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Der Notenschlüssel
Der Raum der Musikschule wurde von den Klängen der Mondscheinsonate ausgefüllt. Nicole hatte, während sie das Stück spielte, die gesamte Zeit die Augen geschlossen und ihre Finger wurden eins mit der Querflöte, die sie seit ihrem siebten Lebensjahr spielte. Musik war ihr Leben, nichts anderes sollte ihr Leben beherrschen und sobald sie ihre Hausaufgaben erledigt hatte, griff sie zu dem Samtausgelegten Koffer, in der sich das teure, in ihren Augen unschätzbar wertvolle Instrument befand.
Sie hatte alle Stücke, die sie kannte, im Kopf, jede Pause, jeder Takt war ihr hundertprozentig vertraut, was sie zu der besten Schülerin von Herrn Klonz machte, worauf sie sehr stolz war. Mit einem langen, ausklingenden Ton endete Nicole das Musikstück und öffnete die Augen. Ihr Musiklehrer lächelte und nickte anerkennend. Sie machte ihre Flöte sauber und packte ihre Notenblätter ein.
„Wäre schon toll, wenn ich von Musik leben könnte.“ Herr Klonz schaute sie lächelnd an. „Du weißt, das dies ein sehr langer Weg ist, der sehr anstrengend ist.“ Diesen Satz hasste sie irgendwo, denn sie gab sich sehr viel Mühe, wäre die Schule nicht, dann würde sie den ganzen Tag nur mit der Flöte üben. „Ich spiele, glaube ich am meisten von ihren Schülern und ich bin die Beste!“ Wieder nickte Herr Klonz anerkennend. „Das ist richtig, aber auch mit Talent bedarf es noch einer langen Weile, bis du diesen Beruf ausüben kannst, denn du musst studieren, sonst wird es nichts.“ Nicole sackte innerlich zusammen. Ihr Musiklehrer hatte Recht, das wusste sie, aber musste er das immer wieder erwähne? Gut, ihre schulischen Leistungen waren vielleicht nicht überragend, aber nun – sie wollte Musikerin werden! Und allein dieser Wunsch trieb sie vorwärts.
Der traurige Blick von ihr traf Herrn Klonz, doch tröstete er sie nicht. „Nun raus mit dir, ich habe jetzt auch Feierabend!“ Er warf ihr ein Lächeln zu, dann wies er ihr mit einer Handbewegung zu gehen. Sie schritt durch die Tür und war nach wenigen Augenblicken verschwunden.
Auf der Straße angekommen, wurde sie Teil des Feierabendverkehrs. Die Menschen schoben sich auf dem Bürgersteig vorwärts und auf den Straßen verfuhren die Autos genauso. Nicole traf diese Hektik wie ein Schlag, war sie doch vor wenigen Minuten noch in einer anderen Welt gewesen. Die Luft war stickig und warm, kein Ort, um noch länger zu bleiben. Das junge Mädchen mit der wilden, roten Lockenmähne drängte sich zügig zur U –Bahn. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis ihre gewünschte Bahnlinie kam.
Während der Fahrt versuchte Nicole sich wieder an die letzte Stunde zu erinnern, die ihr schier unendlich vorkam. Sie liebte die Mondscheinsonate und rief sich die Melodie innerlich noch einmal hoch. Beethoven war so ein toller Komponist, seine Werke hatten so viel Wärme und Gefühl! Jede einzelne Note sah sie vor ihrem inneren Auge und sofort fühlte sie sich wieder wohl. „Nächster Halt Westpark!“ Die mechanische, jedoch freundliche Frauenstimme machte den fernschweifenden Gedanken ein jähes Ende. Sie lief auf einem breit angelegten Weg durch den Park, der fernab von Straßenhektik und lautem Getöse lag. Nur wenige Menschen waren hier und schlenderten gemütlich teils alleine, teils zu zweit auf anderen Wegen entlang.
Nicole´s Weg führte sie in ein Waldstück, das teilweise sehr zugewachsen war und ihm dadurch einen sehr harmonischen Reiz verlieh. Nach wenigen Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht, sie stand vor einem kleinen See, in dem sich einige Goldfische tummelten. Nicole packte ihre Querflöte aus, steckte sie zusammen, schloss ihre Augen und begann zu spielen.
Der Klang der Flöte durchzog langsam und sanft die Bäume und Sträucher, verwirbelte sich im Wind und wurde fortgetragen. Nichts konnte sie stören, sie war eins mit der Musik und der Flöte, als ihre Ohren ein leises, dennoch heftiges Plätschern vernahmen. Sie ignorierte es, hatte Herr Klonz ihr als erstes beigebracht,, das, wenn ein Musiker erst einmal zu spielen begonnen hatte, er sich nicht mehr um seine Umgebung kümmern sollte. Konzentriert darauf, nicht aus dem Takt zu kommen, spürte sie einen leichten Wind, wie er spielerisch ihr durch die Haare fuhr. Nach wenigen Minuten wurde das Geräusch jedoch lauter, Nicole endete kurz vor dem Schluss. Sie wollte es auch nicht übertreiben, außerdem musste sie nach Hause.
Sie blickte in den See und wurde Zeugin von fliehenden, aufgebrachten Fischen, die wie wild versuchten, am Wasserrand Platz zu finden. Staunend beobachtete sie das Spektakel und blickte in die Mitte des Wassers, um vielleicht den Grund für diese Reaktion zu sehen. Doch außer einigen Blättern am Grund und aufgeweichten Brotkrümeln war nichts zu sehen.
Kopfschüttelnd ging sie einen Schritt zurück, stolperte, versuchte sich zu fangen und dabei fiel ihr die Flöte aus der Hand und in das Wasser hinein. Für schier ewige Minuten stand sie reglos da und konnte sich nicht rühren. Sie starrte nur auf die Flöte, als diese plötzlich wie durch Zauberei wieder an die Oberfläche kam. Nicole ergriff das Instrument, packte es, nachdem sie die silberne Flöte untersucht und gereinigt hatte, in ihren dafür vorgesehenen Kasten und machte sich zügig daran, nach Hause zu kommen.
Das Thema in Biologie am nächsten Tag interessierte Nicole nur wenig. In ihr fuhren die Gedanken Karussell. Was war mit den Fischen gestern nur los? Hatte es was mit ihrem Flötenspiel zu tun? War das mit der Flöte wirklich so geschehen, oder hatte ihr die Fantasie einen Streich gespielt? Immerhin war es ein sehr warmer Tag gewesen, möglich konnte es doch sein?
Dass Klingeln der Schulglocke hatten sie aufblicken lassen. „Herr Bruhnert, ich habe eine Frage!“ Der Mann, der auf diesen Namen hörte, war dabei, zu gehen, als er innehielt. „Ja Nicole?“
„Also, meine Frage hat nichts mit dem Thema zu tun, eher im... also ich war gestern an einem kleinen See, in dem Goldfische drin waren und plötzlich schwammen die Tiere an den Rand und zappelten, sprangen, einfach so. Haben Sie so etwas schon mal gehört?“
„Nun, vielleicht wurden sie von etwas verschreckt oder ein Raubfisch tauchte auf.“
„Das hätte ich gesehen, doch da war nichts, nur ich mit meiner Flöte...“
„ dann weiß ich, sie wollten den Klängen deiner Musik lauschen! Und nun entschuldige mich bitte, ich muss weiter!“ Mit diesen Worten ließ er sie stehen, ohne sie weiter zu beachten. Wut stieg in ihr auf. Oller Blödsack, konnte er nicht ernst bleiben? Hätte er nicht einfach sagen können, sorry, aber das weiß er nicht! ?Männer! Mit Groll im Bauch betrat sie den nächsten Unterrichtsraum.
Frau Vogt kam etwas zu spät und entschuldigte sich vielfach. Sie war die Klassenlehrerin und dadurch sehr pflichtbewusst. Ihr Blick fiel zuerst auf Nicole, die missmutig auf ihrem Platz saß. „Na Nicole, willst du deinen Ärger nicht erzählen?“ Das junge Mädchen schaute ihre Lehrerin misstrauisch an. „Ach nee, mir glaubt das eh keiner!“
„Nun, wenn du es nicht erzählst, dann kann man das so schlecht sagen...“ Nicole´s Augen wurden klein und schmal. „Aber wehe, ihr lacht!“
Und sie erzählte von der Begebenheit, die ihr vor einem Tag im Westpark passierte.
„Irre Story, was war denn mit den Fischen los?“ Torben, ein sehr stämmiger, jedoch offener Junge war durch Nicole´s Erzählung sichtlich neugierig geworden. Frau Vogt runzelte die Stirn. „Nun, da wir hier im Klassenraum die Antwort nicht finden und die letzte Stunde ausfällt, würde ich vorschlagen, wir marschieren zum Westpark.“ Das Gejubel der fünfundzwanzig Schüler wurde hörbar. Und so ging die 7a auf Wanderschaft, mit Nicole an ihrer Spitze.
Es war fast Sommer, die Knospen an den Bäumen waren dick und dauerte nicht lange, bis sie aufgingen und in zarten Rosa oder Gelb erstrahlen würden. Dass Rufen von Kranichen erreichte die Ohren der Schüler. Plaudernd und lachend betrat die Klasse nach längerem Fußmarsch den großen Park, in dem heute mehr Leute waren, wie Nicole bemerkte. Viele ältere Menschen kamen ihnen langsam entgegen, manche eingehackt und die Natur genießend, andere saßen auf einer Parkbank und lasen Zeitung.
„Wo geht es jetzt lang, Nicole?“ Die Lehrerin schaute sich fragend um. „Dort in den Waldabschnitt hinein, dann sind wir da!“
„Hey Nicole, wer zuerst da ist!“ Markus, der beste Läufer in der Klasse tänzelte auffordernd auf der Stelle. Sie überlegte. Zu dem Waldstück waren es vielleicht zweihundert Meter, für einen Sprint zu lang. Für´s Joggen jedoch reichte es. „Nein, macht das nach der Stunde, okay?“ Frau Vogt hatte Markus auf die Schulter gefasst und er hörte unverzüglich mit dem Gehhopse auf. Sie gingen gemütlich über den Rasen, da der Weg, auf dem sie gegangen waren, in eine andere Richtung führte.
„So, hier ist es!“ rief Nicole und war stolz, ihren „geheimen“ Platz präsentieren zu können. Fragende Blicke trafen sie. Nicole drehte sich um und schaute auf die Wasseroberfläche, auf der sich eine Nebelschicht gebildet hatte und ein Blick auf den Grund und das Wasser nicht zuließ. „Wie – seht ihr es nicht?“ Nicole spürte ihr Herz klopfen. „ Nein, nicht wirklich, aber nett ist diese Gegend, wirklich.“ Torben versuchte, die aufkommende Verwirrung der einzelnen aufzubrechen und Nicole zu helfen, doch vergebens.
„Nicole, du sagtest mir, erst gestern wärst du hier gewesen, doch nun... was ist hier gestern passiert?“ Dem jungen Mädchen rasten von einer Sekunde zu den nächsten zig Fragen durch den Kopf. Doch nun musste erst mal eine Antwort her, und zwar eine, die glaubhaft klang.
„Tja, es tut mir furchtbar leid, ich bin wohl einem Traumbild nachgelaufen, ich war wirklich hier, doch dann muss ich im Sitzen eingeschlafen sein, müde war ich auch und dann hab ich so intensiv geträumt, das ich es für Realität empfunden habe.“ Sie drehte sich wieder um und wieder sah sie den Nebel verdeckten See. Was war hier nur los? „Hey – lass dich in ein Schlaflabor einweisen, die checken deine Gedanken!“
„Klaus, solche Sprüche will ich nicht mehr hören, ist das klar?“ Frau Vogt klang vorwurfsvoll.
„So was ist bestimmt jeden von euch schon mal passiert, da mist nichts abwertendes dran, im Gegenteil, Träume sind...“ Nicole hörte nicht mehr zu, sondern ging langsam rückwärts aus der Gruppe, die ihr Weggehen nicht bemerkte. Nach einer Weile drehte sie sich um und lief mit Tränen in den Augen aus dem Wald, wieder in den Park hinein. Sie setzte sich auf eine Parkbank, die frei war und begann wenig später hemmungslos zu weinen. Sie winkelte ihre Beine an, umklammerte ihre Arme darum und ließ den Tränen freien Lauf. „Na, wer wird denn so weinen?“ Eine männliche, dunkle Stimme drang an Nicole´s Ohr, doch konnte sie sich vor der Verzweiflung, die sie ergriffen hatte, nicht lösen. Immer wieder kamen die Gedanken, sie könne ernsthaft krank sein, in ihr hoch und ließen die Tränen fließen. „Nach Liebeskummer klingt das Schluchzen nicht.“ Die Männerstimme hatte einen Hauch heller geklungen und Nicole blickte auf. Sie wischte sich mit dem Jackenärmel rasch die Tränen weg, um den Mann, der mit ihr sprach, besser in Augenschein zu nehmen. Neben ihr saß ein älterer Herr, welcher in einen weiten Mantel gehüllt war. Sein Haar war dunkelgrau, hatte aber keine Geheimratsecken. Seine hellblaue Augen schauten sie mitfühlend an. Sein Gesicht war von Stoppeln besetzt, was das lächelnde Gesicht ein wenig schmutzig aussehen ließ. Auf seiner Nase war eine kleine Lesebrille. Dieses Gesicht kannte sie irgendwo her, nur wo hatte sie es schon mal gesehen? Ein pensionierter Lehrer? Ein weggezogener Nachbar?
„Bitte, gehen Sie!“ Das war knapp, aber direkt. Er stand auf und war im Begriff, zu gehen. „Nein, halt warten Sie!“ Der Mann schaute das Mädchen fragend an. Sie sah ihn flehend an. „Es tut mir leid, die Bank ist für alle da, Entschuldigung.“ „Bist du okay?“ Die Stimme klang leicht besorgt. Sie kannte ihn, nur woher? Diese Stimme... wer war er nur? Nicole ging innerlich alle Männer in der Familie durch, ja – da war er. Doch waren das mehr als vier Jahre her, das sie ihn gesehen hatte. Ihr Großvater Jacob. Er war im Gesicht kaum verändert, sie hatte ihn nur an der Stimme wiedererkannt.
„Ja, mir geht’s wieder gut, es waren mehr Wuttränen, nichts wirklich ernstes, schon vergessen.“ Die Art, die der Mann Nicole daraufhin ansah, zeigte deutlich, das er gern die ganze Wahrheit hören wollte. „Nein, wirklich nicht, Opa, mir geht’s gut!“ „Du hast mich wiedererkannt, nach all den Jahren?“ Sie nickte kurz, danach kamen ihr wieder die Tränen, diesmal vor Freude. Er nahm seine Enkelin in den Arm und redete sanft auf sie ein. Nach schier unendlichen Minuten löste er sich von ihr und fragte sie, was denn nun wirklich geschehen sei. Und Nicole begann zu erzählen, was ihr am gestrigen Tag widerfahren war.
„Es ist keine Krankheit, es ist eher eine Gabe, Nicole. Du brauchst davor keine Angst zu haben.“ „Aber was ist das für ein See? Kann ihn jeder in der Familie sehen?“ „Jeder, der Musik in seinem Herzen trägt und sie dort wohnen lässt, sonst sieht ihn niemand.“
„ Die Musik hat nicht umsonst einen Notenschlüssel gleich zuerst vor den Noten, sehe ich das richtig Großvater?“ Er nickte bestimmt. Doch noch immer war Nicoles Kopf voller Fragen. „Was war das für ein Wesen im See, hat es einen Namen vielleicht, ist es immer so gut?“
„Darüber gibt es viele Erzählungen. Doch wollen wir das nicht bei einer warmen Tasse Kakao besprechen, hier auf der Bank wird es mir alten Mann langsam zu kalt.“ Nicole schaute den Mann, den sie fast vier Jahre nicht mehr gesehen hatte, ungeduldig und wissbegierig an. „Sehr gerne!“ Und so gingen sie gemächlich aus dem Park hinaus in das nächste Cafe.
© Antje Woggon