Mitglied
- Beitritt
- 18.01.2007
- Beiträge
- 22
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 10
Der Prozess
Sie befand sich auf einem Karussell. Eines jener, die man heute manchmal noch auf alten Spielplätzen finden kann, mit hölzernem Boden und eisernem Gestänge, befestigt mit einer schweren, im Boden verankerten Eisenstange.
Schon lange war es her, seit sie damit fuhren, manchmal zu fünft oder sechst. Sie bewegten es, indem sie die eiserne, verrostete Drehscheibe in der Mitte des Karussells mit ihren kleinen Händen unter Aufwendung all ihrer Kraft so schnell drehten, bis sie lachend alle durcheinander fielen. Atemlos krallten sie sich an der Eisenstange fest und während das Karussell sich immer schneller drehte, wurden sie fest in die schmalen, hölzernen Sitzbänke gedrückt. Wenn die Fahrt vorüber war, ging es wieder von vorne los, bis der Schwindel ganz von ihnen Besitz ergriffen hatte und sie schwankend über den Platz taumelten, während sie versuchten nicht umzufallen, was ihnen aber fast nie gelang. So verbrachten sie viele wunderbare Nachmittage, besonders in den Sommerferien.
Bis zu dem Tag, an dem sich das furchtbare Unglück ereignete und der kleine Sam aus dem Karussell geschleudert wurde. Seine rechte Hand verfing sich unter der schweren Drehscheibe und während er mit einem von Wut und Schmerz entstellten Gesicht bäuchlings im schmutzigen Sand vor dem Karussell lag, wurde die Hand oberhalb des Handgelenkes Stück für Stück zerfetzt und vollständig abgetrennt. Als er den blutigen Stumpf erblickte, aus dem spitze Knochensplitter ragten, verdrehte er in einem krampfhaften Zucken noch einmal die Augen, bevor er sie ganz schloss. Das nicht langsamer werdende Gefährt riss ihn mit jeder Drehung ein Stück mit sich, so dass sein schmaler Körper auf groteske Weise um die Holzscheibe geschlungen wurde, bis er schließlich vollständig in die Mulde rutschte, die sich durch das stetige Drehen gebildet hatte, und für endlose Sekunden mitgeschleift wurde. Sein schwächlicher Oberkörper wurde unter qualvollen Schmerzen von der riesigen, schweren Holzscheibe zusammengedrückt und zerquetscht. Angelockt von dem angsterfüllten Geschrei und dem verzweifelten Weinen der übrigen Kinder, eilten bald einige Erwachsene zum Spielplatz, von denen sich einer zu dem schwer verletzten Kind hinunter beugte und es zu bergen versuchte, indem er es sachte unter dem Gefährt hervorzog und vorsichtig hochhob.
In diesem langen Moment, als der Mann den leblosen Jungen in seinen Armen hielt, kam das Karussell endlich zum Stehen. Die Luft bewegte sich kaum und das Geschrei der Kinder verstummte, als hätte jemand plötzlich ihre Stimmbänder durchtrennt. Alles schien sich in Zeitlupe abzuspielen: Der Mann, der sich, halb umgedreht und mit dem reglosen Kind auf dem Arm, hilfesuchend umsah. Die Kinder, die ihre Blicke in stummem Entsetzen auf Sams schmale Gestalt richteten, die drei herbeigeeilten Erwachsenen, die das Geschehen ohnmächtig vefolgt hatten. Dann das wieder einsetzende, in hilfloses Schluchzen übergehende Weinen der Kinder. Die unbeholfenen, hilflosen Versuche der Erwachsenen, Sams reglosen Körper wiederzubeleben. Der markerschütternde Schrei des Mannes, als er feststellte, dass Sam tot war.
Nach diesem Unglück durften sie und alle ihre Freunde diesen Spielplatz nie wieder betreten. Einmal noch versuchte sie es heimlich, doch sie fand sich vor einem mauergleichen, undurchdringlichen und wild gewachsenen Gebüsch wieder, durch das es kein Schlupfloch zu geben schien. Es war der Ort, der letztlich das Ende ihrer Kindheit eingeläutet hatte. Monatelang ließ man sie keinen Schritt mehr alleine tun, ihre Eltern waren ängstlich geworden und bewachten jeden einzelnen ihrer Schritte, holten sie von der Schule ab, brachten sie zu Freunden, deren Eltern ebenfalls mit Argusaugen über sie wachten. Keine Streifzüge mehr durch den nahe gelegenen Wald, keine nachmittäglichen Verabredungen mehr allein mit ihren Freunden. Es wurde nie wieder von Sam gesprochen, und man tat so, als sei das Unglück nie geschehen.
Doch nun befand sie sich wieder auf jenem Spielplatz ihrer Kindheit. Sie war verwirrt. Zum einen, weil sie nicht wusste, wie lange sie sich schon an diesem Ort befand und zum anderen, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, wie sie an hierher gekommen war und vor allem aus welchem Grund. Ihr jetziger Wohnort war mehr als hundert Kilometer entfernt und ihre Eltern besuchte sie sehr selten. Seit dem Tod des kleinen Sam hatte sie diesen Ort nicht mehr aufgesucht und schon lange, sehr lange hatte sie nicht mehr an den absurden Unfall gedacht. Sie hatte verdrängt, dass damals niemand in der Lage gewesen war, das Leben von Sam zu retten. Niemand schritt rechtzeitig ein, niemand verhinderte das Schreckliche, und niemand fühlte sich danach verantwortlich.
Irgend etwas hatte sie dazu gebracht, sich in das abgewetzte, verdreckte Karussell zu setzen und dann war sie weggedämmert. Geistesabwesend schaute sie sich um. Ihr fiel auf, dass der Boden vom Regen aufgeweicht war und der Sand sich durch die Unebenheiten im Boden ungleichmäßig verteilt hatte, so dass tiefe Pfützen entstanden waren. Der Platz war heruntergekommen, die Spielgeräte waren mit widerlichem Schmutz behaftet und am Eisengestell der Schaukel blätterte bereits der Rost ab. Als sie hinter sich blickte, wurde ihr gewahr, dass sich an der Stelle, wo sich einmal ein Sandkasten befunden hatte, nur noch eine schwarze, mit lehmartigen Klumpen gefüllte Grube in den Boden senkte. Ein Schaudern ließ sie frösteln und sie drehte sich schnell wieder herum.
Sie war hier völlig allein. Keine spielenden Kinder, keine nach ihren Kindern rufenden und schimpfenden Eltern, noch nicht einmal irgendein Hund aus der Nachbarschaft streunte herum. Während sie versuchte, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, spürte sie eine leicht stockende Bewegung unter sich und mit einem jähen Ruck setzte sich das Karussell ohne erkennbaren äußeren Antrieb in Gang. Die Drehscheibe in der Mitte begann sich quietschend wie von Geisterhand zu bewegen. Ihr Herz schlug schneller und das Gefühl auflodernder Angst machte ihr das Atmen schwer. Das Gefährt beschleunigte seine Fahrt, die Bäume rauschten an ihr vorbei und sie musste sich mit beiden Händen festhalten, um nicht hinausgeschleudert zu werden. Mit einem Mal war ihr, als ob sich ein Schatten hinter ihr befände. Ein bedrohlicher, diffuser Schatten, der sich von hinten an sie herangemacht hätte, sich nun über ihren Kopf beugte und immer größer und dunkler wurde. Zunächst hatte sie nur die Ahnung eines Gefühls einer bedrückenden und bösartigen Präsenz, die sich aber nach und zu verfestigen schien. Sie dachte an den schweren, fauligen Atem eines unförmigen Tieres und eine Vorahnung von dem, was sie noch erwartete, beschlich sie. Ihr Schwindel wurde immer unerträglicher, nur mit Mühe schaffte sie es, sich aufrecht zu halten. Sie musste die Augen schließen, um sich nicht zu übergeben. Eisige Kälte breitete sich kribbelnd in ihren Fingerspitzen aus und begann, sich langsam durch ihre fest um den Eisenring gekrallten Finger weiterzuarbeiten, befiel ihre Hände und umfasste schließlich frostig ihre Handgelenke. Ihre Finger waren steif geworden, und es gelang ihr nicht, auch nur einen einzigen von der rostigen Stange zu lösen. Sie spürte nichts mehr, nur die Kälte, die sich Stück für Stück weiter durch ihr Innerstes hindurch fraß, ihre Arme von außen umhüllte und doch gleichzeitig tief aus ihrem Inneren zu stammen schien. Sie versuchte, sich zu lösen um auf allen vieren zu dem Drehrad zu kriechen und das Karussell so anzuhalten. Doch sie schaffte es nicht, irgendeinen Körperteil aus seiner Erstarrung zu lösen. Selbst ihre Füße schienen mit dem Holz verwachsen zu sein, so steif und gefühllos waren sie.
Mittlerweile war der Schatten größer geworden und hatte sich zu einem feuchten Nebel verdichtet, der sich wie eine betäubende Glocke über sie und das Karussell legte. Dabei drehte er sich unablässig, wie ein schwacher, schwarz gefärbter Tornado. Nur dieser verweilte an einem Ort, nämlich genau über ihr. Undurchdringlich wie eine Wand, schirmte er auch alle Geräusche ab. Sie hörte das Rauschen der Straße nicht mehr, die hinter den wilden Hecken, die den Spielplatz umgaben, verlief. Die Vögel waren fort oder hatten aufgehört zu singen. Nicht einmal das Geräusch des Windes, der eben noch durch die Baumwipfel der am Bach stehenden Bäume gerauscht war, vernahm sie noch. Alles um sie herum wurde von einer unwirklichen Stille erfüllt, nur in ihrem Kopf rauschte es und ihre Gedanken schienen sich ebenso wie das Karussell, auf dem sie sich befand, schneller und schneller zu drehen. Sie konnte nicht mehr denken und auch nichts mehr sehen: ich nahm nur noch den sich windenden schwarzen Nebel wahr, der sich mittlerweile über ihr zu einem immensen Gebilde aufgebläht hatte.
Als sie dachte, sie müsse ohnmächtig werden vor Furcht und Panik und das Herz werde ihr gleich aus der Brust springen so schnell und unregelmäßig schlug es, da begann das riesige Konstrukt über ihr in sich zusammenzufallen und die geschwärzte Atmosphäre klarte nach und nach auf. Dies beobachtete sie nicht, denn sie hielt ihre Augen noch immer fest geschlossen; sie spürte es. Die zähe, undurchsichtige, wabernde Masse war schon fast durchsichtig geworden, als sie es vorsichtig wagte, ihre Augen einen winzigen Spalt zu öffnen. Im nächsten Moment war die Nebelglocke auch schon verschwunden und so plötzlich, wie das Karussell begonnen hatte, sich zu drehen, so unvermittelt hörte es auch wieder auf. Mit einem heftigen Ruck wurde sie seitwärts geschleudert, woraufhin sich ihre Hände gewaltsam und schmerzhaft von der Eisenstange lösten. Sie rutschte von der Holzbank hinunter auf den sandverdreckten Boden und blieb dort einige Sekunden benommen liegen.
Als sie die Augen wieder öffnete, konnte sie nicht glauben, was sie sah. Der Platz war voller Kinder. Sie saßen regungslos auf der Wippe oder oben auf der Rutsche, andere schaukelten still und mechanisch. Einige Kinder standen am Rande des Karussells in der Mulde, die sich dadurch gebildet hatte, indem Kinder oft mit dem sich drehenden Karussell mitgelaufen waren, um es anzuschieben und starrten sie an, mit weitaufgerissenen Augen. Doch plötzlich bemerkte sie, dass außer der unnatürlichen Ruhe noch etwas nicht stimmte: Fast alle Kinder hatten Missbildungen oder es fehlten ihnen Gliedmaßen. Einem Mädchen von etwa drei Jahren hatte nur noch einen Arm; an der Stelle des anderen hing die zerrissene, von getrocknetem Blut beschmutzte Bluse schlaff herunter. Ein anderes Kind, ein etwas älterer Junge von etwas sechs Jahren, hatte statt Händen an jedem Arm zwei verknöcherte Finger, die klauenartig gebogen waren und die immerfort ins Leere griffen. Einem anderen Mädchen, das gerade schaukelte, fehlten beide Beine; oberhalb der Knie ragten zwei vernarbte, runde Stümpfe aus ihrer kurzen Sommerhose. Die Gesichter der nun sich langsam nähernden Kinder schienen starr zu Masken verzerrt, die Münder zu länglichen, schwarzen Löchern verformt, die Augen waren weit aufgerissen. Es kam ihr vor, als ob hinter jedem einzelnen Kind sich jemand befände, der mit gespreizten Fingern rechts und links der Nase tief in die Haut grabe und diese nach hinten bis zu den Ohren zöge, so entstellt schienen die kleinen Gesichter. Kein Anzeichen irgendeiner Gefühlsregung ging von ihnen aus. Die Augen auf einen fixen Punkt in weiter Ferne gerichtet, die Bewegungen steif und ungelenk, so als ob sie gerade erst gelernt hätten, Teile ihres Körpers selbstständig zu bewegen. Wie schlecht geführte Marionetten krochen, wankten und taumelten die Kinder auf sie zu. Ruckartig setzte sie sich auf. Ihre Benommenheit ließ sie nur unscharf sehen. Trotz des verschwommenen Schleiers, der sie zu umgab, versuchte sie zu begreifen, was sie sah, als die etwa zwanzig Kinder auf das Karussell zukamen, aber sie schaffte es nicht.
Schwer atmend rang sie nach Luft und ihr war, als hätten sich zwei oder mehrere Fäuste unterhalb des Rippenbogens ins Fleisch gebohrt. Sie bemerkte, dass inzwischen die Sonne untergegangen war und die Dämmerung ihre Schatten über alles legte. Die Bäume beugten sich schwarz im Wind vor dem Hintergrund des blauverdunkelten Himmels und die Kinder waren als mechanische, schwarze Marionettenpuppen vor dem Schatten der Dornenhecken nur noch schwer auszumachen. In den Baumkronen hatte sich eine Vielzahl großer schwarzer Vögel versammelt um nun schweigend dem Prozess beizuwohnen. Sowohl die unscharfen Blicke der Kinder als auch die stechenden Vogelblicke trafen sie schmerzhaft wie vergiftete Pfeilspitzen. Außer dem Pfeifen des Windes war nichts zu hören. Die Kinder waren nun alle bei dem Karussell angelangt und bildeten einen engen Kreis um sie. Sie kauerte sich auf dem Boden zusammen, verkrampft vor Angst und Schmerz umschlang sie ihre Knie, die sie dicht an ihre Brust herangezogen hatte.
Und da lag Sam vor ihr. So, wie er damals nach dem Unglück ausgesehen hatte. Ein Arm nur noch ein blutiger Stumpf, der kleine Körper verdreht, geschunden, zerquetscht. Eines der älteren Kinder hatte ihn ihr zu Füssen gelegt, auf den Holzboden. Die restlichen Kinder hatten sich inzwischen an den Händen gefasst und bildeten einen immer enger werdenden Kreis um das Karussell, manche drückten ihre mageren, geschundenen Körper an den äußeren Eisenring und streckten ihre dünnen Ärmchen (sofern sie noch welche hatten), nach ihr aus. An jeder Stelle ihres Körpers verspürte sie eiskalte Schmerzen, wie heftige und tiefe Nadelstiche, die von Stellen auszugehen schienen, an denen sie von den Kindern berührt worden war. Doch sie konnte nicht ausweichen, denn mittlerweile waren fast alle Kinder umständlich auf die Holzbänke geklettert, hingen seitwärts darüber oder rutschten unter den Bänken durch, indem sie über den versandeten Boden robbten und nach ihr zu greifen suchten.
Enge und Ohnmacht krochen durch ihre Brust und drückten alles in ihr zusammen. Ihr Herz schlug unregelmäßig, die Schmerzen waren nun überall und ihre Lungen schienen sich selbst unter größter Anstrengung mit jedem Atemzug weniger zu füllen. Etwas wie ein großer Stein senkte sich auf ihre Brust, als Sam sie berührte. Schon lag sie auf dem Boden, den Körper um die mittlere Eisenstange geschlungen, die Augen so verdreht, dass nur noch das innere Weiß zu sehen war. Der Stein, der sich in ihr zu versenken schien, wurde größer und größer, bis er sie schließlich mit seiner leblosen Kälte ganz ausgefüllt hatte und sie merkte, dass sie aufgehört hatte zu atmen.
Sie erwachte in ihrem Bett mit heftigem Herzklopfen und dem Gefühl abklingender Panik. Zitternd setzte sie sich auf und blickte sich in ihrem Schlafzimmer um, welches durch den Mond schwach erleuchtet wurde. Alles schien unverändert. Neben ihr lag ihr Mann friedlich schlafend. Die Decke war ihm von den Schultern gerutscht und mit einer sanften Handbewegung deckte sie ihn behutsam wieder zu. Sie zwang sich, tief einzuatmen und wieder auszuatmen um sich etwas zu beruhigen. Dann ging sie in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu kochen, der sie besser schlafen lassen sollte. Mit dem Tee in der einen und einer gefüllten Wärmflasche in der anderen Hand schlüpfte sie wieder leise in das Schlafzimmer, stellte die Lampe auf ihrer Seite des Bettes an und schloss schließlich sachte die Tür. Sie trank den Tee während sie noch einige Seiten aus dem Buch las. Doch schnell übermannte sie der Schlaf und sie träumte von einer tiefen und schmerzhaften Finsternis und einem heftigen Schwindel, der sie rückwärts fallen ließ in eine endgültige, kalte Leere.
Am nächsten Morgen fand man sie tot in ihrem Bett. Ihre Haut war bläulich verfärbt, die Gliedmaßen grotesk verdreht und das Gesicht zu einer grausamen Maske erstarrt. Ihr Mund war geöffnet wie zu einem stummen Schrei, ihre Augen in kaltem Entsetzen weit aufgerissen und aus ihren verkrampften, zu Fäusten geballten Händen rieselte schmutziggelber Sand.