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Der Morgen danach
Mit dem Erwachen werden mir schlagartig die Fehlentscheidungen des gestrigen Abends bewusst. Dies verdanke ich dem komplexen Kommunikationssystem zwischen Körper und Geist, denn der Gedanke „Oh Scheiße, was hast du wieder getan?“ entstammt nicht dunklen Erinnerungen an gesellschaftliche Fehltritte, sondern rein physiologischen Reizen.
Am wenigsten subtil ist da die Schädeldecke, die mir wie ein Vorschlaghammer die Kritik an Auswahl und Menge der Getränke ins Gehirn schlägt. Diese Art von Vorwurf beeindruckte mich schon immer mehr als irgendwelche Leberwerte und ich gelobe stets Besserung. Ebenso veranlasst die Wüstendürre, die sich von der Zunge bis in die Lunge erstreckt, mich eher zum Überdenken, ob man wirklich rauchen muss, als die Atemnot nach dem Treppensteigen. Ich bin mir sicher, dass die trockene Zungenoberfläche bei einem Sprechversuch aufplatzen und die Furchen mit meinem vergifteten Blut tränken würde, kann mir aber ein ersticktes „Oh Gott, warum?“ nicht verkneifen. Der Wüstenwind brennt, doch ich schmecke kein Blut.
Am schlimmsten ist jedoch das weitaus subtilere Pulsieren, das in der Brust beginnt und in schwachen Wellen bis in die Gliedmaßen und Fingerspitzen rollt. Ich bin mir nicht sicher, was mir das sagen soll, glaube aber, dass es einer Mischung aus Bluthochdruck und Übelkeit entstammt und eine Gesamtkritik an meinem Lebensentwurf ist. Ich nehme die Kritik an und bin mir zu 50% sicher, dass ich diesmal tatsächlich nicht mehr trinken werde, und wenn doch, dann keinen Schnaps, und wenn doch, dann nicht so viel, und wenn doch, dann nicht mehrere Tage hintereinander. Allerdings bin ich mir auch sicher, dass ich vor Ende des Tages wieder geraucht haben werde. Aber nur zwei oder drei.
Doch gestern war nicht alles schlecht. Ich scheine auch gute Entscheidungen getroffen zu haben und finde eine Flasche Wasser neben meinem Bett. Ein kräftiger Schluck zwingt mich zum abrupten Aufstehen, denn der Magen ist wohl noch nicht aufnahmebereit. An der Toilette kommen die ersten Erinnerungen wieder hoch: ich habe vorm Schlafen einen Salat gegessen. Eine weitere Fehlentscheidung. Das ist doch keine Grundlage, kein Wunder. Saurer Regen sickert in die ausgetrockneten Furchen und brennt sich ein. Ich spüle Leitungswasser nach und fühle mich besser. Die Wasseraufnahme ist wieder möglich und der Vorschlaghammer wurde zum Gummiknüppel degradiert. Ich bin zuversichtlich, dass mein Körper mir noch etwas Schlaf gewährt.
Auf der Bettkante sitzt eine Frau und starrt an mir vorbei. Ich frage „Hallo?“, doch sie starrt weiter. Das macht mich latent wütend und lässt mich kurz über eventuelle gesellschaftliche Fehltritte nachdenken. Ich bin aber zu kaputt und lege mich hin. Ein abruptes Einatmen reißt mich aus dem anfänglichen Dösen. Ich denke mir „Bitte nicht“, während ich schon „Weißt du, was ich mich frage?“ höre. Vielleicht, wenn ich so tu, als würde ich fest schlafen? Nein, sie ist unbeeindruckt: „Warum trinkst du eigentlich so viel? Meinst du, das tut dir gut?“ Ich bin empört, dass jemand so respektlos die Totenruhe missachtet: „Selbstzerstörung ist ein Menschenrecht, genau wie die Ruhe danach!“ – „Nein. Dieses Recht hast du verwirkt, als du Menschen wichtig wurdest. Seitdem handelt es sich um ein Privileg.“ Was soll das denn wieder heißen?
„Was soll das denn wieder heißen?“ – „Du musst einen verantwortungsvollen Umgang nachweisen. Jetzt liegst du halbtot da, das spricht gegen Verantwortungsbewusstsein und somit wird dir das Privileg verwehrt.“ – „Quatsch, mir geht es super.“ Ich traue mich nicht zu fragen, woher ihre, zweifelsfrei vorhandene, Autorität stammt. „Ich bin nur etwas müde, hab schlecht geschlafen.“ – „Du hast grad gekotzt.“ – „Nee, glaub nicht.“ – „Ok, dann lass uns einen Spaziergang machen.“
Jetzt wird mir nicht nur körperlich unwohl. Sie scheint komplett verrückt zu sein. Zwar zierlich, aber in meinem aktuellen Zustand wäre ich leicht zu überwältigen, was sie möglicherweise bereits ahnt. Ich will Stärke vortäuschen und setze mich auf. Sie soll wissen, dass auch ich Autorität besitze, daher verlange ich nach einem Kaffee. Der Vorschlag ruft eine eher verhaltene Reaktion hervor. Ich muss ihn selbst machen, sonst fliegt mein Bluff auf. Trotz zittriger Hand gelangen Kaffeepulver und Wasser großteils in die Maschine, was mich ein wenig mit Stolz erfüllt. Fast würde ich sie herholen, um es ihr zu zeigen, aber ich nutze die Zeit lieber, um ein wenig am Küchentisch zu dösen. Stehen funktioniert noch nicht so gut.
Das Verstummen der Kaffeemaschine weckt mich. Ich komme mit zwei Tassen ins Schlafzimmer und setze mich hinter sie, damit ich sie im Auge behalten kann. Wir trinken, ich schweige, sie erzählt etwas, auf das ich mich nicht konzentrieren kann. Ich würde so gerne schlafen, der Kaffee hilft nur bedingt. „Hast du ausgetrunken? Dann können wir ja etwas an die frische Luft!“ – „Du spinnst doch“, ich hoffe, dass ich keinen wunden Punkt getroffen habe, „draußen sind nur Verrückte.“ Ich beiße mir fast auf die Zunge, aber ich bin zu vernebelt, um auf meine Wortwahl zu achten. Sie scheint sich nicht angegriffenen zu fühlen und fragt, ob ich rauchen möchte. Natürlich möchte ich, hab ja gerade Kaffee getrunken. „Gut, dann können wir ja zur Tankstelle spazieren, wir haben nämlich keine Zigaretten mehr.“ Zum Glück wollte ich heute eh nicht wirklich rauchen. Womöglich sogar ganz aufhören, hat ja nur Nachteile und schmeckt verkatert nicht mal besonders. Mit süffisantem Lächeln erkläre ich ihr, dass ich keine Zigaretten mehr brauche und mich heute lieber ausruhen möchte. Sie zeigt Verständnis.
Als wir zehn Minuten später auf dem Gehweg stehen, scheint die Sonne. Ich kann nicht einschätzen, ob sie angenehm wärmt oder unangenehm brennt, und komme zum Schluss, dass ich auf jede Sinnesempfindung, die mir diesen verseuchten Körper bewusst macht, verzichten möchte. Mit wackligen Knien geht es los. Ich hoffe, es wirkt wie ein fröhlich beschwingter Gang eines ausgeglichenen Menschen. Tut es nicht. Die Passanten wissen genau, was los ist. Sie weichen mir aus und halten den Blick gesenkt, in Ehrfurcht vor der übermenschlichen Leistung, die ich gerade erbringe. Nur ein älteres Ehepaar schüttelt den Kopf, nachdem ich einen Ausfallschritt in ihre Richtung nicht verhindern konnte. Die wissen wohl nicht mehr, wie das ist.
Krähen gelten ja allgemein als sehr intelligente Tiere. Ich befürchte, dass sie sogar zu intelligent sind, nämlich so intelligent, dass sie Langeweile empfinden. Diese Langeweile, so haben sie wohl festgestellt, lässt sich am besten bekämpfen, indem man Menschen ärgert. Denn kleinere und dümmere Vögel zu nerven wird auf Dauer auch langweilig. Das glaubt natürlich wieder niemand. Aber ich bin mir absolut sicher, dass mich ein Schwarm verfolgt, der sich meiner Wehrlosigkeit bewusst ist. Aus wenigen Metern Entfernung nutzen sie ihr Gekrächze als Schallwaffe, die direkt in mein Gehirn trifft. Zwei bis drei fangen immer an, woraufhin ich mit pulsierenden Kopfschmerzen zusammenbreche. Dies animiert wiederum die restlichen Krähen zum fröhlichen Mitkrächzen. Es klingt hundertprozentig wie Gelächter. Mit traurigem Blick bitte ich wortlos um Erbarmen, doch ernte nur weiteres Krächzen und aufgeregte Flügelschläge.
Ich laufe bereits seit drei Minuten. Die Sonne brennt sich in mein ausgetrocknetes Fleisch. Die spröde Haut ist aufgeplatzt und sommerliche Windböen peitschen in die Wunden. Ich fühle mich wie ein Haufen verschimmelter Organe, der von einem schlecht gegerbten Ledersack zusammengehalten wird. Hinter mir höre ich das aufgeregte „Krah krah krah“ von hunderten Krähen. Ich traue mich nicht zurückzuschauen, kann aber in den Scheiben vorbeifahrender Autos erkennen, dass die Vögel mir nun zu Fuß folgen. Immerhin sind es doch nur knapp zehn, die sich köstlich amüsieren.
„Guck, die Krähen! Wie putzig“, sagt sie. Es hätte mir klar sein müssen, dass sie unter einer Decke stecken. Man soll Krähen ja dressieren können, aber bei dieser Anzahl bin ich ziemlich beeindruckt. Wie viel sie erreichen könnte, wenn sie ihre Talente nicht für Böses verwenden würde. Glücklicherweise sehe ich das Tankstellenschild, es ist also nicht mehr weit. Ich zeige mich lässig und tu so, als würde ich ihre Schikanen nicht bemerken. „Ja, Krähen sind schon ziemlich cool. Sie scheinen uns zu mögen.“ Ein Bunkerbrecher bohrt sich durch meinen Kopf und entzündet einen Kugelblitz in meiner Schädelhöhle. Ich gehe in die Knie, eine Eichel landet neben mir. Jubelndes „Krah krah krah“ erfüllt die Luft.
Meine Beine werden immer schwerer, meine Knie immer weicher, der Schweiß strömt aus allen Poren. Ich habe das Gefühl, als würde ich mich aus einer außerkörperlichen Perspektive selbst beobachten. Mir wird schwindlig, aber um eine Pause zu bitten würde Schwäche offenbaren. Immer weiter. Um mich abzulenken, überlege ich bereits, wie ich mit dem Kassierer kommunizieren soll. Meine vertrocknete Zunge klebt am Gaumen fest, ich bin nicht sicher, was ich will, wo ich bin, wer ich bin. Habe ich überhaupt Geld? Welche Marke rauche ich normalerweise? Ich gehe einfach davon aus, dass sich an der Theke alles klären wird.
In der Tankstelle herrscht arktisches Klima. Schnell fällt mir auf, dass die Kälte überwiegend vom Blick stammt, mit dem die Kassiererin meine Überreste von ihrem Eisthron herab bedenkt. „Mit den Vögeln kommen Sie hier aber nicht rein“ – „Ich kenn die nicht, wie soll ich die loswerden?“ Sie steigt hinab und überreicht mir eine Brezel. „Schmeiß aufn Gehweg, das ist für die interessanter als du.“ Schlau, es klappt. Die Verrückte stellt sich vors Bierregal. „Na, willste noch eins?“ Säure steigt aus meinem Magen hoch und brennt sich unter die Zunge. „Ne, heute ist mir nicht so danach.“ Ich laufe zielstrebig zur Kasse. „Einmal JPS schwarz, bitte“ – „Hamwer nich.“ – „Ok, dann rot.“ – „Hamwer nich.“ – „Ok, dann einfach irgendeine.“ – „Macht 6,50€ für die Kippen und 3,50€ für die Brezel.“ Die Freude darüber, dass ich tatsächlich Geld dabei habe, überwiegt den Ärger, dass ich es sinnlos rausschmeiße.
„Du siehst fertig aus, Jung, brauchst nen Kaffe?“ Ich habe sie komplett falsch eingeschätzt. Zum ersten Mal seit meiner Reise zeigt mir jemand mütterliche Wärme. Ich nehme dankend an, während ich mit Tränen der Rührung kämpfe. „Macht nomma zwee fuffzich.“ Immerhin wärmt mich der Kaffee etwas auf.
Draußen erschlägt mich die Hitze, verstärkt durch den heißen Kaffee, der über meine zitternde Hand rinnt. Nach dem abrupten Temperaturwechsel platzt meine Haut weiter auf und Fliegen versuchen an mein Fleisch zu gelangen. Eine weitere Tierart, die zum Zeitvertreib Menschen ärgert, aber das glaubt ja wieder niemand. Die Krähen haben das Interesse an mir verloren und kämpfen um die Brezel. Vielleicht sind sie doch nicht so schlau.
Der Rückweg fällt mir etwas leichter, weil ich jetzt rauchen kann. Mund und Kehle sind allerdings so ausgetrocknet, dass ich stark husten und kurz stehenbleiben muss. Das ist ihre Chance, ich bin absolut wehrlos, doch sie greift nicht an. Ich nehme an, dass sie mich lieber langsam quälen will. Gnade kennt sie nicht. „Na, geht’s?“ – „Ja, ich komm schon klar. Nur ne Sekunde.“
Ein Hitzschlag macht sich bemerkbar. Die Übelkeit steigt und ich bekomme Halluzinationen. Ich glaube, dass ich noch im Bett liege und davon träume, wie ich durch die Wüste marschiere, ohne Wasser und Orientierung. Ich weiß, dass mein Körper in Sicherheit ist und mein Geist mir vorspielt, ich wäre in dieser misslichen Lage. Trotzdem spüre ich den Durst und die unerbittliche Wüstensonne. Ein lautes „Vorsicht!“ reißt mich aus der Halluzination. Ich bin immer noch auf dem Gehweg und laufe an einem Restaurant vorbei, das wohl gerade eine Seniorengruppe zum Brunchen beherbergte. Diese Gruppe strömt nun heraus, Rollatoren umzingeln mich.
Ich bin komplett überfordert. Mein Gehirn schaltet auf Automatik und befiehlt, einen Rollator zu greifen, um mich damit nach Hause zu schleppen. So würde ich den Weg auf jeden Fall schaffen. Doch die Vernunft kehrt in letzter Sekunde zurück und erinnert mich daran, dass ich in der absoluten Unterzahl bin. Ich konzentriere meine letzten Kräfte und schlängle mich mit einem höflichen „Entschuldigung“ durch die Horde. Zum Glück haben sie gerade gegessen und sind träge.
Ich versuche schneller zu laufen, vielleicht kann ich die Verrückte im Getümmel abhängen. Keine Chance, sie steht schon neben mir und hält sich an meinem Arm fest. Sie weiß, dass ich mich unmöglich befreien kann, jetzt bin ich endgültig gefangen. Die Häuser kommen mir aber bekannt vor. Ich glaube, dass ich hier wohne. Also ist es fast geschafft, endlich!
Nicht nur die Häuser kommen mir bekannt vor. Hinter mir nähert sich ein leises Röcheln und bevor ich mich umdrehe, weiß ich schon, wem es gehört. Der wadenbeißende Giftzwerg, den sich ein sadistischer Nachbar mit Machtkomplex als Haustier hält, kommt direkt auf mich zu. Mein Blick wandert zum Besitzer, der in sein Handy vertieft ist und immer mehr Leine lässt, weil der Hund schneller ist als er. Hier ist keine Hilfe zu erwarten. Ich drehe mich wieder nach vorne und versuche schneller zu werden. Ich will mich aus dem Griff der Verrückten lösen. Vielleicht kann ich sie als Beute zurücklassen, um mich in Sicherheit zu bringen. Doch ihr Griff bohrt sich wie ein Schraubstock in meinen Arm. Ich blicke sie entsetzt an und raune ihr „Lauf!“ zu. Sie guckt verwirrt und lacht unsicher.
Trotzdem wird sie schneller. Ich kann kaum Schritt halten, meine Füße schleifen hinterher. Sie will mich zu Fall bringen, um sich selbst zu retten. Am besten ergötzt sie sich noch daran, wie ich langsam von diesem Kampfnager zerfleischt werde, Mäusebissen um Mäusebissen. Das ist sicherlich der Tod, der ihr gefallen würde. Aber die Genugtuung gebe ich ihr nicht. Ich beiße die Zähne zusammen und bündle meine gesamte Energie in den Beinen. Das Hundegeschnaufe wärmt bereits meine saftigen Waden. Ich denke immer nur an den nächsten Schritt, sonst hätte ich bereits aufgegeben. Ein Schritt nach dem anderen und gleichmäßig atmen. Seitenstechen kommen auf. Muss durch den Mund atmen. Der Wüstenwind entfacht einen Sandsturm in meiner Lunge. Wenn ich jetzt einen Hustenanfall bekomme, war es das. Eine kalte, feuchte Schnauze bohrt sich in meine Wade, heißer Speichel sprudelt in meinen Schuh und ein spitzer Schrei entweicht meinem Mund. Die Verrückte muss wieder lachen. Es ist erschreckend, was es für empathielose Menschen gibt.
Noch während ich mir den Kopf über die Abgründe der Menschlichkeit zerbreche, merke ich, dass ich plötzlich zu Hause bin. In Sicherheit. Ich lehne mich an die fest verschlossene Tür und muss mit den Tränen kämpfen. Wer jetzt behauptet, ich hätte mir heute kein Bier verdient, liegt objektiv falsch, besitzt kein Herz und ist ein schlechter Mensch, der gesellschaftlich geächtet werden muss. Ich raffe mich ein letztes Mal auf und setze alles auf eine Karte: „Schatz, holst du mir ein Bier?“ – „Ich hab dich doch vorhin gefragt und du wolltest nicht. Meinetwegen können wir gerne nochmal zur Tanke.“ Ich kauere mich auf den Boden, lehne mich an die Wand und kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.