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Der Mirabellenbaum
Für Sabine
In unserem Garten stand er, der Mirabellenbaum, hinterm Haus und spendete uns Schatten: Unsere Eltern hatten den Sandkasten unter seinen kühlenden Armen aufgebaut, dass wir uns keinen Sonnenstich holten, wenn wir mit unseren Förmchen und Schäufelchen Burgen und Schlösser gebaut oder Kuchen gebacken haben, den Mama dann essen musste. Und Mama hatte tatsächlich mitgespielt, häufte etwas Sand auf ein Löffelchen und führte es zu ihrem Mund, tat so, als würde sie die braunen Körnchen wirklich kosten und lobte uns. „Hmmm, das schmeckt aber gut“, sagte sie und prophezeite uns eine glanzvolle Zukunft als Koch, Bäcker oder Konditor. Meine Schwester und ich wetteiferten immer, wessen Kuchen der Mutter wohl am besten schmeckte, doch Mama hatte nie einen bevorzugt, immer teilte sie ihre Anerkennung gerecht unter uns beiden auf. Manchmal meinte sie auch, dass noch etwas Zucker fehle oder der Teig etwas trocken sei, damit wir den Spaß am Spiel nicht verlören und den braunen Sand weiter eifrig in stern-, fisch- oder sonnenblumenförmige Kuchenstücke verwandelten. Wie schön es war, im späten Frühling unter den weißen Mirabellenblüten zu spielen, im Sommer dann unter den honiggelben Früchten, von denen manche in unsere Sandkiste gefallen waren und mit denen wir dann unsere Kuchenstücke dekorierten. Meine Schwester und ich waren im ganzen Dorf bekannt für unsere Kuchen, die bei diversen Anlässen auch Großmütter und -väter, Tanten und Onkels und Nachbarn versuchen mussten. Mit dem richtigen Mirabellenkuchen, den Mama immer buk konnten sich unsere Sandhäufchen natürlich nicht messen, ebenso wenig mit dem Gelee, den wir im Sommer einkochten, um ihn das ganze Jahr über aufs Frühstücksbrötchen zu schmieren.
Und getanzt haben wir, in Ringelreihe um den schmalen dunkelbraunen Stamm, von dem die Äste nach allen Seiten wuchsen, haben dabei gesungen und gelacht, ich mit meiner Schwester an der Hand, den ganzen Nachmittag, bis es dunkel wurde und Mama oder Papa uns zum Abendbrot hereinriefen, wo ich dann als Nachtisch immer ein Butterbrot mit selbstgekochtem Mirabellengelee aß.
Doch nicht nur meine Kindheit verband mich mit unserem Baum, auch die Jugend, die Zeit der ersten Feten mit Freunden oder die ersten Liebeserfahrungen oder besser vielleicht -versuche. Wir, Weißihrennamenichtmehr und ich, saßen auf der Bank unter der Mirabelle, die gerade zu blühen begann und ihren Duft verstreute, der die Bienen anlocken sollte, damit aus den zarten Blüten bald saftige gelbe Kügelchen würden. Ein Ast hing ein Stück hinunter, verdeckte ein wenig das Gesicht des Mädchens und ich, der von alldem noch keine Ahnung hatte, schob den Ast beiseite und küsste sie einfach, erst vorsichtig auf die Lippen, sie erwiderte und dann verwirrten sich unsere Zungen miteinander wie die vielen kleinen Ästchen über uns, in der Krone des Baumes. Mein erster Kuss, es war doch ganz einfach, ich wusste hinterher gar nicht mehr, warum ich solche Angst gehabt hatte, aber ich fühlte mich sicher, wusste ich, dass der starke Baum mich beschützte. Den Namen des Mädchens habe ich vergessen, nicht aber ihr braunes Haar, ihre braunen Rehaugen, die mir immer wieder zuflüsterten: „Nimm mich in den Arm, beschütz' mich.“
Und ich legte meinen Arm um sie, hielt sie ganz fest, beschützte sie und die Mirabelle beschützte uns, wie wir so im Garten saßen und unseren ersten richtigen Kuss küssten, bevor ich ihr eine der weißen Blüten ans Haar steckte.
Was später auf meinen vielen Feten unter dem Schutz des Baumes alles passierte, möchte ich lieber verschweigen, nutzten viele Freunde die scheinbare Abgeschiedenheit des Gartens doch, um sich mit ihren Freundinnen dorthin zurückzuziehen, wenn ihnen ihre pubertären Triebe Musik- und Tanzlaune nahmen und mit einer romantischen Stimmung ersetzten, die Mondlicht, Mirabellenduft und Stille benötigte, und meist in wildem Geknutsche und Gefummel endete...
Die Eltern hätten Haus und Garten nicht halten können, sie mussten verkaufen. Neunzehn Jahre meines Lebens habe ich mit dem Mirabellenbaum verbracht, meine Geheimnisse mit ihm geteilt, gelacht und gesungen, weißnichtwasnochalles und ich sollte ihn plötzlich nie wieder sehen können.
Ich war mit Mama auf dem Speicher, wir sortierten meine Sachen aus: Schulhefte und -mappen, Wasserfarbenbilder aus meiner Kindergartenzeit, Bücher, Kuscheltiere und Spielsachen flogen auf den Müll. In der neuen Wohnung gäbe es dafür keinen Platz mehr, haben Mama und Papa gesagt. Die wenigen Dinge, die wir behalten wollten, landeten irgendwo in einem der Umzugskartons, ganz unten, wo sie später zerdrückt und zerquetscht wurden, so dass meine Schwester und ich nochmal neu aussortieren mussten und wir letztendlich unsere ganze Kindheit und Jugend weggeschmissen haben.
Dass sie meinen Baum aber gefällt haben, werde ich ihnen nie verzeihen. Nicht einmal gewartet haben sie, bis wir ausgezogen waren. Nach einer der letzten Nächte in meinem alten Zimmer weckte mich die Axt, deren Eisen erbarmungslos durch die braune Rinde glitt, bis er, mein Beschützer, einknickte, die Krone des Königs zu Boden gefallen war. Es dröhnte in meinem Kopf, beinahe als wollten sie mir nun die Erinnerung aushämmern, die Erinnerung an Ringelreihe und Mirabellenkuchen aus Sand, an das braunhaarige Mädchen, dessen Namen ich vergessen habe, und dessen Zunge die erste war, die meinen Mund erkunden durfte.
Hätte ich nur ihren Namen in den Baum geritzt, den meinen darunter und außenherum ein Herz. Nicht um mich ihres Namens erinnern zu können, sondern weil alle gesehen hätten, wem dieser Baum gehörte, nein immer noch gehört: mir nämlich, mir und dem Mädchen, das ich so gerne noch einmal unter den blühenden Ästen küssen würde.
Vierzehn Einmachgläser voller Gelee haben wir mit in die neue Wohnung nehmen können. Eigentlich siebzehn, doch drei sind beim Umzug zersprungen, so dass noch vierzehn Gläser blieben, die Mama, Papa und meine Schwester vielleicht noch ein halbes Jahr lang genießen durften.