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Der Portier
Er überreichte ihn mir erst, als es für ihn selber bereits zu spät war. Seine Hände waren schon zu schwach um ihn zu halten. Er zeigte mit seinem zitternden Finger auf den Nachttisch neben seinem Bett.
„Du wirst der nächste Schlüsselträger sein, mein Sohn.“ Seine aschfahle Haut schien bei jeder Bewegung zu rascheln.
„Du musst sie suchen!“
„Was suchen, Vater?“
„Die Tür.“
„Welche Tür?“ Starke Krämpfe durchfuhren seinen Körper, Blut quoll aus seinen Poren, wie Kaffee durch seinen Filter.
„Der Mensch ist ein Hort“, presste er zwischen seinem fauligen Zahnfleisch hervor, während sein Gesicht einzufallen schien.
„... die Sonne ist in uns.“
„Ich verstehe das nicht, Vater. Was soll das heißen?“
Er reichte mir schwach ein zerknülltes Stück Papyrus, dass er die ganze Zeit über in seiner Hand gehalten hatte.
„Du wirst sie finden ...“ Blaue Adern rasten über sein Gesicht, wie Würmer auf der Jagd und injizierten ihr todbringendes Gift in die Windung seines morschen Hirns.
„... musst sie finden.“
„Vater ...!“ Seufzend fiel er in sich zusammen.
„Vater ...!“
Er hatte mir sein dunkles Erbe die ganzen Jahre über vorenthalten. Jahre, in denen er mehr fort war, als zuhause bei meiner kranken Mutter und uns Kindern. Meine zwei Schwestern kümmerten sich um den Haushalt und die Pflege der Bettlägrigen, ich sorgte für den Fluss der Gelder, durch Gelegenheitsarbeiten und kleinere Diebstähle, von ihm kam nichts. Manchmal, wenn er Heim kam, brachte er etwas mit. Seltsame Gegenstände aus fernen Ländern, die niemanden von uns satt machten. Zum Sterben aber kam er zurück.
Mir ist lange Zeit nach seinem Tod nicht klar gewesen, was genau die Botschaft seiner letzten Worte war. Nächtelang lag ich wach und starrte auf das Stück Papyrus, das er mir damals gab. Unter der Überschrift Clavis Dolorum war ein Ypsilon gezeichnet, dessen Arme durch zwei kunstvoll gestaltete Schlüssel dargestellt waren. Ein gelber Kreis wurde scheinbar nachträglich an den untersten Punkt der Senkrechten gezeichnet, von ihm ausgehend waren Linien eingezeichnet, die ihn erstrahlen ließen.
„Was willst du mir sagen?“
Es gab für mich kein anderes Thema mehr, mein ganzes Leben drehte sich um die Entschlüsselung des Rätsels.
Auf die Suche begab ich mich aber erst, nachdem meine Mutter gestorben war.
Ich ließ meine Schwestern zurück und zog in die Stadt.
„Man fängt am besten dort an, wo viele Türen sind“, sagte ich zu meiner jüngeren Schwester Edith, die mir beim Abschied weinend um den Hals fiel.
„Pass auf dich auf!“, sagte sie und ging zurück ins Haus.
„Ich schicke euch Geld!“, schrie ich ihr hinterher, doch die Tür war schon zu.
Und so machte ich mich auf, meine Aufgabe zu erfüllen.
Als Unterkunft wählte ich mir ein kleines, ziemlich heruntergekommenes Hinterhofhäuschen im Stadtzentrum, mit kleinem Garten und geräumigem Keller, das ich mir von dem wenigen Ersparten leisten konnte. Von hier aus konnte ich meine Suche koordinieren.
Der Vermieter war ein fetter, ungepflegter Kerl, der mich aber in Ruhe ließ, solange ich meine Miete bezahlte, später dann ließ er sich gar nicht mehr blicken.
Ich fand einen Job als Portier in einem der Luxushotels direkt am Fluss. Ich begrüßte die teils prominenten Gäste, parkte ihre Karossen ein, und verabschiedete sie am Tag der Abreise wieder.
So arbeitete ich tagsüber an der einen Tür und des nachts machte ich mich auf die Suche nach der anderen.
Ich durchforstete die dunklen Straßen und Seitengassen nach Zeichen und Hinweisen, die mich meinem Ziel näher brachten. In meinen Stadtplänen markierte ich sämtliche ypsilonförmigen Straßengabelungen, und davon gab es einige. Wenn ich eine Tür fand, machte ich mich gleich an die Arbeit. Den Schlüssel hatte ich mir an einer Kordel um den Hals gehängt, trug ihn immer bei mir.
Mit der Zeit merkte ich, dass es einige gab, die versuchten mir meine Arbeit zu erschweren. Sie verdeckten Türen, beklebten sie mit Schichten einer seltsamen Masse, einer Art organischer Folie, legten falsche Fährten, die mich Monate und Jahre meiner Zeit kosteten, Zeit, die ich einfach nicht hatte.
Ich stand unter ihrer ständigen Beobachtung, überall konnte ich sie um Ecken blinzeln sehen, sah ihre Zigarettenkippen noch leicht rauchend auf dem Boden liegen, hörte ihre Schritte sich eilig entfernen, wenn ich an einen Türort kam. Sie waren überall schon da, wo ich hinkam.
Meine Werkzeugsammlung vergrößerte sich mit den Hindernissen, die sie mir errichteten.
Bohrer, Teppichmesser, Akku–Schrauber, Sägen, Nadeln und Klammern jeder Art hatte ich immer dabei. Auch mein Keller hatte sich den wachsenden Aufgaben angepasst und war mittlerweile zu einer Werkstatt geworden, die ganz im Zeichen meiner Suche stand. Ich hatte mir zur Heimarbeit schon des Öfteren Objekte mitgenommen, um die Materialien zu untersuchen, mit denen sie mir die Suche so erschwerten. Überall an den Wänden hingen sie, von mir bearbeitet und erforscht. Doch ich fand nichts.
Immer wieder schaute ich mir die Zeichnung an, ohne ihrem Rätsel auf die Spur zu kommen.
Was bedeutete das Ypsilon? Was markierte der Kreis?
Mir kam der Gedanke, dass es sich bei meinem Schlüssel vielleicht nur um einen Teil eines Ganzen handeln könnte. Die Zeichnung zeigte zwei Schlüssel mit einem unbestimmten Gegenstand als Spitze. Was, wenn mein Werkzeug nicht vollständig war?
Ich wollte einen Schlüsselmacher beauftragen, mir ein zweites Exemplar anzufertigen, doch aus unerfindlichen Gründen weigerte dieser sich. Ein zu altes Modell, keine Rohlinge dieser Art. Ich verzweifelte so langsam.
Bei der Arbeit ließ meine Konzentration nach, ich wurde gereizt und ließ meine Launen an den Gästen aus, was schließlich zu meiner Kündigung führte.
Immerhin hatte ich somit Zeit, mich voll und ganz meiner Lebensaufgabe zu widmen.
Oft lag ich einfach dämmernd in meinen Kellerräumen, betrachtete die Zeichnung und meine Versuchsgegenstände und fragte mich, ob ich diese Aufgabe jemals lösen, oder wie mein Vater scheitern und sie an jemand anderen weitergeben würde. An wen sollte ich sie denn weitergeben? An die? Wer waren die überhaupt, warum verfolgten sie mich und erschwerten mir die Suche?
Abends hörte ich sie um mein Haus schleichen, an meine Fenster klopfen, an meiner Türe kratzen. Ich hörte sie flüstern und kichern.
„Ihr verhöhnt mich!“, schrie ich dann und weinte vor Wut, doch darauf nahmen sie keine Rücksicht.
Wenn ich, was selten vorkam, tagsüber das Haus verließ und die Menschen sah, wie sie ihr Leben lebten, beneidete ich sie um ihre Unbeschwertheit, um ihr Nichtwissen. Den Eltern neidete ich ihre Kinder, denen sie ihr Wissen und ihre Weisheit übermitteln konnten, den jungen Männern neidete ich ihre hübschen Freundinnen, die sie zum Essen ausführen konnten, denen sie Anträge machen konnten. Das alles hatte ich nicht. Für mich gab es nur das Eine.
Das Geld ging mir aus und so hörte ich auf zu essen. Brüllender Hunger wurde mein Begleiter, ich verlor Kilo um Kilo. Mein Zustand war schlecht, bei meinen morgendlichen Blicken in den Spiegel ähnelte ich der ausgemergelten Gestalt meines Vaters immer mehr.
„Werde ich so enden wie du?“, fragte ich mein Spiegelbild, doch es gab keine Antwort.
„Hast du die Tür gesucht, so wie ich?“ Tränen stiegen in mir hoch.
„Hast du?“ Ich schlug gegen den Spiegel, doch er blieb unversehrt.
Wie sollte ich in der Verfassung weiter suchen. Ich war kurz davor aufzugeben.
Bis ich es eines Tages fand.
Sie hatten mir den Strom abgedreht. Ich konnte schon seit Langem nicht mehr bezahlen.
Kerzen erleuchteten meine Wohnung, brennendes Altpapier spendete im Winter dezente Wärme.
In einer warmen Nacht im Spätsommer aber saß ich einmal mehr über der Zeichnung.
Meine Knochen schmerzten, aus meinem Magen kam ein hohles Dröhnen. Ich nahm mir eine Kerze und machte mich auf den Weg in mein Badezimmer, zu meinem einzigen Kontakt.
Ich stellte das Licht auf den Waschbeckenrand und betrachtete mein Spiegelbild. Mein Aussehen erinnerte mich an die furchtbaren Photographien aus Kriegsgefangenenlagern, die ich in den Büchern meines Vaters damals sah. Dürr, kraftlos, entehrt. Der Schein der kleinen Flamme warf seltsam lebendige Schatten auf meinem knochigen Körper. Ich hatte genug gesehen für heute. Als ich mich aufrichtete, sah ich es in seiner vollen Pracht. Es stand da, direkt vor mir, wo es immer war. Als wäre es das Natürlichste von der Welt. Es verhöhnte mich, wie die, die mich auf falsche Fährten lockten, mich suchen ließen mein Leben lang. Knochig wie alte Baumäste ragten meine Schlüsselbeine aus der zum Bersten gespannten Haut. Die Linie zog sich unterhalb des Winkels, bis zwischen meine Rippenbögen, die markierte Stelle. Das Sonnengeflecht.
„Der Mensch ist ein Hort“, kamen mir meines Vaters Worte in den Sinn.
Die ganze Zeit über hatte ich den Menschen als Tür gesehen, dabei ist die Tür nur ein Teil von ihm. Von mir.
Ich hob die Kordel, samt des Schlüssels über meinen Kopf. Sie hinterließ blutige Kerben in meiner Schulter, so lange hatte sie sich in mich hineingefressen.
Der Schlüssel verband sich mit meinen Händen, blaue Adern schossen durch mein Gesicht.
Ich steckte den Schlüssel in sein Loch, sofort durchströmte mich eine Wärme, wie ich sie zuletzt im Leib meiner Mutter spürte.
„Er passt.“ Ich sah mich im Spiegel, umgeben von gleißendem Licht.
„Die Sonne ist in uns!“ Der Schlüssel drehte sich im Schloss, als hätte ich es jeden Tag benutzt.
„Ich komme ...“ Weinend vor Glück überschritt ich die Schwelle ...
Als sie die Tür aufbrachen, stockte ihnen der Atem. Sauer drang der Gestank durch die Öffnung hinaus in die Nacht.
„Hier ist es!“, zischte Stolter, der Leiter des Kommandos.
„Setzt die Masken auf!“
Die Truppe schaltete ihre Helmscheinwerfer ein und entsicherte die Waffen.
Hunderte von Fliegen stoben auseinander, als die Lichtkegel sie erfassten.
„Wir gehen rein!“ Stolter war ein erfahrener Mann.
Wie trainiert, setzten sich die Polizisten in Bewegung und betraten einer nach dem anderen das kleine Haus im Stadtzentrum.
Stolter gab Zeichen sich aufzuteilen. Ein Teil blieb im Erdgeschoss, ein anderer nahm die Treppe hinauf, er selber und zwei weitere machten sich auf den Weg, die Kellerräume unter die Lupe zu nehmen. Die Kegel der Scheinwerfer ließen die Einrichtung aufblitzen, die sich bis dahin noch nicht von anderen Müllwohnungen unterschied. Überall lagen Zeitungsstapel, teilweise verbrannt, Wäsche und anderer Müll. Keine Hinweise auf ein Verbrechen. Nur der Gestank ließ Schlimmes erahnen.
Stolters Team war am Fuß der Kellertreppe angelangt, nur die schwarze Tür trennte sie noch von dem, was sie erwartete. Er gab Zeichen und sein Kollege trat zu.
Die Tür flog schwungvoll zur Seite und ließ sie passieren. Was sie nun zu sehen bekamen, raubte ihnen den Verstand. Es dauerte eine Weile bis jemand zu reagieren vermochte.
„Alle Mann hier runter! Und bringt Licht mit!“, befahl Stolter durch sein Walkie-Talkie. Einer der jüngeren Kollegen übergab sich in seinen Helm.
Stolter demontierte den Scheinwerfer vom Helm um die Beleuchtung besser handhaben zu können und machte sich auf den Weg in das Innere des großen Raumes. Der Verwesungsgeruch presste sich durch die Filter der Maske und ließ auch in ihm den Wunsch nach Erleichterung aufkommen, aber er wusste wie man sich in solchen Momenten beherrscht.
Der Rest der Einheit kam die Treppe herunter und gesellte sich zu den Kollegen.
„Heilige Scheiße!“, stieß es aus einem hervor.
Der Standscheinwerfer wurde angeknipst und erleuchtete binnen von Sekunden den Raum taghell.
An den Wänden hingen sie, neben wirrem Gekritzel. Ihre Haut war an den verschiedensten Stellen entfernt, oder aufgeklappt und mit Heftzwecken und Klammern fixiert worden, die Eingeweide teils herausgerissen, teils hingen sie aus den Körperöffnungen. Manchen fehlten Gliedmaßen, die in einem Regal an der Wand gestapelt lagen.
Einige mussten des fortgeschrittenen Verwesungsgrades wegen schon Jahre hier hängen, andere erschienen vergleichsweise frisch. Ihre Hände waren mit Massen von Schrauben in die Wand gedübelt worden, bei einigen hatte nicht gehalten die Hände waren seitlich weggebrochen.
Ein Geräusch holte die Polizisten aus ihrer Starre. Stolter riss seine Waffe hoch und rannte zu einer Tür, hinter der er dessen Ursprung vermutete.
„Gebt mir Deckung!“, wies er seine Kollegen an.
Er riss die Tür auf und erstarrte in seiner Bewegung.
Er sah einen Mann, nicht wesentlich beleibter als ein Skelett. Ein Gegenstand ragte aus seinem Körper, knapp unterhalb seiner flachen Brust, den er mit seinen Händen umschlungen hielt.
„Die Sonne ist in uns!“, wisperte er weinend, während er das Objekt im Uhrzeigersinn drehte.
„Holt den da raus!“, schrie Stolter fast hysterisch. „Das Schwein will ich lebend!“
„Ich komme.“ Der Dürre sank auf seine Knie, noch bevor die zwei herbeieilenden Polizisten ihn zu fassen bekamen, dann vornüber auf den Boden, den Händen entkommend, die ihn ergreifen wollten.
Die rostige Stange bohrte sich durch seinen Rücken und präsentierte ihre blutige Spitze.
„Den können wir vergessen. Checkt seine Funktionen und holt die Spurensicherung.“
Stolter riss sich den Helm vom Kopf und steckte sich eine Gauloise an. Lange hatte er erfolglos die brutalen Morde untersucht, die sich scheinbar planlos in der ganzen Stadt ereignet hatten. Bis eines Tages der Anruf kam. Ein Mister Minit Mitarbeiter meldete einen scheinbar Geistesgestörten, der handgreiflich wurde, nachdem er sich geweigert hatte einen rostigen Metallpflock zu dublizieren.
Anhand der Videoüberwachung wurde der Irre identifiziert und ausfindig gemacht.
"Was für ein Wahnsinn!"
Ein zerfleddertes Stück Papier erregte Stolters Aufmerksamkeit. Er schlenderte zu dem verkrusteten Tisch auf dem es lag, nahm es in die Hand und betrachtete es gründlich, dann legte er es wieder hin und machte sich wie seine Kollegen an die Durchsuchung des Gewölbes. Was sollte diese kindliche Schreibübung schon mit dem Fall zu tun haben? Jeder Schüler kommt mal beim Ypsilon an.
Dann schrie einer der Kollegen aus einer der Ecken:
„Hey Chef, hier sind ein paar Klamotten! Ich glaube, er war Page, oder so was!“
Stolter löschte seine Zigarette auf dem Stück Papier.
"Ja, ist gut! Lass die Sachen da liegen, wir hauen jetzt ab!"
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