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Der Prozess
Der Richter betrat den Saal.
Mit seinen grauen Haaren, dem faltigen, vom Alter gezeichneten, Gesicht und der schwarzen Robe war er eine eindrucksvolle Erscheinung.
Alle Anwesenden erhoben sich.
„Bitte nehmen Sie Platz“, sagte der Richter und ließ sich auf seinen schweren schwarzen Ledersessel sinken.
„Herr Staatsanwalt, Sie haben das Wort“, sagte er.
Der Staatsanwalt, ein Mann in den mittleren Jahren mit aschblondem Haar, erhob sich.
„Sehr geehrtes Gericht, meine Damen und Herren, wir haben uns heute hier zusammen gefunden, um die Angeklagten des millionenfachen Mordes zu überführen. Da in diesem Falle nicht alle Angeklagten in unserem Saal Platz finden, stehen heute stellvertretenden für alle in Untersuchungshaft Inhaftierten, Herr Mallis, Vorstandsvorsitzender der Oris Hirlipp Corporation, Frau Merkel, Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und Herr Kanter von der Werbeagentur Kanter & Holtappels bei uns vor Gericht. Wenn es Euer Ehren recht ist, beginnen ich nun mit der Beweisaufnahme.“
„Ich bin gespannt, Herr Staatsanwalt“, sagte der Richter und lehnte sich zurück.
„Ich rufe den Angeklagten Mallis in den Zeugenstand“, sagte der Staatsanwalt.
Ein gedrungener kleiner Mann erhob sich von der Anklagebank und begab sich in den Zeugenstand. Auf dem Weg dorthin hustete er zweimal.
„Herr Mallis, ist es richtig, dass Ihr Unternehmen, pflanzliche Produkte industriell verarbeitet und den Kunden dann zum Kauf anbietet.“
„Das ist richtig, mmh-ja.“
„Und ist es weiterhin richtig, dass der Konsum dieses Produktes abhängig macht, es sich also um eine Droge handelt.“
Herr Mallis richtete sich etwas auf.
„Ich würde sagen, wir haben viele Stammkunden, die unser Produkt gewohnheitsmäßig konsumieren.“
„Ist Ihnen das interne Memo 105/52 der Oris Hirlipp Corp. ein Begriff, indem eine unabhängige Forschungseinrichtung, die Ihr Unternehmen beauftragt hat, eindeutig feststellt, dass das von Ihnen hergestellte Produkt abhängig macht?“
„Nun, mmh-ja.“
„Und ist Ihnen auch bekannt, dass das Kürzel 105/52 dafür steht, dass dies das 105. Memo des Jahres 1952 ist?“
„Mmmh-ja.“
„Fein!“ Der Staatsanwalt stand auf und begann vor Herrn Mallis auf und ab zu gehen.
„Herr Mallis, kennen Sie auch das Memo 63/62 in dem eindeutig festgestellt wird, dass das von Ihnen angebotene Produkt krebserregend ist? Wenn Sie Sich damit selbst belasten, dann müssen Sie nicht aussagen, dass wissen Sie. Nur Lügen dürfen Sie nicht.“
Herr Mallis schwieg.
„Sind Ihnen des weiteren die Memos zu den Themen, Herzkrankheiten, Schlaganfälle, Unfruchtbarkeit, Fehlbildungen bei Ungeborenen, Impotenz, Grauer Star, chronische Bronchitis, Asthma, Durchblutungsstörungen und Parodontose bekannt?“
Immer noch schwieg Herr Mallis.
„Ist es weiterhin richtig, dass sie in ihr Produkt Schmerzmittel gemischt haben, um schmerzhafte Veränderungen in der Lunge dem Konsumenten zu verheimlichen?“
Herr Mallis schwieg.
„Und ist es nicht auch richtig, dass außerdem Bronchienerweiternde Medikamente in Ihren Produkten enthalten sind, um die Aufnahme der Droge zu erleichtern?“
Ein leises Husten war die einzige Antwort von Herrn Mallis.
„Um Ihr Produkt auch Kinder zugänglich zu machen, enthält dieses seit Anfang der achtziger Jahre Kakao und Menthol. Ist das richtig?“
Schweigen.
„Ist Ihnen bekannt wie viele Menschen jedes Jahr durch die Anwendung Ihres Produktes in Europa getötet werden?“
„Nein.“
„Etwa 1.400.000 Menschen sterben jedes Jahr an den direkten oder indirekten Folgen der Anwendung Ihres Produktes. An den Folgen von Heroin-Missbrauch sterben im Vergleich dazu jedes Jahr etwa 500 Menschen. Herr Mallis, ich habe keine weiteren Fragen.“
Der Angeklagte verließ den Zeugenstand.
„Frau Kanzlerin Merkel, bitte“, rief der Staatsanwalt.
Frau Merkel nahm im Zeugenstand Platz.
„Ist Ihnen bekannt, dass die Bundesrepublik durch die Versteuerung der Produkte von Unternehmen wie der Oris Hirlipp Corp. im vergangenen Jahr 43 Milliarden Euro Steuern eingenommen hat.“
„Ja.“
„Und ist Ihnen auch bekannt, wie viel Geld die Bundesrepublik Deutschland zur Aufklärung über die Risiken dieser Produkte ausgegeben hat?“
„Natürlich, 12,5 Millionen Euro.“
„Richtig, 12,5 Millionen Euro. Es ist eine Farce, Frau Kanzlerin. Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass die Bundesrepublik bei der Umsetzung der EU-weiten Gesetze gegen diese Drogenprodukte um Jahre hinterher hinkt?“
„Das ist mir bekannt.“
„Ist Ihnen außerdem bekannt, dass jedes Jahr in der Bundesrepublik 400.000 Menschen an den direkten oder indirekten Folgen dieser Drogensucht sterben?“
Frau Merkel schwieg.
„Keine weiteren Fragen.“ Der Staatsanwalt setzte sich.
Frau Merkel verließ den Zeugenstand.
„Herr Kanter, bitte!“
Kaum saß Kanter im Zeugenstand, schon war der Staatsanwalt wieder auf den Beinen.
„Herr Kanter, ist es richtig, dass ihr Unternehmen eine wertungsfreie Werbung für die Produkte der Olis Hirlipp Corp. geschaffen hat, die nicht suggeriert, dass die Produkte irgendetwas können, sondern nur darauf abzielt, die Produkte in der Öffentlichkeit präsent zu halten?“
„Das ist richtig.“
„Ist Ihnen weiterhin bekannt, dass es sich hierbei um ein tödliches Produkt handelt?“
„Natürlich. Meine Eltern sind daran gestorben.“
„Warum werben Sie denn dann dafür?“
„Aus unternehmerischer Sicht ist die Werbung für Produkte wie Pallboro durchaus lukrativ.“
„Keine weiteren Fragen.“
„Herr Staatsanwalt“, fragte der Richter. „Möchten Sie eine Pause, bevor Sie zum Schlussplädoyer ansetzen?“
„Nein danke, nicht nötig, Eurer Ehren. Ich verzichte auf ein Schlussplädoyer, da die Fakten für sich sprechen und beantrage die Angeklagten, im Einzelnen, alle Regierungen dieser Erde, alle Angehörigen der Tabak verarbeitenden Industrie und alle Unternehmen und Agenturen, die tabakhaltige Produkte, als etwas Gutes oder nicht Schlechtes darstellen, zum Tode zu verurteilen. Des Weiteren beantrage ich alle Vermögenswerte dieser Personen als Entschädigung an die Opfer, die Raucher, und deren Hinterbliebenen auszuzahlen.“
Der Staatsanwalt setzte sich und strich sich durch die zersausten Haare.
„Das Gericht zieht sich zur Urteilsfindung zurück. Die Sitzung ist geschlossen und wird auf den morgigen Tage verschoben.“ Der Richter und mit ihm alle Anwesenden erhoben sich, dann verließ der alte Mann mit fliegender Robe den Saal.
Ausschnitt aus der Frankfurter Neuen Presse vom Folgetag.
Doppelmord oder Pech?
Berlin – Gestern wurde Staatsanwalt Klaus Heinrich, bekannt geworden als Ankläger in den Tabak-Prozessen, auf dem Nachhauseweg bei einem Autounfall getötet. Der Unfallverursacher beging Fahrerflucht. Richter Seidler, der Vorsitzenden Richter in den bereits genannten Prozessen, erreichte die Nachricht noch am gestrigen Tage. Der ehemalige Raucher und langjährige Mentor Heinrichs erlag in der Nacht einem Schlaganfall. Durch diese tragischen Zwischenfälle werden die Tabak-Prozesse voraussichtlich um Jahre zurück geworfen, wenn sie nicht gar zum Scheitern verurteilt sind. Zurzeit wird spekuliert, ob….