Der Pedant
Der Pedant
von Francesco Lupo
Herr Föll war spät dran. Der Prozess begann um 9 Uhr, jetzt war es 10 Minuten nach neun, und er hastete den Flur des Gerichtsgebäudes entlang, auf der Suche nach der Zimmernummer 328. Wenn Herr Föll eines nicht mochte, dann waren dies Unkorrektheit und Unpünktlichkeit. Weder bei sich noch bei anderen. Wie er überhaupt ein sehr ordentlicher Mensch war.
Schuld für sein Zuspätkommen war die Straßenbahn, nicht etwa der Gasherd, den seine Frau wieder einmal nachlässig ausgeschaltet hatte. Immer drehte sie den Knopf nur ungefähr nach oben. Aber mit solchen Dingen durfte man nicht spaßen, wie er ihr des öfteren, ach was, wie er ihr zigmal versichert hat. Wenn der Knopf nicht hundertprozentig nach oben zeigt, könnte es sein, dass noch geringe Mengen Gases ausströmen und zu einer Katastrophe führen.
Als er ihr dies erklärt und sie wie gewöhnlich nur gelangweilt mit dem Kopf genickt hatte, war es 8 Uhr 25. Um 8 Uhr dreißig ging die Bahn. Föll benötigte niemals mehr als drei Minuten bis zur Haltestelle. Und so erreichte er sie auch pünktlich. Dort musste er jedoch mit Schrecken erkennen, dass die Bahn gerade abgefahren war. Zwei Minuten zu früh! Föll war außer sich.
Einzig diesem Umstand war es zu verdanken, dass er zu spät im Gerichtsgebäude eintraf. Und dieser Flur wollte nicht enden. Zimmer 325… 326… 327… 32… 329, wo nur befand sich das Zimmer 328? Noch einmal durchschritt er den langen Gang, vergeblich. Offenbar gab es diesen Raum nicht. Föll schaute vorsorglich auf den Aushang vor dem Zimmer 32 - zwischen 327 und 329 gelegen - und fand in der Tat seinen Namen als Zeugen angeführt. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Namensverwandtschaft, dachte er. Auf der Vorladung stand unmissverständlich die Zimmernummer 328! Also setzte er sich vor die Tür auf eine Bank und wartete. Die Minuten verrannen, nichts geschah. Plötzlich öffnete sich die Tür von Zimmer 32, ein Gerichtsdiener erschien, sah Föll dort sitzen und fragte:
„Sind Sie Herr Föll?“
Föll nickte eifrig, zeigte die Vorladung, und der Mann bat ihn herein.
„Guten Tag!“ sagte Föll.
„Sie kommen spät“, war die Antwort des Richters Müller, der im schwarzen Talar hinter einem mächtigen Tisch thronte und mit stechenden Augen über den Rand seiner Brille auf Föll herabschaute.
Erneut kramte Föll seine Vorladung hervor und zeigte auf die Nummer 328.
„Schuld war zunächst die Straßenbahn“, entfuhr es ihm mit dem Brustton der Überzeugung. „Außerdem gibt es in diesem Flur keine Zimmernummer 328, Herr Richter!“
„Dies hier ist zufällig Zimmer 328, Herr…Föll!“ berichtigte ihn der Mann in Schwarz nach kurzem Blättern in den Akten.
„Nein“, widersprach Föll. „Dies ist Zimmer 32. So steht es draußen!“
Der Gerichtsdiener flüsterte dem Richter etwas zu, woraufhin dieser anordnete, die fehlende 8 schnellstmöglich auszutauschen.
„Entschuldigen Sie“, mischte sich Föll ein. „Aber wie wollen Sie eine fehlende Acht austauschen?“
Der vorwurfsvolle Blick des Staatsbeamten traf ihn mit voller Härte.
„Nehmen Sie Platz, Herr Zeuge“, sagte er mit beherrschter Stimme, auf den freien Stuhl vor dem Richtertisch deutend. Föll nahm Platz, die Augen starr auf den Richter geheftet.
„Ich meine ja nur“, griff er leise das Thema noch einmal auf, abschließend. „Austauschen können Sie doch nur etwas Vorhandenes, oder? Und nicht etwas, das ohnehin schon fehlt.“
Der Richter nickte nur abwesend und konzentrierte sich auf die Akte vor sich. So ein Klugscheißer hatte ihm gerade noch gefehlt. Er ließ ein paar Blätter durch seine Finger gleiten und begann:
„Wie Sie wissen, Herr…Föll, handelt es sich um den Abend des 15. Juli dieses Jahres, als im Rahmen einer Schulfeier an Ihrem Gymnasium ein Bild entwendet wurde.“
„ Es ist nicht mein Gymnasium“, berichtigte Föll nun seinerseits den Beamten.“
„Nicht? Hier steht aber…“
„Ich bin nur der Rektor. Das Gymnasium gehört der Stadt.“
Der Augenaufschlag des Richters hätte den Zeugen beinahe getötet.
„Ich meine nur, Herr Richter“, fuhr Föll unbeirrt fort, „man muss doch korrekt sein vor Gericht. Und nicht nur hier. Heute morgen zum Beispiel an der Straßenbahn. Ich war pünktlich, aber…“
Der Richter hob die Hand, was Föll zum Verstummen brachte.
Gut, dachte Föll, dann eben nicht. Wir werden schon sehen, wohin das führt.
„Der Schüler, Gotthilf Mayer“, so der Richter, „wird beschuldigt, am Abend des 15. Juli besagtes Bild von der Wand genommen und vom Schulgelände getragen zu haben. Was wissen Sie darüber?“
„Wie schreibt sich der Junge? Wir haben einen Schüler namens Mayer und einer heißt Meyer. Beide tragen sie den Vornamen Gotthilf.“
Der Richter fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, atmete tief ein und sagte:
„A Y. Der infrage Kommende schreibt sich mit a y. Gottfried Mayer.“
Ach, der Mayer. Den habe ich nicht gesehen an jenem Abend.“
„Wie, Sie haben ihn nicht gesehen? Bei der Vernehmung sagten sie doch Sie hätten!“
„Das war eine Verwechslung, Herr Richter. Ich meinte den Meyer. Sie aber sprechen von Mayer. Das ist etwas ganz anderes.“
Der Atem des Richters ging stoßweise, er versuchte ruhig zu bleiben, was ihm nur teilweise gelang.
„Wenn Sie ihren Kopf wenden, sehen Sie den Schüler Mayer dort auf der Anklagebank sitzen.“
Föll drehte den Kopf, erblickte Mayer und nickte ihm freundlich zu.
„Gotthilf Maaayer“, betonte der Staatsbeamte das A in besonderem Maße, „war also nicht zugegen an diesem Abend?“
„Das kann ich nicht sagen, Herr Richter.“
Langsam fing der Richter an, seine Geduld zu verlieren.
„Wieso nicht?“
„Ich habe ihn nicht gesehen an dem Abend.“
„Also war er gar nicht da?“
„Diese Frage zu beantworten, steht mir nicht zu“, entgegnete Föll. „Der Umstand, dass ich ihn nicht gesehen habe, folgert nicht zwangsweise, dass er nicht da war, Herr Richter.“
„Ich kann Sie vereidigen lassen?“ sagte der Mann im schwarzen Talar warnend.
„Was soll ich denn beschwören?“
„Dass er nicht da war!“
„Dass er nicht da war?“ fragte Föll entgeistert.
„Ja. Sie haben doch gesehen, dass er nicht da war, oder?“
„Verzeihung, Herr Richter. Aber wie könnte ich etwas sehen, das nicht da ist? Geschweige noch darauf schwören, dass es nicht da ist.“
Der Richter griff in seine Tasche, kramte ein Hustenbonbon hervor und steckte es sich in den Mund, sichtlich nach Fassung ringend.
„Ich könnte vielleicht beschwören…“ räumte Föll nachdenklich ein, „dass ich ihn nicht gesehen habe, das vielleicht.“
Richter Müller hatte genug.
„Der Zeuge wird vereidigt“, sagte er, und beinahe hätte man dabei ein hämisches Lächeln vermuten können. „Vielleicht vergehen Ihnen dann die Scherze.“ Jetzt ging Richter Müller zur Sache.
„Ich scherze niemals“, schob Föll nach.
Der Gerichtsdiener erhob sich, trat vor Föll und begann mit der Zeremonie, Föll schwor. Daraufhin der Richter:
„Ihr Name?“
„Sebastian Hubertus Föll.“
„Ihr Beruf?“
„Ich bin Rektor des Max-Planck-Gymnasiums.“
„Geboren?“
„In meinem Ausweis steht das Datum des 26. März.“
„Was soll das bedeuten?“ erregte sich der Richter. „In Ihrem Pass steht…“
„Ja“, erklärte Föll. „So steht es auch in meinem Pass. Stünde ich nicht unter Eid, hätte ich jetzt vielleicht leichtfertig die Unwahrheit gesagt. Aber bei meiner Geburt war ich noch sehr jung. Zu jung, um das genaue Datum zu wissen. Daher berufe ich mich auf meinen Ausweis.“
Dem Mann auf dem Richterstuhl schien es im schwarzen Talar warm zu werden.
„Welches Jahr?“ fragte er ungeduldig.
„1952. Nach Christi.“
„Sie kennen also besagten Mayer?“ begann der Richter mit dem Verhör, und man erkannte deutlich, dass er nun das Heft nicht mehr aus der Hand geben wollte.
„Natürlich. Er zieht den Vorhang.“
„Bitte?“
„Den Vorhang, Herr Richter. In der Aula des Gymnasiums, des städtischen Gymnasiums, haben wir eine Bühne mit einem Vorhang. Den zieht der Mayer.“
„Sie meinen, Herr…Föll, dass besagter Mayer hinter der Bühne steht und dafür sorgt, dass der Vorhang auf und wieder zu geht?“
„Jawohl!“
„Und an jenem Abend wurde der Vorhang bedient?“
„Ja.“
„Aber dann muss er doch da gewesen sein.“
„Wahrscheinlich. Zuweilen zieht auch der Meyer.“
„Herr Zeuge, halten Sie uns hier nicht zum Narren!“
„Das würde ich nie tun, Herr Richter. Aber was Sie brauchen sind Fakten, nicht Mutmaßungen, oder? Der Umstand, dass der Vorhang bewegt wurde, spricht in der Tat dafür, dass Mayer anwesend war.“
„Aber Sie haben ihn nicht gesehen.“
„Nein. Aber den Meyer. Es ist ein ziemlich dicker Vorhang mit altgriechischen Motiven...“
„Danke“, unterbrach ihn der Richter, „so genau brauchen wir das gar nicht zu wissen.“
„Schreiben Sie auf“, richtete sich der Mann im Talar an den Schreiber, „der Zeuge Föll hat den Beklagten nicht gesehen und weiß nichts über den Verbleib des Bildes. Ende!“ Und zum Zeugen gewandt:
„Da Sie über das Bild nichts wissen, dürfen Sie gehen.“
„Wer sagt das?“
„Was?“ fragte der Richter.
„Dass ich nichts über den Verbleib des Bildes weiß, Herr Richter.“
„Wollen Sie behaupten, Sie wüssten davon?“
„Natürlich. Der Meyer hat’s genommen!“
„Welcher?“
„Der mit dem E.“
„Das haben Sie gesehen?“ fragte Richter Müller lauernd.
„Ja!“
„Aber dann haben wir hier ja den falschen Angeklagt.“
„Es scheint so.“
Der Richter konnte sich kaum beruhigen.
„Sie haben also gesehen, Herr…Föll, wie der Meeyer das Bild gestohlen hat?“
„Nein, Herr Richter.“
„Herr Zeuge, ich warne Sie! Eben haben Sie gesagt der Meyer hätte es gestohlen und nun…“
„Das habe ich nie behauptet, Herr Richter. Ich sagte: Genommen. Der Meyer hat’s genommen.“
Der Richter beugte sich ganz weit vor:
„Das ist Vertuschung einer Straftat, wissen Sie das?“
„Wieso? Das Bild steht im Keller der Schule.“
„Dann hat er’s im Keller versteckt!“
„Nein.“
„Herr Zeuge, ich warne Sie zum letzten Mal!“
„Nein, Meyer hat’s auf mein Geheiß hin in den Keller gebracht, damit es während der Feier nicht gestohlen wird. Im Anschluss haben wir vergessen, es wieder aufzuhängen.“
Der Richter überdachte die Situation einen Moment, schloss leise die Akte und sagte zu Föll:
„Ich hoffe, Sie nehmen mir das jetzt nicht übel, Herr…Föll. Aber Sie sind schon ein Pfennigfuchser.“
„Ich versuche nur korrekt zu sein, Herr Richter.“
„Dennoch muss ich anerkennend sagen: Für einen mittleren Beamten sind Sie erstaunlich klug.“
„Ich würde das Kompliment gerne zurück geben, Herr Richter. Aber noch stehe ich unter Eid…“