Der nächste Anruf
Mein Herz rast, als ich an der kleinen Brücke anhalte und mich noch in der Fahrt vom Fahrrad schwinge. Sie lächelt und ich sehe, dass sie geweint hat.
„Du bist gekommen.“
Ich nicke, sage ihr nicht, dass ich eigentlich lernen muss. Es erscheint mir nicht fair, sie mit meinen Problemen zu belasten, wo es ihr doch viel schlechter geht als mir.
„Was ist passiert?“, frage ich und setze mich neben sie ans Flussufer.
Sie lehnt ihren Kopf an meine Schulter und fängt an zu erzählen. Erst ruhig, dann immer schneller, so dass es mir schwer fällt ihr zu folgen. Ihre Mutter hat sie angerufen und ihr gesagt, wie weh es doch tue, wenn ihre eigene Tochter das Glück der heilen Familie zerstöre. Sie habe ihrer Mutter gesagt, dass sie das nicht vorgehabt habe, dass sie nicht gelogen habe, als sie ihr erzählt habe, dass ihr Stiefvater sie anfasst. Ihre Mutter habe nur verärgert aufgelegt. Dann sei sie losgelaufen und hier angekommen. Als sie dann die Telefonzelle gesehen habe, hätte sie kurz überlegt, mich aber dann doch angerufen.
Und nun sitze ich hier und kann doch nichts für sie tun.
„Ich hoffe, ich habe nicht gestört.“, fragt sie und schaut mich an. Auf eine solche Frage kann man nicht mit ja antworten.
„Nein, mach dir mal keine Sorgen.“, antworte ich deshalb.
Sie legt ihren Kopf wieder an meine Schulter und streicht sich Tränen aus den Augen.
Eigentlich hätte ich lernen müssen, überlege ich.
Aber wie konnte ich nicht herkommen?
Wie hätte ich zu Hause bleiben können, mit dem Wissen, dass sie mich braucht?
„Bringst du mich nach Hause?“
Ich nicke, weiß, dass es eine Stunde bis zu ihr nach Hause dauert und dann noch mal zwanzig Minuten, mit dem Fahrrad zurück zu mir.
Wir gehen schweigend nebeneinander her. Sie scheint es zu genießen, dass ich da bin. Sie kann nicht gut alleine sein. Seit sie eine eigene Wohnung hat, ruft sie jeden zweiten Tag aus einem anderen Teil der Stadt an. Jedes Mal lasse ich alles stehen und liegen und komme.
„Da wären wir.“
Sie schaut mich traurig an und umarmt mich.
„Willst du nicht noch etwas bleiben?“
„Nein, das geht nicht, es ist schon spät. Du musst morgen zur Schule, ich muss morgen zur Schule und wir brauchen beide noch ein wenig Schlaf.“
Sie umarmt mich noch einmal und sagte dann: „Danke, ich weiß, dass ich anstrengend bin. Du bist meine beste Freundin.“
Ich lächele und sehe ihr nach. Erst nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hat mache ich mich auf den Heimweg.
„Da bist du ja endlich. Wo warst du?“
Ich sehe in das Gesicht meiner Mutter und wundere mich, dass sie mich überhaupt noch erkennt. Ich muss nicht auf diese Frage antworten, das tue ich nie. Sie erwartet es nicht. Das ist nur der letzte Rest Mütterlichkeit, den sie sich beweisen muss. Kurz darauf dreht sich meine Mutter um und packt sich wieder vor den Fernseher, mit einer weiteren Flasche Wodka. Ich mache mich an meine Hausaufgaben und warte auf den nächsten Anruf von ihr.