mann doch einmal etwas genauer, Sie müssen doch wenigstens etwas behalten haben. Hatte er eine markante Nase, andere besondere Merkmale wie Narben, große Muttermale, Tattoos oder Ähnliches? Wie groß war erungefähr, welche Haarfarbe hatte er? Ich meine, Sie haben mir gerade noch erzählt, dass Sie und der Mann sich gegenseitig über längere Zeit hinweg angestarrt haben. Überlegen Sie bitte noch einmal."
Julia Kling seufzte. Der Polizist ihr gegenüber schaute sie über seinen Schreibtisch hinweg erwartungsvoll an. Vor ihm lagein halb verspeistes Sandwich, aus dem aufgrund von Überladung seitlich die Mayonaise und die Salatblätter herausquollen.
Direkt daneben dampfte ein heißer Kaffee in einem bräunlichem Pappbecher.
Julia war 29 Jahre alt, sie lebte gemeinsam mit ihrem Gatten Thomas und ihrem 8-jährigen Sohn David in einem hübschen Reienhaus, welches sich in einer amerikanisch anmutenden Straße befand. Die Stadt, in der sie lebte, Grünweil, hatte rund 15000 Einwohner und so ging es dort sehr beschaulich zu. Julia hatte schon immer in Grünweil gelebt, ebenso wie ihr Gatte Thomas und sie hatten seit jeher ein rundum sorgloses Leben geführt. Bis zu dem Tag, an dem sie das erste Mal den Mann sah.
Es war ein heißer Tag im Frühling, Julia war wie jeden Vormittag alleine zu Hause, während David in der Schule und Thomas bei der Arbeit war. An diesem Tag verließ Julia das Haus, um einkaufen zu gehen. Sie genoß die beruhigende Stille , die nur ab und zu von fröhlichem Vogelgezwitscher unterbrochen wurde. Die Sonne strahlte sanft auf ihre freiliegenden Schultern, es war warm genug, ein ärmelloses Top mit einem knielangen, sommerlich anmutenden Rock zu tragen. Sie kam langsam in Richtung der kleinen und gemütlich wirkenden Innenstadt, wo es etwas belebter wurde und begann ihre Einkäufe. Alles lief wunderbar, ohne Zwischenfälle, jeder Mensch schien aufgrund des schönen Wetters bei guter Laune zu sein, Julia ließ sich sofort davon anstecken. Dazu kam, dass sie wirklich schnell mit den Einkäufen durchkam, die Wartezeit an den Kassen betrug nie mehr als zwei Minuten.
Voll bepackt, in jeder Hand eine Einkaufstasche, machte sie sich anschließend auf den Heimweg. Trotz der Last in ihren Händen genoß Julia abermals die Stille, die Wärme und das Vogelgezwitscher, als sie in ihr Wohngebiet kam. Sie schloss leicht die Augen und träumte in Ruhe vor sich hin.
Kurz vor ihrem Haus schließlich öffnete sie die Augen wieder vollständig und schaute nach vorn. Vor ihrer Einfahrt zu der Garage, seitlich von dem Vorgarten, der ihr Haus zierte und in der Mitte von einem kleinen Weg zur Haustür unterbrochen wurde, stand ein Mann, den Julia hier noch nie gesehen hatte. Kein Wunder, dachte sie, denn er passte überhaupt nicht in das Bild dieser Gegend.
"Ich weiß nicht mehr genau, wie er aussah, ich weiß aber noch, wie ich dachte, dass er in der Gegend völlig fehl am Platze sei."
Der Polizist schaute sie weiter erwartungsvoll an, begierig auf mehr Informationen lauernd.
"Was mir besonders im Gedächtnis geblieben ist, das waren diese leblosen, grauen Augen. Kein Gefühl, einfach gar nichtswar darin zu erkennen. Keine Gemütsregung, der Mann hat nichts getan, er stand einfach nur da."
"Und er hat sie angeschaut?"
"Nein, er hat einfach nur auf das Haus gestarrt, er hat gar nicht bemerkt, dass ich gekommen bin, ich habe ihn sogar gegrüßt und er hat nicht im Geringsten reagiert. Erst als ich an der Haustür war, bewegte er leicht seinen Kopf und starrte mir mitten ins Gesicht. Da sah ich seine Augen."
"Warum meinten Sie, er sei fehl am Platze?"
"Er war irgendwie so heruntergekommen, hatte graubraune alte Klamotten an, wie ein Opa, dabei war er höchstens 40. Normalerweise laufen bei uns alle sehr gepflegt herum, immer in neuer Trendmode."
"Na, das ist doch schonmal nicht schlecht. Und jetzt erzählen Sie mir bitte genau, inwieweit Sie sich von dem Mann belästigt fühlen. Erzählen Sie einfach die ganze Geschichte, vom Anfang bis zum Ende. und warum Sie schließlich zu uns auf die Polizeistation gekommen sind."
Julia ging nun etwas langsamer, ganz geheuer war ihr der Mann nicht. Er stand bewegungslos da, die Arme seitlich herabbaumelnd und starrte ganz offensichtlich auf ihr Haus. Als Julia an ihm vorbeiging, grüßte sie ihn mit einem "Hallo!", doch der Mann starrte einfach weiter. Julia runzelte die Stirn, überlegte, ob sie stehenbleiben und abermals etwas sagen sollte, entschied sich dann aber dazu, einfach so zu tun, als sei alles ganz normal und ging über den Weg im Vorgarten zur Haustür. Dort stellte sie die Taschen ab, nahm den Haustürschlüssel aus der Tasche und drehte sich noch einmal zu dem Mann um. Dieser tat zunächst weiterhin nichts, dann bewegte er plötzlich langsam seinen Kopf und sah Julia an.
Kalte Schauer durchliefen Julias Körper, kalte graue Augen, die so hell waren, dass sie fast schon leuchteten, starrten sie an. Sonst tat der Mann weiterhin nichts, er stand abermals einfach nur da und beobachtete sie. Und das, dachte Julia, war im Grunde das eigentlich Beunruhigende, wahrscheinlich hätte sie sich wohler gefühlt, wenn der Mann sie ausgelacht oder angeschrien hätte. Das monotone Starren war einfach nur unglaublich seltsam, so seltsam, dass es heftige Angst in Julia auslöste.
Die Hand, die den Schlüssel hielt, zitterte, als sie sich umdrehte, um so schnell wie möglich die Tür aufzuschließen und ins sichere Haus zu gelangen. Noch ein kurzer Blick zurück zu dem Mann, der nicht im Geringsten auf die plötzliche Hektik reagierte, zwei schnelle Griffe nach unten zu den Taschen, dann verschwand Julia im Haus und knallte die Tür heftig hinter sich zu. Etwas außer Atem stand sie, zumindest ihrem Empfinden nach zu urteilen, mindestens eine Stunde vor der Tür, während tausend Gedanken durch ihren Kopf rasten. Wer war der Mann, was wollte er, was hatte er vor ihrem Haus verloren? Vor allem aber beschäftigten Julia seine grausamen kalten Augen. Was für ein Mensch war das bloß, der so gefühllos starren konnte?
Dann schließlich beruhigte Julia sich ein wenig, wahrscheinlich stand sie nur rund eine Minute vor der Tür. Sie überlegte kurz, was sie tun sollte und beschloss, sich in die Küche, die ein Fenster zu Vorgarten hin besaß, zu begeben. Langsam und sehr nervös, sie schlich fast schon, ging sie hinein und schritt ganz langsam auf das Fenster zu, vor dem eine weiße Gardine hing. Es kostete sie einiges an Überwindung, die Gardine hinwegzuschieben. Julia hatte große Angst vor dem Anblick, der sie erwartete. Mehrmals streckte sie die Hand nach vorne, berührte die Gardine leicht und brachte es dann doch nicht über sich, sie zur Seite zu bewegen. Nach etlichen Versuchen gelang es ihr dann schließlich aber doch. Sie zog die Gardine ruckartig zur Seite und - der Mann war fort. Nach anfänglicher Erleichterung durchströmte sie nun noch größere Panik, hatte sie die Haustür überhaupt komplett geschlossen? Ja, sie konnte sich an das Knallen errinnern. Doch waren alle Fenster verschlossen, was war mit der Hintertür zum Garten? Sie wusste es nicht. Sie eilte durch das Haus, verrammelte alles, was auch nur ansatzweise offen stand und rannte schließlich ins Wohnzimmer Richtung Garten. Die Tür war verschlossen.
Plötzlich fühlte Julia sich frei, Erleichterung und Wärme durchströmten ihren Körper. Unmittelbar danach kam sie sich völlig lächerlich vor. Der Mann hatte schließlich nur dagestanden und hatte ihr nichts getan. Er hatte im Grunde auch nicht die geringsten Anstalten dazu gemacht. Julia ließ sich auf dem mit schwarzem Leder überzogenem Sofa nieder und ließ ihre aufgewühlten Gefühle ein paar Minuten sacken. Gleich darauf beschloß sie, Thomas nichts zu erzählen, sie wollte nicht, dass er wusste, wie sie sich von solch Banalitäten so dermaßen aus der Ruhe bringen ließ.
Der spätere Nachmittag sowie der Abend wurden Julia von ihrer Familie versüßt, sie kam wieder auf andere Gedanken, konnte lachen und fühlte sich einfach rundum wohl. Dennoch, im Hinterkopf war immerzu dieses schleichende Unbehagen, das regelmäßig während manch einer Gesprächspause schlagartig Besitz von ihr ergriff. In der Nacht wurde Julia von beunruhigenden Träumen geplagt, in denen der Mann eine große Rolle spielte. Der schlimmste Traum fing damit an, dass Julia im Dunkeln durch ein scheinbar fremdes Haus ging, welches sehr spartanisch eingerichtet war, alles war von dunklem altem Holz überzogen, die Flure waren eng und so miteinander verbunden, dass sie wie ein gigantisches Labyrinth anmuteten. Unheimliche Geräusche drangen durch die fensterlosen Wände, sie hörten sich an wie die schnellen Schritte eines anderen Menschen, der ebenfalls im Haus gefangen war und einen Ausweg suchte. Julia ging immer weiter, sie hatte das Gefühl, als habe sie bereits tausend Abzweigungen passiert. Nach und nach wurde ihr bewusst, dass die Schritte des anderen Menschen sich nur fortbewegten wenn auch Julia dies tat. Auch kamen sie scheinbar immer näher. Und näher. Und näher. Irgendwann wusste sie bereits, wenn sie an die nächste Abzweigung käme, würde dahinter der Mann stehen, ihr auflauern. Und tatsächlich, als sie abbog, stand er da, er stand einfach nur da. Doch diesmal waren seine Augen weit aufgerissen, das Grau, welches die Pupillen umschloss, leuchtete mehr denn je, sein Mund war zu einer breiten, grinsenden Fratze verzogen, krumme, gelbe Zähne kamen zum Vorschein, was Julia an einen Film errinnerte, den sie einmal gesehen hatte, den mit dem Frauenmörder, der seine Opfer mit einer riesigen Axt erlegte und ein lautes wahnsinniges Lachen von sich gab, während er auf die armen Geschöpfe einschlug. Bei jedem Schlag wurde das Lachen lauter, die Axt, die pfeilschnell runtersauste, immer und immer wieder, lauter und immer lauter das Lachen. Plötzlich sprang der Mann Julia ebenso schnell wie die hinunterrasende Axt auf Julia zu, er packte ihre Arme, drehte sie ihr auf den Rücken, beförderte Julia anschließend zu Boden und drückte nun mit aller Gewalt sein Knie auf Julias Luftröhre.
Zuckend und heftig keuchend wachte Julia auf. Ihr Herz raste, ihr ganzer Körper war nass vor kaltem Angstschweiß. Sie sah zu Thomas hinüber, der weiterschlief und offensichtlich nicht das Geringste bemerkt hatte. Julia überkam das Bedürfnis, im ganzen Haus nachzuschauen, ob niemand da sei, sie ging hinunter in die Küche, nahm sich ein großes Messer und durchsuchte Zimmer für Zimmer. Nichts. Niemand war da, David und Thomas schliefen weiterhin ruhig weiter. Julia schluckte eine Beruhigungstablette und legte sich anschließend wieder neben Thomas, woraufhin sie in einen leichten, abermals von wilden Träumen durchzogenen Schlaf fiel.
Am nächsten Tag kehrte der Mann nicht wieder und auch in den drei darauffolgenden Tagen nicht. Dann jedoch, also am fünften Tag nach seinem ersten Auftauchen, kam er wieder.
Es war fast so wie beim ersten Mal, Julia, die sich über die Tage weitestgehend beruhigt hatte und so gut wie gar nicht mehr über den Vorfall nachdachte, war beim Einkaufen und auf dem Rückweg stand er wieder vorm Haus. Er hatte die gleiche Kleidung an und sah auch sonst optisch haargenau so aus wie beim ersten Aufeinandertreffen zwischen ihm und Julia. Und doch bestand ein kleiner Unterschied, der allerdings ziemlich wesentlich war. Der Mann stand unmittelbar mit dem Rücken vor der Haustür, eine Hand war erhoben und winkte Julia zu. Die grauen Augen stachen aus dem Gesicht hervor, dann öffnete er seinen Mund zu einem breiten Lächeln. Krumme, gelbe Zähne wurden offenbart.
Julia wollte schreien, Julia wollte wegrennen, doch keine dieser Vorhaben konnte sie in die Tat umsetzen. Sie war von dem Grauen, das sie erfüllte, wie gelähmt. Als sich dann noch das Grinsen zu einem Lachen ausweitete, dessen schrecklicher Klang hohl zu Julia hinüberdrang, fühlte sie sich, als würden tausend kalte Orkane in ihrem Leib ausbrechen, die Angst und die Panik ließen ihre Sinne verblassen, sie merkte nicht, wie ihr Blick immer trüber wurde, wie sie die Einkaufstaschen fallen ließ, dessen Inhalt wild durcheinander auf dem Bürgersteig verstreut wurde.
Wie im Traum gelang es Julia nun, sich umzudrehen und so schnell sie konnte, wegzulaufen. Während sie in Richtung Stadt rannte, klärte sich ihr Verstand langsam immer mehr und so kam sie schließlich zu dem Entschluss, dass es doch die beste Idee sei, zur Polizeiwache zu gehen.
Dort saß Julia nun, erschöpft und zittrig. Sie hatte gerade die komplette Geschichte wiedergegeben und wartete nun auf die Reaktion des Polizisten. Dieser machte den Eindruck, als würde er denken, vor ihm säße eine verwirrte junge Frau mit starkem Verfolgungswahn, die nicht für ganz voll zu nehmen sei. Julia wusste, was nun kommen würde, sicher eine Art Alibihandlung, die sie beruhigen und dem Polizisten die Arbeit ersparen sollte.
"Also gut, ich sag Ihnen was wir tun werden. Am besten rufen Sie jetzt Ihren Mann an, sprechen sich etwas die Sorgen von der Seele und danach fahren wir beide zu Ihnen nach Hause und schauen nach, ob der Mann noch da ist. Allerdings bin ich sicher, er wollte und will Ihnen nichts tun, er hat sich nur einen Spaß erlaubt und lacht sich gerade ins Fäustchen, dass Sie ihm auf dem Leim gegangen sind. Nicht, dass ich Ihnen das verdenke, es war richtig, zu uns zu kommen."
Das war ungefähr das, was Julia erwartet hatte, aber doch eine bessere Antwort als sie zunächst erwartet hatte. Kurz darauf sprach sie mit Thomas, der ebenso wie der Polizist nicht allzu besorgt war, aber immerhin dazu in der Lage war, seine Ruhe auf Julia zu übertragen.
Ungefähr zehn Minuten nach dem Telefonat fuhren Julia und der Polizist schließlich los. "Sagen Sie sofort Bescheid, wenn Sie den Mann irgendwo sehen.", sagte der Polizist noch zu Julia, die daraufhin kräftig Ausschau hielt, aber bis zu ihrem Haus nichts Besonderes sehen konnte außer ihre verschütteten Einkäufe. Der Mann war fort, verschwunden, unsichtbar und unentdeckt wie der Wind.
Der Polizist schaute Julia an. "Nichts gesehen?"
"Nein, er ist wohl weg.", antwortete Julia leise. Ganz behaglich war ihr immer noch nicht.
"Na, sehen Sie, der wollte sich nur wichtig machen. Passen Sie auf, ich hole jetzt eben ihre Einkaufstaschen, Sie gehen schonmal zur Haustür, schließen auf, dann komme ich zu Ihnen und gucke im Haus, ob alles in Ordnung ist. Alles klar?"
Julia antwortete mit "Ja.", was blieb ihr auch anderes übrig. Ihr ging es schon viel besser, doch so richtig ruhig war sie nicht. Sie beschloss, gleich ein heißes Bad zu nehmen, das den Stress und die Sorge etwas von ihr abfallen lassen sollte.
Der Polizist kam mit den eingeräumten Einkaufstüten und der Nachricht zur Haustür, dass nichts kaputtgegangen sei. Das interessierte Julia herzlich wenig, dennoch revidierte sie den zunächst eher nicht so guten menschlichen Eindruck, den der Polizist am Anfang auf sie gemacht hatte. Jetzt, wo sie so darüber nachdachte, fiel ihr auf, dass sie seinen Namen völlig vergessen hatte, er war einfach nur der Polizist, als gäbe es keinen Anderen. Bezogen auf Julias bisheriges Leben war das sogar die Wahrheit.
Der Polizist kam also mit ihr ins Haus, rief lautstark: "Hallo, hier ist die Polizei! Ist hier jemand?", und ging dann nach Julias Einverständnis erst durch das Erdgeschoss und dann in die obere Etage. Als Julia allein unten stand und wieder Schritte die Treppe hinunterkommen hörte, erwartete sie fast, dass anstelle des Polizisten der Mann, blutverschmiert und lachend, erscheinen würde. Doch es kam der Polizist, mit einem beruhigenden Lächeln und sagte mit einem gewissen Stolz in der Stimme, sehr proffessionell: "Alles sauber."
Diese Worte, auch wenn sie etwas albern waren, gaben Julia Mut und Sicherheit und als sie sich bedankte, kam dieser Dank wirklich von Herzen. Der Polizist versprach, er würde sich demnächst noch einmal melden, um die Lage zu checken und gab die Anweisung, Julia solle sich bei der geringsten Belästigung des Mannes sofort bei der Polizei melden.
Schließlich ging der Polizist und Julia war allein im Haus. Thomas würde erst abends wiederkommen, David in rund zwei Stunden. Ihm würden sie nichts erzählen, darauf hatten sich Julia und Thomas geeinigt. Also ging Julia nach oben ins Badezimmer und ließ heißes Wasser in die Badewanne ein. Sie schloß die Badezimmertür, nicht aus Angst, nackt gesehen zu werden, es war einfach die Macht der Gewohnheit. Anschließend legte sie ihre Kleidung ab, nackt betrachtete sie sich im Spiegel, stand alleine im Badezimmer, umgeben von weißen fensterlosen Wänden, fensterlos wie die Flure in den schlimmen Träumen.
Nach ein paar Minuten, während derer Julia einfach nur nachdachte und die Ereignisse sacken ließ, stieg sie schließlich in die nun mit dampfenden, heißen Wasser gefüllte Wanne. Wärme durchströmte ihren Körper, als sie sich niederließ und es erschien ihr als würden alle Errinnerungen an den Mann abgewaschen und mit ihnen alle Sorge und aller Stress. Mindestens eine halbe Stunde lang lag sie einfach nur da, erholte sich und als das Wasser langsam abkühlte, stieg sie aus der Badewanne hinaus. Sie sah, dass sie vergessen hatte, sich ein Handtuch hinzulegen, eins von den Großen, die draußen im Flur in einem kleinen Schrank aufbewahrt wurden. Sie ärgerte sich ein wenig, als sie dachte, gleich müsse sie die vielen Pfützen, die sie jetzt hinterließ, von den nackten Badezimmerfliesen aufwischen. Andererseits hielt sie es für ein gutes Zeichen, dass sie sich wieder über solche Kleinigkeiten ärgern konnte.
Also ging Julia zur Tür, öffnete sie und wäre fast in die Person hineingelaufen, die davor stand. Der Mann. All die Panik, all der Schrecken kam wieder in Julia hoch und schnürte ihr den Hals zu, als sie schreien wollte. Heraus kam nur ein leises Keuchen. Der Mann war ihr nun ganz nah, häßliche Pocken säumten sein Gesicht ebenso wie schwarze Bartstoppeln, die wie ein Volk von Ameisen über seine Wangen und um seinen Mund herum liefen. Seine grauen Augen blickten kalt wie immer, allerdings strahlten sie diesmal ein Gefühl von freudiger Erregung aus. Für einige Momente starrten Julia und der Mann sich einfach nur an, dann verzog sich abermals der Mund des Mannes zu einem wahnsinnigen Grinsen, ein fauliger, kompostartiger Geruch strömte aus seinem leicht geöffneten Mund.
Dieser Geruch weckte Julia aus ihrer Starre und in panischer Angst wich sie nach hinten. Ihre nackten Füße bewegten sich schnell, zu schnell und schon glitten sie auf dem nassen Fliesen aus und Julia fiel. Ruckartig riss sie die Arme nach oben, versuchte, sich am Waschbecken festzuhalten, was ihr auch gelang, doch der Fall war zu heftig. Ihr Körper raste nach unten während ihre Hände sich am Becken festkrallten und ihre Arme so nach oben gerissen wurden. Julias Gesicht kam zehn Zentimeter vor dem Boden ruckartig zum Stehen und im gleichen Moment spürte sie, wie ihre Schultergelenke krachten und die Arme ausgekugelt wurden. Überwältigt von dem Schmerz, der nun ihre Arme bis zu den hin Händen erfüllte, ließ Julia das Waschbecken los und knallte so mit dem Gesicht auf den Boden. Das Nasenbein brach, dafür ging der Rest des Kopfes relativ sanft zu Boden. Julia blieb eine Weile liegen, versuchte, mit dem Schmerz klarzukommen, schmeckte den metallischen Geschmack des Blutes im Mund, das aus ihrer Nase drang. Ihre Arme hingen bizzar zur Seite und waren bewegungsunfähig.
Als Julias Ohren das hohle Lachen des Mannes vernahmen, wurde ihr wieder ihre Situation bewusst und sie schob sich mit ihren Beinen Richtung Badewanne, bloß weg von dem Mann und diesem unglaublichen Lachen, das in ihrem Kopf wiederhallte und ihn zum Platzen zu bringen schien. Irgendwie gelang es Julia, einzig mit der Hilfe ihrer Beine, sich mit dem Rücken an die Badewanne zu lehnen und sich dann an ihr hoch auf die Kante zu schieben.
Als sie dort saß, fing sie zu zittern an, die Arme baumelten an ihr herab, als wären sie aus Plastik und nur aufgeklebt. Tränen traten aus ihren Augen und liefen langsam die Wangen hinunter. "Was wollen Sie? Tun Sie mir bitte nichts...", stammelte Julia.
Das Lachen des Mannes hörte auf. Das Grinsen blieb. Plötzlich sagte er laut mit rauher Stimme "Buuh", und machte einen Schritt ins Badezimmer. Julia zuckte zurück und platschte in die Badewanne, das Wasser war mittlerweile leicht kühl. Julia lag nun auf dem Rücken in der Wanne, den Kopf unter Wasser. Sie hiefte ihren Körper mit aller Kraft, die in ihren Bauchmuskeln lag, aus dem Wasser und schaute nun auf dem Po sitzend hinüber zu dem Mann. Dieser starrte zunächst wieder einmal einfach nur und machte dann einen weiteren Schritt auf die Wanne zu. Hektisch drehte Julia sich auf den Bauch und versuchte, sich mit den Beinen aus der Wanne zu schieben. Die Beine rutschten ein ums andere Mal aus und schließlich glitt Julia langsam über die nur leicht steil abfallende Seite der Badewanne auf dem Bauch abermals unter Wasser. Diesmal konnte sie sich nicht hochschieben und irgendwann gab sie es auf. Ihre Lungen schrien nach Luft, sie schienen zu platzen, die Schmerzen in ihren Armen und in der Nase wurden von der Qual, unter der sie aufgrund des Sauerstoffmangels litt, übertroffen und sie spürte schließlich nur noch das gierige Verlangen nach Luft.
Sie würde hier sterben, das wurde Julia klar. Gleich darauf zogen viele schöne Momente ihres Lebens an ihr vorrüber, Bilder von Thomas und David, ihren Eltern, ihren Freunden. Sie alle würde sie nie wieder sehen. Zumindest nicht in diesem Leben.
Julias Arme waren funktionsuntüchtig, sie bekam keine Luft, Arme auf dem Rücken, das Knie auf der Luftröhre.
Als sie irgendwann einatmete und sich ihre Lungen mit Wasser füllten, war ihr letzter Gedanke vor der Bewusstlosigkeit, ihr letzter bewusster Gedanke vor dem Tod:
Wie real doch manche Träume werden.