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Der Mittling & die gesichterlosen Anderen
Er hatte lange darüber nachgedacht, ob er sich an diesen unwirklichen Ort begeben sollte, von dem er durch Zufall einmal hörte, eine Schule ohne Lehrer, ein Schulhof ohne Schule. Es sollte ein Ort sein, an dem sich Schüler träfen, um gemachte Hausaufgaben zu diskutieren, die ihnen keiner aufgegeben hatte. Auch er machte ständig Aufgaben, die ihm keiner befohlen hatte. Es war ein innerlicher Drang, der ihn zwang, unaufhörlich zu schreiben, zu Themen, die seiner Phantasie entsprangen.
Er suchte nach Gleichgesinnten, obgleich er wusste, ein Zusammentreffen mit ihnen könnte unter Umständen unangenehm für ihn werden. Viele andere Schüler standen schon vor ihm an diesem Tor und schrieben sich, nur der Zugehörigkeit halber, ein. Manche gaben nur eine Arbeit ab und wurden dann nie wieder gesehen. Nur ihre einstige Anmeldung diente als stummer Zeuge ihres kurzen Besuches. Diese Tatsache bereitete ihm Angst, war er doch erst kürzlich von diesem Virus befallen worden und wusste nicht so recht damit umzugehen. So kam es, dass er schon vor seiner Anmeldung viele freie Minuten an der Mauer verbrachte, welche den seltsamen Schulhof zur Straßenseite hin abgrenzte.
Niemals hatte er auch nur einen Schüler zu Gesicht bekommen, nie sah er jemanden kommen oder gehen. Nur hören konnte er sie über die Mauer, wenn sie sich zusammenfanden und ausgelassen über die eingereichten Arbeiten diskutierten.
Oft konnte er sie aber nicht richtig verstehen, was weniger mit der Lautstärke der Unterhaltungen zu tun hatte als mehr mit seinem Verständnis. Er konnte einfach manche Wörter nicht verstehen, hatte er diese noch nie zuvor gehört. Oft schienen sich die anderen in einer Sprache zu verständigen, die ihm völlig fremdartig war. Schnell bemerkte er, dass er hier noch viel lernen konnte.
Es gab Schüler mit freundlichen Stimmen und welche, die sehr unangenehme Laute von sich gaben. Da waren Nette und Einige, denen man auf dem Schulhof lieber aus dem Weg gehen sollte. Aber vermutlich wäre das sinnlos, wenn sie es darauf anlegen würden, käme es unweigerlich zu einem Zusammentreffen. Aber eines hatten die Unbekannten auf der anderen Seite der Mauer alle gemeinsam. Alle hatten sie lustige, einprägsame Namen wie beispielsweise Trinkgefäß, Fleischklümpchen, Telefonkarte, Ordnungskaiser, Lebenslauf, Onkel usw.
Mit großem Interesse verfolgte er das Hörspiel, wenn eine Hausaufgabe vorgetragen wurde. Offensichtlich eine Art Ritual, bei dem der Schüler, der die Arbeit abgab, in die Mitte genommen wurde und die anderen einen Kreis um ihn bildeten. Jeder konnte dazu kommen, und so waren es manchmal kleine und ein andermal sehr große Kreise, die den Einzelnen in ihre Mitte einschlossen. Manchmal applaudierte die Menge laut und alle Teilnehmer versuchten dem Mittling auf die Schulter zu klopfen. Ein anderes Mal ging es streng zur Sache und der elitäre Kreis fackelte nicht lange, wenn es darum ging schonungslos Kritik zu üben. War dies der Grund dafür, dass so viele neue Schüler nicht mehr kamen?
Egal, er wollte sich diesem Kreis stellen und schrieb sich ordnungsgemäß ein. Er beantwortete all die ihm gestellten Fragen zu seiner Person und erhielt nach knapp 48 Stunden seine Berechtigungskarte zu diesem unwirklichen Ort.
Die Dunkelheit hatte bereits die letzten Ecken der Mauer erreicht, als sich durch das Durchziehen seiner Berechtigungskarte das Portal zum Schulhof ungewöhnlich leise öffnete. Es waren viele Stimmen zu hören, aber niemand zu sehen. Er fühlte sich unbemerkt und lief quer über den Schulhof, der mit seltsamen dicken Strichen am Boden markiert war. Schüchtern schaute er sich auf dem Gelände um.
Plötzlich tat sich etwas. Ein Schüler trat aus der Dunkelheit heraus, blickte suchend am Boden entlang und stellte sich dann in ein durch Striche abgeteiltes Feld. Er räusperte sich, schlug sein Heft auf und begann vorzutragen. Er versuchte ein Gesicht zu erkennen, doch die Dunkelheit gab es nicht preis. Und wo waren die anderen Schüler geblieben, warum war keiner gekommen? Es war, als würden sie sich verstecken und ungeduldig darauf warten bis der Schüler seine Hausaufgaben vollständig vorgetragen hatte. Und genau so war es auch. Es bedarf eines Zeichens, um den anderen das Ende zu signalisieren und damit das Veröffentlichen abzuschließen.
Als der Schüler sein Heft offen auf den Boden legte und zweimal mit dem Fuß auf den Boden stampfte, gab er das Signal und damit auch den Startschuss für die Anderen. Nach wenigen Augenblicken war es soweit und sie kamen aus ihren anonymen Bereichen. Sie bildeten einen Kreis um den Schüler und sein auf dem Boden liegendes, eben veröffentlichtes Skript. Es war ein kleiner Kreis mit nur wenigen Teilnehmern und jeder äußerte seine Meinung zum eben gehörten. Es ging friedlich und konstruktiv zu und alle schienen zufrieden zu sein. Der Vortragende, weil ihm jemand zuhörte, die Kreislinge, weil sie etwas anmerken konnten. Langsam schlich er sich vom Schulhof und schloss das Eingangstor leise zu.
Er wollte ein Mittling werden. Einmal nur wollte er im Zentrum dieses Kreises stehen und machte sich sofort an seine Hausaufgaben.
Es sollte eine Geschichte werden, die erzählen, wie man sich fühlt, wenn man irgendwo neu ist. So ähnlich, als würde man als kleiner übergewichtiger, nicht hübscher Mensch in ein Fitnessstudio gehen, von dem man annimmt, dass dort nur junge, hübsche, top gestyle Menschen umherlaufen. Eine Geschichte, die erzählen soll, wie man sich fühlt, wenn man in ein Gebäude kommt, in dem man sich nicht auskennt und nicht weiß, wo die Toiletten oder die Notausgänge sind.
Nach getaner Arbeit ging er zum Schulhof zurück, suchte sich, durch die Bodenmarkierung geleitet, das richtige Feld und begann seine Arbeit vorzutragen. Als er fertig war, legte er sein Skript nieder, stampfte zweimal mit dem Fuß auf den Boden und wartete ...
Ende