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Der Pestkopf
„Du alter Feigling!“ beschimpfte sich Günter, als er die Telefonzelle des Krankenhauses St. Josef verließ. Die Wahrheit hatte er seiner Frau sagen wollen. Nicht die ganze Wahrheit, aber einen ersten Schritt. Zeit wollte er gewinnen, deshalb hatte er ihr erzählt, er rufe sie aus dem Madeira-Urlaub an. Mit gesenktem Kopf trottete der Patient an der Anmeldung vorbei. Sein dunkelblauer Bademantel hing an den zu kurz geratenen Beinen herunter und reichte ihm fast bis zu den Knöcheln. Zum Glück hatte Günter ein Einzelzimmer, weshalb es nur eine Person im Raum gab, die er nicht ausstehen konnte. Er legte sich in sein ungemachtes Krankenbett, rollte sich zusammen und vergrub sein rundliches Gesicht unter dem Bettzipfel. Nein, so mit sich im Argen konnte er nicht sterben. Seine Schuld quälte ihn mehr als diese Lungenentzündung, die ihm den sicheren Tod bringen würde. „Drei Wochen höchstens“, war die unverblümte Vorhersage der Ärzte, was Günters Lebenserwartung betraf.
Über ein Jahr lang hatte er ein Doppelleben geführt. An einer Bar lernte er diesen ungewöhnlichen jungen Mann kennen, mit dem er zum ersten Mal seine Leiche aus dem Keller holen und seine verdrängte Homosexualität ausleben konnte, bis er diesen AIDS-Test machen ließ. Nachdem er von seiner HIV-Infizierung erfahren hatte, brach er zwar den Kontakt zu seinem Liebhaber ab, doch da war es zu spät. Da er in all der Zeit seine ehelichen Pflichten erfüllt hatte, widerwillig zwar, aber funktionierend, musste er Annette angesteckt haben. Fortan vermied Günter Sex mit seiner Frau, bis auf einige Anstandsübungen, die ihm Ruhe von den Rechtfertigungen verschafften. Die Wahrheit konnte er ihr nicht gestehen, und mit der Lüge lebend war er bald nur noch die traurige Parodie eines Ehemannes. Der Kinder zu Liebe führten sie die sinnentleerte Partnerschaft vier Jahre weiter, bis Annette ihn bat, sich eine Wohnung zu suchen. Ob sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte, vermochte Günter nicht zu beurteilen, und wenn ja, wäre es für ihn nur eine Absolution gewesen.
So lag der Todkranke im Schatten der Dämmerung, der das Weiß, welches das Krankenzimmer dominierte in ein Dunkelgrau der Vergänglichkeit färbte. Es war der dritte Tag im Krankenhaus, und Günters Hustenanfälle wurden ausgedehnter und blechern. Seine Atemzüge erschienen ihm von Tag zu Tag dünner, ständig dürstete er nach Sauerstoff. Sollte er hier elendig verrecken, wie ein Verbrecher, der endlich seine gerechte Strafe erhielt? Seine Gedanken pendelten zwischen Sühne und Egoismus. Mal fand er, eine Lebensbeichte wäre seine Pflicht, denn Annette müsse endlich zu ihrem Recht kommen und die Wahrheit erfahren, dann dachte er wieder, es wäre das Beste, wenn er als Opfer einer schweren Lungenentzündung aus dem Leben treten würde, und die Kinder hätten ein unbeschädigtes Bild von ihrem Vater. Unruhig wälzte er sich auf der Matratze, getrieben von dem inneren Dämon der Schuld. Obwohl er ganz alleine im Zimmer war, unterdrückte er die Befreiung des Niesens, wie er es immer gemacht hatte. Jetzt diente ihm dieser Akt der Verklemmtheit zur Selbstkasteiung. Überhaupt nahm er sein Leiden an als gerechte Strafe, die letzte Buße als Vorstufe des Fegefeuers. Er schlief ein, und im Traum war er der debile Anführer einer Truppe von schwulen, infizierten SS-Männern, die im Rotlicht einer Kellerbar ihren Samen zusammen mengten, den sie als chemische Waffe gegen den Rest der Welt einsetzen wollten. Auch im Traum war er sich selbst zuwider.
Nach drei Tagen traf Günter eine Entscheidung: Mit vierzig Grad Fieber stand er auf, legte erstmals seit Tagen den nach Schweiß stinkenden Bademantel ab und quälte sich in seinen ausgebeulten Trainingsanzug. Geschlaucht schlurfte er zur Telefonzelle und bestellte ein Taxi zur Taunusstraße, wo seine Familie wohnte. Nach einer zwanzigminütigen Fahrt bezahlte Günter den Fahrer, lehnte dessen Hilfe, ihn zu stützen ab, und läutete an der Tür. An diesem Morgen in den Herbstferien waren Annette und die beiden Kinder zu Hause. Annette war entsetzt, als der Mann, der sie vor drei Tagen aus dem Urlaub angerufen hatte, mit aschgrauem Gesicht und matten Augen vor ihr Stand.
„Hallo Annette. Ich bin zurück geflogen.“ Ein langer Hustenanfall unterbrach ihn.... „Hab mir eine Erkältung eingefangen.“ ...und beendete seine Ausrede.
„Günter, du siehst schlimm aus. Leg dich auf das Sofa. Ich hol dir eine Decke und bring dir einen Tee. Und dann erzählst du, was wirklich los ist“.
„Zum ersten Mal in meinem Leben will ich ein offenes Gespräch mit meinen Kindern führen“, nahm sich Günter vor, als er seinen Körper auf die Couch sinken liess.
„Und Annette muss die Wahrheit erfahren“, dachte er, ehe er für immer einschlief.