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Der Pestkopf

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06.07.2006
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Der Pestkopf

„Du alter Feigling!“ beschimpfte sich Günter, als er die Telefonzelle des Krankenhauses St. Josef verließ. Die Wahrheit hatte er seiner Frau sagen wollen. Nicht die ganze Wahrheit, aber einen ersten Schritt. Zeit wollte er gewinnen, deshalb hatte er ihr erzählt, er rufe sie aus dem Madeira-Urlaub an. Mit gesenktem Kopf trottete der Patient an der Anmeldung vorbei. Sein dunkelblauer Bademantel hing an den zu kurz geratenen Beinen herunter und reichte ihm fast bis zu den Knöcheln. Zum Glück hatte Günter ein Einzelzimmer, weshalb es nur eine Person im Raum gab, die er nicht ausstehen konnte. Er legte sich in sein ungemachtes Krankenbett, rollte sich zusammen und vergrub sein rundliches Gesicht unter dem Bettzipfel. Nein, so mit sich im Argen konnte er nicht sterben. Seine Schuld quälte ihn mehr als diese Lungenentzündung, die ihm den sicheren Tod bringen würde. „Drei Wochen höchstens“, war die unverblümte Vorhersage der Ärzte, was Günters Lebenserwartung betraf.

Über ein Jahr lang hatte er ein Doppelleben geführt. An einer Bar lernte er diesen ungewöhnlichen jungen Mann kennen, mit dem er zum ersten Mal seine Leiche aus dem Keller holen und seine verdrängte Homosexualität ausleben konnte, bis er diesen AIDS-Test machen ließ. Nachdem er von seiner HIV-Infizierung erfahren hatte, brach er zwar den Kontakt zu seinem Liebhaber ab, doch da war es zu spät. Da er in all der Zeit seine ehelichen Pflichten erfüllt hatte, widerwillig zwar, aber funktionierend, musste er Annette angesteckt haben. Fortan vermied Günter Sex mit seiner Frau, bis auf einige Anstandsübungen, die ihm Ruhe von den Rechtfertigungen verschafften. Die Wahrheit konnte er ihr nicht gestehen, und mit der Lüge lebend war er bald nur noch die traurige Parodie eines Ehemannes. Der Kinder zu Liebe führten sie die sinnentleerte Partnerschaft vier Jahre weiter, bis Annette ihn bat, sich eine Wohnung zu suchen. Ob sie ein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte, vermochte Günter nicht zu beurteilen, und wenn ja, wäre es für ihn nur eine Absolution gewesen.

So lag der Todkranke im Schatten der Dämmerung, der das Weiß, welches das Krankenzimmer dominierte in ein Dunkelgrau der Vergänglichkeit färbte. Es war der dritte Tag im Krankenhaus, und Günters Hustenanfälle wurden ausgedehnter und blechern. Seine Atemzüge erschienen ihm von Tag zu Tag dünner, ständig dürstete er nach Sauerstoff. Sollte er hier elendig verrecken, wie ein Verbrecher, der endlich seine gerechte Strafe erhielt? Seine Gedanken pendelten zwischen Sühne und Egoismus. Mal fand er, eine Lebensbeichte wäre seine Pflicht, denn Annette müsse endlich zu ihrem Recht kommen und die Wahrheit erfahren, dann dachte er wieder, es wäre das Beste, wenn er als Opfer einer schweren Lungenentzündung aus dem Leben treten würde, und die Kinder hätten ein unbeschädigtes Bild von ihrem Vater. Unruhig wälzte er sich auf der Matratze, getrieben von dem inneren Dämon der Schuld. Obwohl er ganz alleine im Zimmer war, unterdrückte er die Befreiung des Niesens, wie er es immer gemacht hatte. Jetzt diente ihm dieser Akt der Verklemmtheit zur Selbstkasteiung. Überhaupt nahm er sein Leiden an als gerechte Strafe, die letzte Buße als Vorstufe des Fegefeuers. Er schlief ein, und im Traum war er der debile Anführer einer Truppe von schwulen, infizierten SS-Männern, die im Rotlicht einer Kellerbar ihren Samen zusammen mengten, den sie als chemische Waffe gegen den Rest der Welt einsetzen wollten. Auch im Traum war er sich selbst zuwider.
Nach drei Tagen traf Günter eine Entscheidung: Mit vierzig Grad Fieber stand er auf, legte erstmals seit Tagen den nach Schweiß stinkenden Bademantel ab und quälte sich in seinen ausgebeulten Trainingsanzug. Geschlaucht schlurfte er zur Telefonzelle und bestellte ein Taxi zur Taunusstraße, wo seine Familie wohnte. Nach einer zwanzigminütigen Fahrt bezahlte Günter den Fahrer, lehnte dessen Hilfe, ihn zu stützen ab, und läutete an der Tür. An diesem Morgen in den Herbstferien waren Annette und die beiden Kinder zu Hause. Annette war entsetzt, als der Mann, der sie vor drei Tagen aus dem Urlaub angerufen hatte, mit aschgrauem Gesicht und matten Augen vor ihr Stand.
„Hallo Annette. Ich bin zurück geflogen.“ Ein langer Hustenanfall unterbrach ihn.... „Hab mir eine Erkältung eingefangen.“ ...und beendete seine Ausrede.
„Günter, du siehst schlimm aus. Leg dich auf das Sofa. Ich hol dir eine Decke und bring dir einen Tee. Und dann erzählst du, was wirklich los ist“.
„Zum ersten Mal in meinem Leben will ich ein offenes Gespräch mit meinen Kindern führen“, nahm sich Günter vor, als er seinen Körper auf die Couch sinken liess.
„Und Annette muss die Wahrheit erfahren“, dachte er, ehe er für immer einschlief.

 

Hallo BacardiFrieser,

etwas mehr Ruhe und Platz hättest du dir für deine Geschicht gern nehmen können. Schließlich passiert eine ganze Menge.
Manchmal ist der Aufbau ungeschickt, jedenfalls für Rezensenten für mich.

Seine Schuld quälte ihn mehr als diese Lungenentzündung, die ihm den sicheren Tod bringen würde. „Drei Wochen höchstens“,
Diese Information vor der Information ener ausgebrochenen AIDS Erkrankung wirkt erstmal komisch, weil ich sofort denke, entweder Günter stirbt vorher oder die Lungenentzündung ist geheilt.
Das trifft wahrscheinlich sogar bei einer AIDS-Erkrankung zu. Die Patienten sterben ja weniger an dem Virus als an einer durch das Immunsystem nicht mehr abzuwehrenden Infektion. Eine akute Lungenentzündung dürfte also schneller zum Tod führen. Wenn sie geheilt wird hängt der Sterbezeitpunkt aber von der nächsten Infektion ab. Die kann bei entsprechender Vorsicht aber auch länger auf sich warten lassen.

Die Tempi würde ich umstellen. Alles was mit dem Krankenhausaufenthalt zu tun hat, in die Gegenwart, dann können die Rückblenden in der einfach Vergangenheit bleiben. Im Moment benutzt du für Rückblenden und aktuelles Geschehen die gleiche Zeitform.

Durch die knapper Erzählung werden die Konflikte nicht wirklich greifbar. Die Befreiung, die er anfangs erlebt haben muss, als er seine Homosexualität auslebte genauso wenig, wie die Gewissensbisse, die er sich während dieser zeit des Betrugs schon gemacht haben muss. Die sind ja nicht erst mit der HIV-Infizierung gekommen.
Was hat ihn zum Beispiel bewogen überhaupt einen Test zu machen, wenn er nur mit einem Mann Sex hatte? In den meisten Fällen bricht die Krankheit ja erst lange nach der Infizierung aus. Es gibt Menschen, die leben jahrelang mit dem Virus, ohne an AIDS zu erkranken.
Allgemein schildest du Günter, als hätte er ein ausuferndes Leben geführt. Angesichts der Erkrankung empfindet er es sicher so, angesichts seiner Feigheit sicherlich auch. Aber eine anscheinend monogame Affäre mit einem einzigen Mann ist ja nun noch keine Orgie.
Den Titel finde ich etwas ungünstig, da viel zu wertend.
Natürlich ist es mies, dass der Mann sich nicht stellt. Das hätte er schon lange tun müssen, schon um zu verhindern, dass auch seine Frau weitere Menschen anstecken kann, um ihr die Chance zu geben, sich auf das Schicksal einzustellen und gegebenenfalls auch an die Zukunft der Kinder zu denken. Bei ihr scheint die Krankheit ja noch nicht ausgebrochen zu sein.
Dass der Mann zu kurz denkt, ist als Realitätsverschiebung in seiner Situation zu erklären, auch, wenn sein Bild bei den Kindern natürlich noch beschädigter wird, wenn sie erst nach dem Tod von seinr Erkrankung erfahren. Aber soetwas realisiert man oft nicht.
Ein Fehler ist mir aufgefallen:

Der Kinder zu Liebe führten sie die sinnentleerte Partnerschaft vier Jahre weiter
Den Kindern ...

Also mir persönlich fasst du das Geschehen etwas zu komprimiert zusammen, den Selbsthass des Mannes hast du glaubwürdig geschildert. Ob im Albtraum nun wirklich auch noch SS-Männer vorkommen müssen, weiß ich nicht. Ist mir ne Spur zu dick.

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Sim,

danke für die lange und sorgfältige Rezension!

Nach einem ersten Entwurf mach ich mich immer ans "Kürzen und Würzen", aber ich glaube bei dieser Geschichte hätte die Erstfassung schon länger sein sollen, um die Beweggründe und Gefühle des Mannes deutlicher zu machen.

Ich dachte mir eben, so prägnant und knapp wie möglich wäre ganz gut...und lag wohl diesmal daneben.

Zitat:
Seine Schuld quälte ihn mehr als diese Lungenentzündung, die ihm den sicheren Tod bringen würde. „Drei Wochen höchstens“,

Diese Information vor der Information ener ausgebrochenen AIDS Erkrankung wirkt erstmal komisch, weil ich sofort denke, entweder Günter stirbt vorher oder die Lungenentzündung ist geheilt.


Versteh ich nicht...ich hab geschrieben, dass die Lungenentzündung ihm den sicheren Tod bringen wird. Also noch 3 Wochen für ihn zu leben. Später dann die Erklärung durch die AIDS-Erkrankung als Grund dafür, dass die Lungenentzündung nicht zu heilen ist.

Die Patienten sterben ja weniger an dem Virus als an einer durch das Immunsystem nicht mehr abzuwehrenden Infektion. Eine akute Lungenentzündung dürfte also schneller zum Tod führen.
Eben deshalb stirbt ja mein Günter an der Lungenentzündung.
Kommt das nicht rüber in der Geschichte?

Die Tempi würde ich umstellen. Alles was mit dem Krankenhausaufenthalt zu tun hat, in die Gegenwart, dann können die Rückblenden in der einfach Vergangenheit bleiben. Im Moment benutzt du für Rückblenden und aktuelles Geschehen die gleiche Zeitform
Klasse Idee! Ich wollte nämlich beim Rückblick nicht in die 2. Vergangenheit gehen; auf diese einfache, elegante Lösung bin ich nicht gekommen. Sehr gut!

Was hat ihn zum Beispiel bewogen überhaupt einen Test zu machen, wenn er nur mit einem Mann Sex hatte? In den meisten Fällen bricht die Krankheit ja erst lange nach der Infizierung aus. Es gibt Menschen, die leben jahrelang mit dem Virus, ohne an AIDS zu erkranken.
Zum Test wird ihn die Tatsache bewogen haben, dass er überhaupt mit einem Mann Sex hatte, denn in Schwulenkreisen ist AIDS nach wie vor besonders stark verbreitet.

Der Kinder zu Liebe führten sie die sinnentleerte Partnerschaft vier Jahre weiter
Zwischen dem Zeitpunkt des positiven Testes und dem Krankenhausaufenthalt, sprich Ausbruch der Krankheit (in diesem Fall eine Lungenentzündung) lagen also diese vier Jahre.
Ich hätte gedacht, so könnte es bei einem AIDS-Kranken laufen: Infektion mit dem Virus, jahrelang passiert nichts, dann eine Lungenentzündung die auf Grund der Immunschwäche tödlich sein kann...vielleicht liege ich auch falsch, ich muss zugeben, dass ich hier nicht groß recherchiert hab.

Allgemein schildest du Günter, als hätte er ein ausuferndes Leben geführt. Angesichts der Erkrankung empfindet er es sicher so, angesichts seiner Feigheit sicherlich auch. Aber eine anscheinend monogame Affäre mit einem einzigen Mann ist ja nun noch keine Orgie.
Es ist ja nicht unbedingt meine Meinung, dass er ein sooo mieses Leben geführt hat, aber in seinem Kopf entwickelt sich durch die mögliche Infizierung seiner Frau und durch die ausgelebte Homosexualität (die gerade bei älteren Semestern sicher in vielen Fällen Schuldbewusstsein erzeugt) ein sehr schlechtes Gewissen. Es geht mir also nicht unbedingt um eine objektive Schuld, sondern um das, was in seinem Kopf vorgeht.
Und das ist auch schon mit eine Erklärung für meine Titelwahl:
Ich fand es eben passend, AIDS, die moderne Pest, und das nagend schlechte Gewissen, die Gedanken, die seinen Kopf verpesten.
Deshalb fand ich den Titel eigentlich schon gut...aber ich hab ja nicht den Abstand des Lesers...der Titel fiel mir übrigens erst nach Fertigstellung des Textes ein.

Ob im Albtraum nun wirklich auch noch SS-Männer vorkommen müssen, weiß ich nicht. Ist mir ne Spur zu dick.

Kann ich nachvollziehen...wär wohl besser, die SS-Männer in Rente zu schicken und durch andere Gestalten zu ersetzen. :D

Also nochmal Danke fürs Befassen mit meinem Text und einen lieben Gruß zurück
Bacardi

 

Ein Thema sehr schön und auch glaubwürdig umgesetzt: Die zu späte Reue.

Den letzten Satz hätte ich nicht erwartet. Der hat mich richtig nachdenklich gemacht.

Habe selbo Partnerin und Tochter. Und zum Glücke vernachlässige ich die beiden Weibsen nicht, sondern rede viel, unternehme was und so weiter. Ich glaube, wenn man ein Vater wäre, der die Familie vernachlässigt und dann diese Kurzgeschichte hier liest: Eventuell bekäme man den Drang, schnell was gegen die Vernachlässigung zu tun.

Der Titel DER PESTKOPF kommt gut. (Wenns auch ein wenig nach Jason Dark klingt - kleiner Scherz...)

Gruß Leichnam

 

Hallo Leichnam,

freut mich, wenn die Geschicht jemanden nachdenklich macht...wobei ich grade beim Schluss eigentlich am skeptischsten bin, da mir nichts originelleres als das Ableben des Prot als Ende einfiel.

Ja, den Titel find ich selbst auch gelungen :)
Ich muss aber ehrlich zugeben: Jason Dark kenn ich gar nicht. Gleich mal googeln!

Bacardi

 

Hi Frieser

also die Begeisterung des Titels kann ich nicht teilen. Für dieses sensible Thema recht unpassend, will ich meinen.

Ansonsten finde ich deine Kg recht einfühlsam geschrieben, der Selbsthass deines Prots wird sehr deutlich hervorgehoben.
Mit dem Ende bin ich nicht ganz so zufrieden.
Eigentlich fängt dort der Konflikt ja erst so richtig an - und die Geschichte bricht ab. Einerseits ist das schon von der künstlerischen Seite okay, andererseits finde ich es etwas zu einfach gelöst...

Stilistisch, wie gesagt, angenehm zu lesen. Die Tipps von sim erscheinen jedoch einleuchtend...

grüßlichst
weltenläufer

 

Hallo Weltenläufer,

danke für die Rezension, ist aufbauend.

Stimmt, fürs Ende ist mir echt nichts besseres eingefallen - nur Blödsinn.
Da hab ich das Naheliegendste und Einfachste genommen, ich gebs zu.
In ner schlaflosen Nacht hätte ich mir vielleicht was zusammenspinnen können, aber die war es mir wohl dann doch nicht wert :dozey:

Gruß
Bacardi

 

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